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Es geht dem Herbst zu, und das erste Bankjahr nähert sich seinem Ende. Da kommt ein langer Brief vom Herrn Rat, der neben ernsthaften Ermahnungen auch viel unerwartetes Lob enthält und, nach langwierigen Betrachtungen darüber, daß es für Fritz, nun er einmal diesen Beruf gewählt, vorteilhaft sein müßte, möglichst viel von der Fremde zu sehen, in der überraschenden Frage gipfelt: wie er über eine Versetzung nach Kairo dächte? Er solle sich ernsthaft prüfen und vor allem auch bedenken, daß er die neue Stellung anschließend an seine jetzige antreten müßte, ohne vorher nach Hause kommen zu können. Bliebe er aber weiter in Mailand, so wäre ein Urlaub von zwei Wochen wohl zu erreichen. Dies und manches andere müßte er mit sich selbst ausmachen, jedenfalls aber sich bald entscheiden. Natürlich ohne Übereilung.

Vom Vater ein paar kurze Zeilen, die ihm den Entschluß freistellen. Er sollte rechtzeitig Bescheid geben. Natürlich dürften Sentimentalitäten, wie die weite Entfernung oder die lange Trennung, keine Rolle spielen. Die einzige Frage sei vielmehr, ob er nach diesem ersten Jahr an dem selbstgewählten Beruf festhalten wolle oder nicht. Die Rückkehr an die Universität, nach dem kostspieligen Umweg über Mailand, wäre ja natürlich ein haarsträubender Blödsinn, aber es würde sich in Gottes Namen darüber reden lassen. Hauptsache sei, daß er endlich einmal einen festen Willen zeige ...

Da ist das kaum errungene Gleichgewicht jäh gestört. Von einer Rückkehr an die Universität hat er nie ein Wort geschrieben. Wenn nun plötzlich der Vater davon anfängt, so heißt das, daß er sie erwartet, vielleicht sogar wünscht ...

Er geht mit beiden Briefen zu Guido. Der ist in letzter Zeit merkwürdig verändert, wie von heimlicher Freude getragen. Sobald ihm Fritz den Brief des Vaters übersetzt hat, schlägt er ihm übermütig auf die Schulter: „Das trifft sich gut — da gehen wir beide auf die Universität!“ — „Wie denn, du auch?“ fragt Fritz verblüfft. — „Ja, ich auch!“ jubelt Guido. „Vor einem halben Jahre etwa habe ich endlich einen Anwalt gefunden, der sich bereit erklärte, den Konkurs meines Vaters und besonders die Forderungen jenes Maklers zu überprüfen. Nach meinen Angaben. Dabei ist endlich die Gaunerei an den Tag gekommen, der Bursche ist seit gestern verhaftet, sein Vermögen beschlagnahmt. Wieviel meine Mutter wiederbekommt, steht nicht genau fest, aber es ist bestimmt reichlich genug, daß dieses Elend mit Gärtnerhaus und Bank ein Ende hat. Bisher wollte ich nicht davon sprechen, um es nicht zu beschreien. Aber jetzt ist keine Gefahr mehr — morgen kündige ich in der Bank! Und du doch auch, natürlich!“ — „Ich weiß wirklich nicht, ich glaube beinahe ...“ sagt Fritz zögernd. — „Was denn, das kann doch keine Frage sein, du gehst an die Universität?“ — „Das weiß ich nun wirklich nicht,“ meint Fritz. Guido wird heftig: „Ja, willst du am Ende bei der Bank bleiben? Dazu taugst du doch wahrhaftig nicht! Du hast doch keine Spur von Geschäftssinn — und lernen läßt sich der nicht!“ — „Das weiß ich,“ unterbricht ihn Fritz. „Aber wer denkt denn an ‚bleiben’! Natürlich reizt es mich nicht, mein Leben etwa als kleiner Bankbeamter zu beschließen. Ich denke auch nicht daran. Sollte ich mich aber heute für ein Fakultätsstudium entscheiden, so stände ich genau so ratlos da, wie vor zwei Jahren. Theologie ist ja überhaupt zum Lachen. Medizin — dazu müßte ich selbst fester sein. Jus — mein Gott, was wartet da auf mich? Eine Kanzlei, und Paragraphen, und Kurszettel und ‚Geschäft’. Und Philosophie — was wird man damit? Du sagst einfach: Ich studiere Kunstgeschichte und werde Maler! Dabei hast du jetzt aber wieder die Mittel, vielleicht jahrelang Privatdozent zu bleiben und schließlich Professor zu werden. Die habe ich nicht, und überdies weiß ich genau, daß ich zum Lehrberuf noch weniger tauge als zum ‚Geschäft’. — Nein, nein, versteh’ das doch: Mein Leben lang durfte ich mir meine Krawatten, meine Anzüge und Schuhe nicht selbst wählen, mußte bei jedem Schmarren dreimal um Erlaubnis bitten, bin überdies in der trostlosesten aller Kleinstädte aufgewachsen — wie könnte ich heute schon sagen, was ich ein für allemal will! — Weißt du, schon von Kind auf habe ich immer wieder das Gefühl, daß die Umwelt eine Frage an mich stellt, auf die ich die Antwort finden muß. Und ich wußte nicht recht, soll ich die Dinge erlösen, befreien, oder soll ich werden wie sie und dadurch mich befreien. Ich könnte dir von Herbstabenden erzählen, auf den Rübenfeldern bei uns zu Hause — eine Ebene, flach wie der Tisch, Dreck bis an die Knöchel, Nebel und Regen — da bin ich als Junge halb verzweifelt. — Das Jahr hier hat mir gut getan — ich habe ein wenig Blick bekommen, und Ruhe, und Festigkeit — aber fertig bin ich darum noch lange nicht!“

„Na schön,“ sagt Guido, „und was willst du also tun?“ „Ich will zur Besinnung kommen, mich noch ein wenig in der Welt umsehen! Natürlich ist die Bankarbeit ekelhaft — aber zu bloßen Vergnügungsreisen habe ich doch nicht das Geld! Wie denn auch! Und Kairo — Kairo — sag’ einmal: Ist das nicht ein Traum?“

Da faßt ihn Guido lächelnd an: „Wozu die langen Reden! Sag’ du einmal ehrlich: du warst schon fest entschlossen, nach Kairo zu gehen, als du zu mir kamst, nicht?“

„Nein, wirklich nicht,“ wehrt Fritz ab. „Aber weißt du was — ich kann nicht nachdenken. Wenn ich an jemanden hinrede, dann kommen mir Gedanken, auf die ich alleine nie verfallen wäre. Der andere braucht nicht einmal den Mund aufzumachen. Besser ist es freilich, wenn er ein wenig widerspricht; ein wenig nur, sonst wird er mir zuwider. Gerade soviel, daß ich ihn blendend widerlegen kann!“

„Eine schmeichelhafte Rolle, die du deinen Freunden zudenkst!“ lacht Guido gutmütig. Fritz drückt ihm dankbar die Hand: „Du tust mir einen großen Dienst damit! — Weißt du, das kommt wohl daher, daß ich im steten Widerspruch mit meiner Umgebung aufgewachsen bin. Da war immer zuerst ein Wille, ein Verbot, das Gegenwillen erzeugte. Das hängt mir nun an!“

„Und wie lange willst du in Kairo bleiben?“

„Mein Gott — das weiß ich nicht! Ein Jahr, zwei, drei, immer vielleicht — ich weiß nicht!“

Und Guido schüttelt zweifelnd den Kopf: „Das reine Kind! Ich weiß nicht recht, soll ich dich auslachen oder beneiden?“ —

„Auslachen bestimmt nicht, und beneiden erst später!“ gibt Fritz stolz zurück.

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