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Nun sind die Schnepfen da, die Wildenten und Kiebitze. Nun gibt es reiche Jagd für jedermann. Mit einem Hochgefühl sondergleichen ersteht Fritz von den Resten des reichlichen Reisegelds ein Gewehr. In finsterer Mitternacht geht es mit ein, zwei Genossen aus der Pension zu Fuß hinaus zu den Pyramiden — die Wagen sind zu teuer, die erste Tram geht viel zu spät — und das erste Dämmern des Sonntagmorgens findet sie weit draußen im Röhricht, das die überschwemmten Felder umsäumt; im offenen Wasser, zehn, zwanzig Meter weit weg, schaukeln die Lockenten. Fremde Vogelstimmen füllen das dämmrige Himmelsgewölbe. Kraniche ziehen, Wildgänse, Störche. Der sausende Flügelschlag klingt gedämpft herab, weckt Sehnsucht nach Höhe. „Schieß, Herr, schieße!“ flüstert der hitzige Fellache. Er weiß natürlich, daß nicht einmal die Kugel die scheuen Flieger erreichen könnte. Aber er liebt wohl den Knall, die gefahrlose und doch mörderische Geste. —

Nun kommt Opalschimmer in die leichten Nebel, die ringsum lagern, zarte Farben fließen leise ineinander, vertiefen sich, geben den Dingen langsam feste Gestalt. Da — ein Quaken in der Luft, ein Flattern — die ersten Enten kreisen spähend über den lockend bemalten Puppen, fallen klatschend ein; die letzte stürzt getroffen, die ersten stieben plätschernd wieder hoch, da fällt eine zweite und dritte. Der Fellache heult Jubelrufe, wird mühsam zur Ruhe gezwungen. Andere Enten kommen, lassen sich täuschen, oder streichen ungerührt vorbei. Dann ist es heller Tag und weiteres Warten nutzlos. Die Kleider liegen klamm und dunstig vom Nachtnebel an, in den Schuhen, die zäher Schlamm einhüllt, steckt nasse Kälte. Von der Pyramidenstraße her kommt springend, watend, die blaue Galabieh bis zu den Achseln hochgeschlagen, der Sohn des Trägers, um dem Vater beim Einsammeln des Wildes und beim Rudern zu helfen.

Weit draußen im Überschwemmungsgebiet stehen reglos rosenrote Flamingos; Reiher, Pelikane, in Gruppen streng gesondert, treiben ihr Wesen. Sie scheinen sorglos und leicht zu überlisten, lassen den Schützen auch schleichend, kriechend, bäuchlings in wässerigem Schlamm, bis auf zweihundert Schritte heran; dann aber ein greller Schrei ihrer Wächter, die Schwärme donnern rauschend auf, wirbeln durcheinander, formen sich zu langgezogenen Figuren, Spitzkeilen, Halbkreisen; drei, vier wilde Schwenkungen noch — und die Weite schluckt ihren sausenden Flug.

Die Fellachen rudern das plumpe Boot der Straße zu und singen einander abwechselnd den Takt zu den Schlägen der schweren Einzelruder:

„Oh Gott! — Oh Mohammed!“

Oh Schiffer — oh Meister,

Vorwärts! — so ist es!

Mit Kraft! — ja Kraft!

Noch einmal! — und immer!

Mit Kraft! — Vorwärts!

Oh Schiffer! — Oh Meister!

Oh Gott! — oh Mohammed!

Auf den Feldern ist das Leben erwacht. Die Schöpfwerke knarren; Büffel wühlen sich in den Schlamm, fahren beim Nahen des Bootes knallend hoch. Fern klagt ein Esel, auf der hohen Dammstraße antwortet ein anderer, unter schwere Bürde geduckt. Ein nackter Bauer watet hüftenhoch durch den weichen Schlamm eines Feldes, das gestern wohl noch unter Wasser stand, streut mit weitem Arm Samen aus und singt mit näselnder Stimme ein hallendes Lied. Der junge Fellache im Boot läßt sein Ruder fahren, wirft den Kopf verzückt in den Nacken und schmettert tremolierend in den breiten Tag:

„Ich bin der Dampfer, der durchaus schwarze ...“ Sein Vater unterbricht ihn böse: „Willst du nicht arbeiten, oh Hundesohn, oh Kuppler, verflucht sei der Glaube deiner Mutter!“ Dann wendet er sich mit Vaterstolz zu den Gästen: „Er ist noch jung, aber seine Stimme ist sehr schön!“

Und sie rudern ...

Fritz bringt von diesen Ausflügen eine schwere Müdigkeit heim, und das Essen will nicht schmecken. Der Tischälteste, seit Jahren im Land, sagt ihm einmal gutmütig warnend: „Passen Sie auf, mein Lieber, Sie holen sich da draußen in der Sumpfluft ein Fieber, das sich gewaschen hat! Lassen Sie die Jägerei lieber sein — das ist was für Europa!“ — „Oh, es wird schon nicht so schlimm sein!“ sagt Fritz leichthin und fühlt gehässigen Trotz. — Jagen — in Europa! Als ob es ihm dort nicht verboten gewesen wäre! Nein — die neue Freiheit hier soll ihm kein Warner verkümmern!

Eine Woche drauf packt ihn das Fieber wirklich. Eines Morgens beim Aufstehen fühlt er quälenden Kopfschmerz, ziehende Mattigkeit in allen Gliedern. In der Bank überfällt ihn jäher Schüttelfrost, er taumelt frierend durch die breite Mittagsonne nach Hause, wirft sich ins Bett. Ihm ist, als wäre sein Hirn zur Bleikugel eingeschrumpft, die nun bei der leisesten Regung schmerzhaft an die Schädelwände schlägt. Ruhig liegen, ruhig. — Da kommt ihm ein leises Klingen ins Ohr, das schmutzige, oft geflickte Mückennetz wird zum prunkenden Betthimmel, der dumpfe Straßenlärm fügt sich zu rauschendem Rhythmus und jetzt, hinter geschlossenen Lidern, das Bild, das er so lange nicht mehr gesehen hat: ein weiter, glattgepflasterter Platz, auf den in langen, dichtgedrängten, glasharten Schnüren und Strähnen vielfarbiger Regen niederfällt, in allen Farben, blau, rot, gelb, grün. Regen, Regen ...

Den Poporutscher haben sie wohl ins Nebenzimmer gesteckt — aber warum zünden sie die große Lampe nicht an? Felix und Max müssen doch lernen ... Und die Mutter läßt sich nicht blicken ... aha, da kommt sie, bringt Licht ... und der Vater ... Ja, Vater, das hab’ ich mir nun auf der Jagd geholt, ein wenig Fieber, nicht schlimm ... das verfluchte Gerippe hat wieder einmal recht ... wart’, Hund, ich werf’ dich ab ... Ja, Vater, ich reite jetzt auch viel, fahre oft im Wagen, rauche Zigaretten ... Gott, ja ... man lebt eben ...

Da klingt eine laute, fremde Stimme: „Aspirin — alle Stunden ein Gramm, dreimal! —“ Ein bitterer Geschmack im Munde, Wasser drauf ... Das ist nicht der Vater! Ein fremder Mensch, und die Pensionswirtin ... Dann wieder Halbschlaf und Feuerregen, der langsam blasser wird, farblos — erlischt. —

Und ein Auffahren: „Wer steht dort neben der Türe, hoch und schlank, im weißen Kleid? — Gitta — Fräulein Gitta Hostrup — gewiß, ich hatte das Vergnügen, neulich in der Mouski — oh, bitte, nur ich habe zu danken, nur ich ... Mädel, sag, wo kommst du her? Weißt du denn, wie ich mich nach dir gesehnt habe — nach deinen großen Augen und deiner festen, langen Hand — willst du mir gut sein? Oder kannst du es nicht verzeihen, daß ich durch Sumpf gegangen bin? Sieh doch, ich war blind, ich kannte den Weg nicht ... Steh nicht so steinern dort an der Tür! — komm näher, komm, — verflucht, es ist der Bademantel ... oh, Gitta! — —“

Die starke Aspirindosis hat das Fieber gebrochen. Der nächste Morgen schon findet Fritz fieberfrei, aber lächerlich schwach und zerschlagen. Der Puls ist kaum zu spüren, im Schädel rollt immer noch die verwünschte Bleikugel. — Milch als einzige Nahrung — sie ist lauwarm, schmeckt nach Büffel. — Draußen hat sich eben die Sonne durch die Morgennebel gekämpft, pocht herrisch an die Fensterläden; ein heißer Wind fegt Staub herein — zwei Kakerlaken rennen erschreckt über den Steinfußboden. — Da ist so eine verdammte Mücke im Netz, schwirrt singend herum — bis man die Bestie erwischt, hat sie einen zehnmal gestochen ...

In Weißwasser werden jetzt die Brombeeren reif, die Tage sind still und klar, und die Nächte kalt, mit ersten Frösten ...

Draußen verzittert der Gebetsruf des Muezzin ...

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