66

Der zweite Kassier ist ein Deutscher, ein blonder, stiller Mensch. Eggert heißt er. An den seltenen Tagen, wo die leidige Expedition früh beendet ist, geht Fritz mit ihm langsam spazieren, um vor dem Abendessen Luft zu schöpfen.

Eines Abends sind sie bis Atabet-el-Khadr hinaufgeschlendert und plaudernd stehengeblieben. Kaum hundert Schritte weiter, am Eingang der Mouski, nur durch die Breite des belebten Platzes getrennt, liegt die Pension, in der Eggert wohnt. Ein flüchtiger Gruß: „Auf morgen!“, dann verschwindet der andere im Gewühl, und Fritz geht langsam nach Hause.

Am nächsten Morgen fehlt Eggert in der Bank. Der Kassier! Aufgeregte Prüfung: Die Kasse stimmt aufs Haar. Die Bücher in Ordnung. Der Kawaß wird in die Wohnung geschickt, bringt den Bescheid: „Herr Eggert ist seit gestern mittag nicht mehr zu Hause gewesen!“ Seit gestern mittag? Was soll das? Wer hat ihn zuletzt gesehen? — Fritz meldet sich, gibt Auskunft, sagt, er habe sich gegen acht Uhr abends in nächster Nähe seiner Pension von Eggert getrennt und keinen Augenblick daran gezweifelt, daß der geradeswegs zum Essen gehe. Das Gespräch? Alltägliche Dinge — ein Abendplausch. Eggert war weder aufgeregt, noch traurig — hungrig und müde eben, wie man es abends ist.

Das Konsulat wird verständigt, die einheimische Polizei. Eine Durchsuchung des Zimmers gibt keinerlei Aufschluß. Die Pensionsinhaber, ein ältlicher Franzose mit seiner Frau, seit Jahren ansässig, können auf keine Weise verdächtigt werden. — Keine Liebesbriefe, keine irgendwie verdächtigen Schriftstücke. Ein Tagebuch verzeichnet ordentlich und ein wenig trocken die alltäglichen Vorkommnisse; an einem Mittwoch ist Eggert verschwunden; unter dem Dienstag steht noch da: „... In der Bank nichts Besonderes; sieben Uhr nach Hause. Nach dem Abendessen Café Khédivial, Zeitungen gelesen. Zehn Uhr zu Bett.“ So schreibt kein Mensch, der sich etwa mit Selbstmordgedanken trägt.

Tage vergehen, und Eggert bleibt verschwunden. Das Konsulat verständigt die Eltern; der Vater ist Handwerker, Tischler, in einer deutschen Kleinstadt. Die Antwort kommt, nach Wochen, verzweifelt, ratlos, bringt die gewünschte Photographie, verspricht eine Belohnung von zweihundert Mark für Aufklärung des Falles. Zweihundert Mark! Das sind hier zehn Pfund — soviel wirft ein reicher Syrianer in Weinlaune als Trinkgeld hin ... Und deswegen zwei Wochen kostbare Zeit verloren? Oh deutsche Gründlichkeit! Ein englischer oder französischer Konsul hätte doch wohl mehr Tatkraft entwickelt!

Immerhin: eines Abends leuchten von allen Straßenecken, allen Anschlagsäulen, an Zäunen und Haustüren grellrote Plakate; das Lichtbild des verschwundenen Hans Eggert in der Mitte, ringsum, in vier Sprachen, englisch, französisch, griechisch und arabisch, die Schilderung der Begleitumstände und das Versprechen einer Belohnung von zehn ägyptischen Pfund für nähere Angaben an Konsulat oder Polizei.

Am nächsten Morgen ist aus allen Plakaten das Lichtbild herausgerissen, oft das ganze Plakat zerfetzt.

Fritz geht zum Polizeikommandanten, einem Schweizer. Der sitzt, dicknackig, vollblütig, von Sonne und Whisky rot gebrannt, in seinem weiten Amtszimmer. Als er hört, um was es sich handelt, poltert er aufgeregt los: „Was wollen Sie — ich kann gar nichts tun! Gar nichts! Ohne zwingenden Verdachtsgrund kann ich in kein mohammedanisches Privathaus! Die Harîms sind unverletzlich, auch für die Polizei. — Und wären sie das auch nicht — soll ich vielleicht die ganze Stadt umkehren? Fast jedes Haus hat seine eigene Senkgrube, seinen Brunnen, Oublietten, Schlupflöcher — was weiß ich — wie sollte man da zurechtkommen? Hier sind schon mehr Leute abhanden gekommen, und gewichtigere als dieser Herr Eggert, glauben Sie mir! Beim Bau der neuen Brücke hat man gemauerte Kammern voll Gerippen aufgedeckt, jedes einzelne ein Mordfall, meinen Kopf darauf! Aber gehen Sie den Burschen was beweisen! — Ja, früher!“ und er läßt träumerisch die schwarze Nilpferdpeitsche mit Silberknauf durch die fleischigen Finger gleiten, „früher war es leichter. Da durften wir noch Prügelstrafen verhängen. Und wenn man da einen Verdächtigen fest hatte, da war er manchmal doch zum Sprechen zu bringen. Manchmal, nicht immer. Die Burschen haben ein hartes Fell! — Aber jetzt? Wo nur das Verhör nach europäischer Methode zulässig ist? Die verdammten Burschen werden nicht rot, nicht blaß, kennen keine Scham und lügen, lügen grenzenlos! Man könnte in die Luft gehen — aber man kann nichts machen.“

Fritz merkt erstaunt, daß dieses Eingeständnis völliger Ohnmacht unbestimmte Freude in ihm weckt. Er gönnt dem feisten Polizeimenschen den Abbruch an seinem hohlen Europäerdünkel, gönnt dem Sklavenvolk da draußen das schützende Geheimnis. Doch rasch hat wieder der Gedanke an den Kameraden die Oberhand: „Haben Sie keinerlei Vermutung, Herr Major, was überhaupt geschehen sein könnte, und wie?“ Das dicke Gesicht legt sich in kriminalistische Falten: „Vermutungen? Ha, — ich kann es Ihnen fast mit Bestimmtheit sagen, als hätte ich’s selbst mit angesehen! Der junge Mensch geht über den Platz. Er war blond, groß, hübscher Bursch, wie? Nun gut: neben ihm fährt sich im Gedränge plötzlich eine Haremskutsche fest, der Schlag geht wie zufällig auf, eine Dame winkt ihm, einzusteigen, ein Eunuch hilft von draußen nach — das geht eins, zwei und bevor er noch recht zur Besinnung gekommen ist, sitzt er neben einer begehrlichen Schönen im Wagen, der im Galopp davon fährt, freut sich vielleicht des Abenteuers, zu dem er so mühelos gekommen ist ... ja — und dann? Dann kriegt es entweder die Dame mit der Angst, und läßt ihn lautlos und gründlich beseitigen — denn er könnte ja plaudern, und sie selbst um den Kopf bringen —, oder er wird erwischt. Das ist dann weniger erfreulich. Die Ehemänner hierzulande rächen sich etwas umständlich. Mir sind da Fälle bekannt ... aber das führt zu weit! Ja, wie gesagt, so etwa denke ich mir den Vorgang. Aber in der Stadt und der nächsten Umgebung gibt es Tausende von Haremskutschen — nun sagen Sie selbst: was kann ich da tun? Gar nichts, gar nichts! — Tut mir ja leid um den armen jungen Menschen, tatsächlich leid ... aber, wie gesagt ...“ Ein bedauerndes Achselzucken, und die fleischige Hand schiebt sich lässig vor, zu gleichgültigem Abschied.

Share on Twitter Share on Facebook