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Nach zwei kurzen Rückfällen ist das Fieber überwunden, doch die Genesung geht langsam vor sich. An weite Ritte oder Jagd ist nicht zu denken. Die Pensionsfreunde nehmen keine Rücksicht auf Fritzens geminderte Bewegungsfreiheit. Sie leben ihr Leben weiter. — Werktags harte Arbeit, abends lärmende Spiele und an den Feiertagen hinaus in die Sümpfe oder in die Wüste. So ist Fritz viel allein, doch die Einsamkeit drückt ihn nicht, denn in ihrer Hut blüht täglich stärker ein Gefühl empor, zu dem er sich in der spottlustigen Runde nie zu bekennen gewagt hätte. Der Gedanke an das fremde Mädchen verläßt ihn keinen Augenblick. Wütend wehrt sich sein Stolz: „Das ist so eine hochnäsige Gans, ein paar Millionen schwer, will bestenfalls Schindluder mit mir treiben — wahrscheinlich hat sie mich aber längst vergessen. — Nicht dran denken — laufen lassen, laufen lassen!“ Doch sein Gedächtnis läßt sich nicht betrügen. Unverlöschlich haftet das Bild des schlanken jungen Leibes, das ruhige Gesicht mit großen Augen. Und die Stimme — weich, lockend, wie eine Abendglocke hinter Hügeln! Wieviel gütiges Verstehen lag noch in dem leisen Spott der Frage: „Sie haben wenig Verkehr hier?“ Oh, dieses Mädchen lieben dürfen, sie nur lieben dürfen — das allein könnte wohl den Fluch löschen, der von früher Jugend an auf seinem Leben lag. Noch wagt sein Ehrgeiz sich nicht bis zu der Hoffnung, vielleicht, vielleicht auch geliebt zu werden. Auch ist ein Wiedersehen so wenig wahrscheinlich — Wochen sind seit dem Abend in der Mouski vergangen. Die dumme Schüchternheit erst, dann die Krankheit — nun, nach so langer Zeit, verbietet sich ein Besuch im Hotel von selbst. Sie ist wohl längst abgereist — sicher längst abgereist — hat ihn vergessen ...

„Oh Gitta, Schöne, Schöne, Schutzengel — ich vergess’ dich nicht!“

Ein stiller Sonntag in der Pension. Sechs von den lauten Genossen sind in die Wüste geritten, kommen wohl abends erst zurück. Nur Herr Lustig ist daheim, weil ihn sein ewiges Magenübel plagt. Und Fritz.

Zum Nachmittagstee findet sich ein deutscher Bekannter ein, Herr Heinze. Der ist, von dem scheinbar hohen Gehalt gelockt, nach Ägypten gekommen, um Ersparnisse machen und eine arme Jugendliebe heiraten zu können. Nun arbeitet er zwei Drittel des Tages in einem Kommissionskontor in einem der verwinkelten, stickigen Seitengäßchen der Mouski, wohnt in einem elenden Mietszimmer und ißt im Gasthause, weil sich dabei leichter sparen läßt als in einer Pension. Kein noch so harmloses Vergnügen gönnt er sich, knickert am Essen und Trinken, an Wäsche und Kleidung, lebt nur für sein kleines Bankguthaben, das langsam, langsam wächst.

Das Bild seiner Braut trägt er ständig bei sich. Fritz hat es einmal zu sehen bekommen: ein leeres, blondes Gesicht, nicht jung, nicht alt, mit kleinlichen Sorgen Vertraut. Wie groß muß die Liebe sein, die solches Leben um solches Ziel erträgt? Fritz fühlt, bei aller Ablehnung der fremden Art, mitleidige Zuneigung zu dem Arbeitstier, das sich eigenwillig die Jugend verkümmert. Und leisen Neid: der blonde Rundschädel mit dicker Brille und schlechten Zähnen — der durfte glücklich lieben, durfte sich geliebt wissen und Besitzerfreuden kosten — und Gitta? —

Herr Heinze empfindet das Mitleid nicht — er fühlt sich ja reich und beneidenswert —, setzt vielmehr den Neid als selbstverständlich voraus und nimmt die Zuneigung dankbar an.

Um die Dämmerstunde fahren sie zu den Pyramiden hinaus. Hinter der großen Brücke fügt sich der Wagen in die breite Doppelkette von Gefährten ein, die auf der breiten Straße hingleitet. Was spreizt sich da alles im rotgoldenen Licht des Winternachmittags! Hakennasige Spaniolen mit ihren Weibern, schnaubend im Fett, hilflos in Pariser Moden geklemmt, ewigen, gierigen Haß in den unsteten Jettangen. Syrianische Winkelagenten und Schieber in kostbaren Sportwagen. — Arabische Würdenträger lassen im Gedränge die reich gekleideten Vorläufer neben den silbergezäumten Hengsten traben. Große Kokotten stellen sich zur Schau, wecken Besitzgier. Da und dort Engländer im Dogcart oder Tilbury, aufdringlich fast in der schmucklosen Gediegenheit von Gespann, Wagen, Insassen.

Die edlen Vollblutpferde vor den kostbaren Gefährten aber geben sich schäumend der Lust an der Weite hin, unbekümmert um die Fracht von Haß, Neid, Gier und Wollust, die sich an ihren stürmenden Lauf geheftet hat.

Die Pyramiden sehen den glitzernden Zug kommen, wenden und eilig zurückfluten nach der gärenden Stadt. Sie ragen unberührt aus dem Sandmeer, das ihre Grundfesten benagt. Verachtung strahlt von ihnen aus, und breiter Hohn:

„Uns haben Menschen erbaut, Menschen mit weiten Götterseelen, die noch für ihre sterblichen Leiber Unvergänglichkeit und unzerstörbare Ruhestätten erzwangen. Wo habt Ihr ihresgleichen? Sie gehorchten niemand, aber sie wußten die Peitsche zu führen. Und zahlloses Sklavengezücht Eures Blutes und Euerer Art mußte fronend verrecken, bis wir standen. Doch künden wir von Schweiß und Tod auch der namenlos Unterlegenen, die Peitsche nur und Stachelstock zu solchem Werke trieb.

Ihr alle, Ihr alle liegt hart unter goldener Geißel! — Wo aber sind Eure Werke, die Jahrtausende überdauern sollen?“

Die Sonne ist versunken, die schlammigen Felder hauchen kühle Dünste aus. Die gleitende Ordnung beginnt sich rasch zu lösen. — Wie der Mietwagen der Freunde stadteinwärts wendet, kommt ihm jäh ein reiches Gespann entgegen, wendet unmittelbar in engstem Zirkel und fegt sausend wieder vor, daß die Langschwänze der Vollblüter fahnengleich wehen. Fritz fährt auf wie gestochen, sinnlos, unbeherrscht —: Das klare Gesicht, das da aus matten Seidenkissen aufgeleuchtet hat, — die wachsblasse alte Dame daneben — und jäh aussetzender Pulsschlag zwingt ihm einen heiseren Jungenschrei ab. Er sieht noch, wie das Mädchen im Wagen aufspringt, eindringlich zurückwinkt — dann verschwimmt das Bild im Straßenstaub und Abenddunst.

Lustig und Heinze bestürmen ihn mit aufgeregten Fragen: „Was ist ... was soll das ... kannten Sie die Dame?“ — Er findet keine Antwort, nickt gedankenlos, halb unbewußt. — Sie hat ihn erkannt! Hat ihm zugewinkt — wie zugewinkt! — Schon wollen sich Zweifel melden: War der Gruß nicht allzu formlos, galt er überhaupt ihm? Warum hatte sie den Wagen nicht halten lassen? — Sein Herz aber, bebend noch vor Glück, bringt sie zum Schweigen: „Gitta hat mir zugewinkt, mir ganz auffallend zugewinkt — und also ist es recht so! — Und den Wagen halten lassen — mitten im Gewühl — angefahren werden vielleicht, und wenn nicht das, so vor Lustig und Heinze Bekanntschaft erneuern? — Ach was! Sie ist noch hier, hat mich erkannt — hat mich vielleicht erwartet, die Wochen her? Oh Gitta! —“

Die Freunde machen den Umweg über die Mouski, um Herrn Heinze nach Hause zu bringen. Der Wagen windet sich umständlich durch das dichte Gewimmel der engen Straße, unter endlosem Peitschenknallen und heiserem Gebrüll des Kutschers, der die Fußgänger im Wege nach Geschlecht und Stand warnend anruft: „Ouaah, oh Töchterchen ... ouaah, oh alter Mann ... ouaah, oh Vater, ouaah ... fünfzigmal habe ich’s gesagt, oh Kuppler, ouaah, gib acht zu deiner Rechten, hörst du mich nicht, du Sohn von sechzig Hunden? Ouaah!“ ... Immer wieder werden die Pferdchen hart angehalten, von neuem angetrieben. Erschreckte Flüche klingen auf: „Warum rufst du nicht, oh Vater des Straßenkotes? Willst du mich töten? Dreck auf dein Gesicht!“ Und der Kutscher, empört über die ungerechte Beschuldigung, dreht sich auf dem Bocke um, bellt heiser zurück: „Ich habe gerufen — ich rufe immer — du aber hörst nicht! Bist du ein Mensch oder ein Tier, oh Kuppler mit der gespaltenen Zunge?“ — Unterdessen stoßen die Pferdchen, führerlos, mit nickenden Köpfen eine Gruppe eifriger Plauderer auseinander. Neues Gezeter, neue Flüche. — Welch ein Volk! Wieviel Kraft wird da nutzlos, sinnlos vergeudet an den leeren Augenblick! Und Fritz, immer noch in strahlend hingegebener Stimmung, dem Leben zugewandt, das ihm mit einmal neu und neuer Zusammenhänge voll sich zu offenbaren scheint, Fritz denkt mit jäher Zärtlichkeit an die Waldbauern in Weißwasser, die auf steile Berglehnen, ungangbar für jedes Zugtier, in Traglasten den mageren Dünger hinaufschleppen, sich mit Frau und Kindern vor Pflug und Egge spannen, hart und schweigsam werden im ewigen Kampf mit dem harten Boden. —

Fritz empfindet es erstaunt, wie glühend nahe ihm plötzlich die Heimat ist. — Gitta, Gitta hat ihm den Weg dahin gewiesen! „Ich darf nicht so bettelarm vor sie treten, so unverwurzelt, als irgendwer. — Noch habe ich kein zweites Mal mit ihr gesprochen, und sie beschenkt mich schon!“ —

Der Montagmorgen bringt trübseliges Erwachen, beißende Sehnsucht nach dem Gestern, dem einen Augenblick am Fuße der Pyramiden, um Sonnenuntergang. Eine graue Arbeitswoche dehnt sich öde, ohne Freizeit, ohne Möglichkeit, eine Zufallsbegegnung zu suchen ... und ein Besuch? — Giftige Selbstverspottung hebt an: „Gestern so verdammt siegessicher, Indianergeheul als Gruß — und heute wieder Angst vor dem betreßten Affen am Hotelportal? Oh Held aus Heldensamen und Vater vieler Helden!“

Und doch — da war so vieles ungeklärt! Hatte der Gruß wirklich und wahrhaftig ihm gegolten, ihm, dem sonntäglichen Bankbeamten in dürftiger Mietskutsche? — Recht unwahrscheinlich, im Grunde! Und wenn schon wirklich, dann war es eben ein Jux, den er herausgefordert hatte durch sein vollständig unmögliches Benehmen! In Gegenwart der beiden traurigen Flibustier heulend aufspringen und eine kaum, eigentlich gar nicht bekannte Dame grüßen! Eine andere hätte vielleicht mit stummer Verachtung geantwortet — ein lustiges und selbstsicheres Mädel winkte ebenso ekstatisch zurück — das war eine wohlverdiente Lehre, nichts weiter!

Nein, kein Besuch! Weiter gerackert in der Tretmühle — und kein Gedanke mehr an junge Mädchen, die in seidenen Polstern spazieren fuhren und in fürstlichen Hotels wohnten. Kein Gedanke weiter! — Oh Gitta!

Dienstag kommt Herr Lustig im dunkelblauen Anzug mit schwarzer Krawatte zum Abendtisch. Erstaunte Fragen wegen der feierlichen Tracht: „Waren Sie bei einem Begräbnis?“ — „Ja! — Der arme Heinze ist doch gestorben!“ — Fritz fährt entsetzt auf: „Heinze, sagen Sie? Ja, aber ...“ — „Ja, ja!,“ nickt Herr Lustig, wehmütiger noch als sonst, „es ist schnell gegangen! Gestern mittag mit Dysenterie ins Spital, heute früh gestorben — nachmittag begraben! — Mein Gott!“

Die andern, länger im Land und an das jähe Tempo gewöhnt, gehen mit raschen Scherzen über das Unabänderliche hinweg. Fritz aber fühlt eine kalte Knochenhand an der Kehle: Welch ein Land! Es leidet keine Vertiefung — zu kostbar ist der Augenblick, die dünne, schillernde Oberfläche.

Ewige Fremde!

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