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Und ein Tag unter vielen Tagen, gleichgültig begonnen mit brummigem Erwachen, kalter Dusche, Frühstück und der nüchternen Morgenarbeit in der Bank. Ein Tag unter vielen. Da ruft ein Diener Fritz in den Parteienraum hinunter — eine Dame wünsche ihn zu sprechen. Eine Dame? — ein Irrtum zweifellos ... Doch immerhin ... Und er folgt entgeistert. —

Unten in der weiten Halle, leicht an die Marmorbrüstung eines schwer vergitterten Fensters gelehnt, steht eine Dame in weißem Tuchkleid, das knapp und klar von kräftigen Schultern fließt. Ein kleiner Lederhut auf dunklem Haar ... Es ist Gitta. Sie tritt ihm rasch entgegen, streckt froh die Hand aus, grüßt: „Guten Morgen!“ Der Klang der dunklen Stimme weckt in Fritz ein Echo, daß er meint, das hohe Gewölbe müßte davon bersten, und die Hand, die sich ihm da entgegenstreckt, sie hat er in tausend Träumen ersehnt und gesegnet ...

Dennoch sind Widerstände in ihm: die Augen der Herren Kollegen ringsum hinter den Schaltergittern, und überhaupt ... Die Idee, ihn während der Dienststunden rufen zu lassen ...

Aber die großen Augen ruhen voll Freude und Zuversicht auf ihm, und er wird frei und hemmungslos unter ihrem Blick, umspannt die langen, festen Finger, drückt seine Lippen auf die mattweiße Haut. — Dann steht er tief atmend vor dem Mädchen: „Sie sind hierher gekommen ...!“ — In ihrer Antwort zittert wieder der leise lachende Unterton: „Ich mußte wohl — denn Sie haben sich ja nicht sehen lassen! Und ich hatte doch das bestimmte Gefühl, daß wir uns mancherlei zu sagen haben!“

Fritz fühlt neue Unsicherheit. Kann ein Mädchen, ein Mädchen der besten Stände, tatsächlich so unbefangen sein, oder ... Doch sie läßt ihn nicht zu Ende denken: „Mein Benehmen will Ihnen nicht in den Kopf, wie? Nun, — dies ist nicht der Augenblick zu langen Erörterungen, — aber glauben Sie mir, Sie werden noch alles begreifen lernen! — Hören Sie jetzt: Man sagt mir, daß Sie Sonnabendnachmittag früher Schluß machen, schon gegen fünf Uhr. Nächsten Sonnabend also, das ist übermorgen, erwarte ich Sie spätestens um fünf Uhr in der kleinen deutschen Teestube, Hesselbach heißt der Mann, glaube ich, Sie kennen sie? — Ja? — Gut! — Und merken Sie noch eins: Ich verstehe allerhand Hemmungen. Besonders Schüchternheit ist mir vertraut. Kämen Sie aber etwa übermorgen nicht, dann müßte ich annehmen, daß mehr als Schüchternheit am Werke ist, daß Sie nämlich durchaus nichts mit mir zu tun haben wollen. Und das täte mir leid, denn dann könnte ich auch keinen Finger mehr rühren, um Sie etwa wiederzusehen. — Übermorgen um fünf also, ja?“ Und sie streckt ihm die Hand hin. Fritz fühlt, wie maßlose Beglückung ihm Tränen in die Augen treibt; er beißt die zuckenden Lippen wütend fest und zwingt sich zu gemessener Tanzstundenverbeugung, während glühende Andacht ihn drängt, ins Knie zu sinken. Das Mädchen merkt wohl, daß seine Beherrschung an der Grenze ist. Ein kurzer Gegendruck der weißen Hand, ein Abschiedswort — und mit wenigen raschen Schritten hat Gitta die Halle durchquert und tritt in den Sonnentag hinaus.

Fritz blickt ihr nach — da klingt vom nächsten Schalter die erste Spottfrage an; und im Augenblick hat er sich wieder fest in Händen, zeigt kühle Abweisung und geht in sein Bureau zurück.

Übermorgen um fünf — das sind sechsundfünfzig Stunden! Und er stürzt sich in gleichgültige Arbeit, rechnet das Portobuch durch, sieht die Kopierregister nach, legt neue Adreßlisten an. — Ach, jeder Hammer ist recht, den verdammten Klumpen Zeit zu zerbröckeln!

Verleidet die laute Tischrunde daheim. Endlose Nächte, von wirren Träumen zerrissen. Schleimig langsam vertropfen Sekunden und Minuten. — — —

Zur festgesetzten Stunde betritt Fritz die kleine Teestube. An einem kleinen Ecktisch, von einem Wandschirm halb verborgen, sitzt Gitta und nickt ihm freundlich zu. Noch während er die dargereichte Hand küßt, merkt Fritz mit Staunen, wie in des Mädchens Nähe die maßlose quälende Erwartung der letzten Stunden von ihm abläßt, einem guten, warmen Gefühl des Geborgenseins weicht. Dies ist keine Fremde! —

Der weißbefrackte Kellner hat das Teebrett auf den Tisch gestellt und ist mit starrer Verbeugung verschwunden. Fritz wagt es nicht, die Tasse zum Munde zu führen, denn er fürchtet das klägliche Zittern seiner Hand. Gittas Augen ruhen in wohlwollender Prüfung auf ihm. Und unvermittelt fängt sie zu sprechen an:

„Sie erinnern mich unglaublich stark an meinen verstorbenen Bruder!“

„An Ihren Bruder!“ stottert Fritz, und kann tiefe Enttäuschung nicht verbergen. In ihrer Antwort klingt wieder der leise lachende Unterton: „Ja, an meinen Bruder! Aber nur im Wesen, körperlich gar nicht.“ In Fritz zucken häßliche Zweifel auf: Was soll das heimliche Lachen ... und die merkwürdigen Reden ... das ist denn doch wohl mehr als bloße Unbefangenheit ...

Als hätte sie ihm die Gedanken von der Stirne abgelesen, sagt Gitta mit plötzlichem Ernst: „Ich muß Ihnen mehr erzählen, sonst könnten Sie mein Benehmen recht falsch verstehen. — Wir kommen aus Kalifornien. Mein Vater hatte als Auswanderer ganz klein angefangen und es aus eigener Kraft bis zum großen Farmer gebracht. Es ging uns gut und wir hätten sehr glücklich sein können, meine Eltern, mein Bruder und ich. Aber mein Vater konnte zum Unglück nie seine eigene harte Jugend vergessen und konnte sich nie an die amerikanische Erziehungsart gewöhnen, die die Kinder aufwachsen läßt wie die Bäume im Wald, frei und ungehemmt. Meinem Bruder wieder lag der blinde deutsche Gehorsam nicht mehr im Blut, er war in die neue Freiheit hineingeboren und verlangte sie als sein Recht. So habe ich von klein auf mit ansehen müssen, wie die beiden Menschen, mir beide lieb, sich das Leben zur Hölle machten. Mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich und ich war in allem seine Vertraute. Mein Vater aber brachte mir alle die zärtliche Liebe entgegen, die er meinem Bruder nicht zeigen zu dürfen glaubte und die doch auf dem Grunde seines Wesens lag. Ich wurde von allen Seiten verwöhnt, und war doch so unglücklich, daß ich mich oft in Schlaf geweint habe. Schließlich kam mein Bruder von Hause fort, an die Universität, und ich dachte, nun müsse alles gut werden, und er würde nach drei, vier Jahren ruhig und fest nach Hause kommen, mit dem Vater Frieden machen und die Farm übernehmen. Mein Vater selbst hatte keinen anderen Wunsch, denn er begann zu kränkeln und sehnte sich nach Ruhe. Aber es zeigte sich, daß mein Bruder der Großstadt nicht gewachsen war. Nach wenig Wochen schon verliebte er sich in eine Brettlsängerin und wollte sie heiraten. Mit Güte wäre er zweifellos leicht davon abzubringen gewesen, und ich bat meinen Vater flehentlich, mich hinfahren zu lassen oder mit mir hinzufahren. Aber er blieb fest, wie er es nannte, schrieb einen empörten Brief, worin er mit dem väterlichen Fluch, mit Verstoßung und Enterbung drohte, wenn mein Bruder nicht augenblicklich heimkäme. Keine Antwort. Nach drei Wochen endlich, als uns die Angst fast erwürgte, brachten wir den Vater dazu, doch in die Stadt zu fahren. Aber da war es zu spät. Mein Bruder hatte die Chansonette geheiratet und hatte sich ihrer Truppe zu einer Tournee nach Südamerika angeschlossen — als Klavierspieler, glaube ich. Ohne Wissen und gegen den Willen meines Vaters setzte ich ein großes Detektivbureau in Bewegung, um seinen Aufenthalt ausfindig zu machen. Und bald bekam ich auch Nachricht: in einem elenden Städtchen an der mexikanischen Grenze war er zugleich mit seiner Frau und einem dritten Mitglied der Truppe am gelben Fieber gestorben.

Die Nachricht hat meinen Vater getötet. Er zermarterte sich mit Selbstvorwürfen, sein altes Herzleiden wurde zusehends schlimmer, und in knapp einem halben Jahre war er tot. Ich blieb allein mit meiner Mutter, doch auch sie, kaum vierzig Jahre alt, war zur Greisin geworden. Sie war immer eine rechte deutsche Gattin, keine schlechte Mutter, aber doch vor allem dem Manne untertan. Und nun quälte es sie, daß sie dem Sohne nicht kräftiger beigestanden, es quälte sie aber auch nicht minder, daß sie dem über alles geliebten Mann Unrecht geben sollte. Ihre Welt ist an einem Tage eingestürzt, und ein furchtbarer Wandertrieb jagt sie durch die Länder. Die Farm haben wir verkauft und führen seither das übliche Globetrotterdasein — den Winter in Indien und Ägypten, den Frühling an der Riviera, dann im Sommer über Deutschland nach Schweden und Norwegen, und im Herbst zurück nach dem Süden, immer in Hotels, immer aus den Kofferbergen lebend, kaum jemals länger als drei Wochen an einem Ort, nur wenn sie, wie eben jetzt, wieder einmal gänzlich erschöpft ist von der Hetzjagd, dann bleiben wir wohl ein paar Monate still liegen. —

Ich wollte Ihnen nur begreiflich machen, woher mir die Gabe gekommen ist, Menschen und ihren Schicksalen so leicht auf den Grund zu sehen. Es ist wie eine Witterung, ein Instinkt, halb tierisch und mir selbst oft unheimlich. Manchmal fühle ich mich alt, so alt und weise, daß mir meine eigene Mutter wie ein unmündiges Kind erscheint, das ich trösten und mit Liebkosungen zur Ruhe bringen muß. Und, vor allem, ihre Jugend, ob glücklich oder unglücklich, lese ich den Leuten, die meinen Weg kreuzen, so schnell ab, als stände sie ihnen groß auf dem Gesicht geschrieben. Dann peinigt mich oft ein rasendes Mitleid, und die Sehnsucht, helfen, ausgleichen zu können. —

Nun zu Ihnen! Kaum hatte ich Sie an jenem Abend in der Mouski gesehen, da fiel mir die frühe Bitterkeit um Ihren Mund auf, das eigene Schwanken zwischen Trotz und Unterwerfung — ich mußte an meinen Bruder denken, an dem mir das alles so vertraut gewesen war. Und ich wollte Sie kennen lernen — vielleicht nur, um zu sehen, ob ich recht geraten hatte — bitte, lassen Sie die Unterlippe nicht so hängen, ich wollte Sie gewiß nicht kränken! — Ja — Ihren europäischen Formensinn hatte ich allerdings unterschätzt. Ich dachte, Sie würden eines Abends einfach kommen und Hallo rufen, wie man bei uns eben Besuche macht. Aber das brachten Sie ja natürlich nicht fertig — wie? Nun lachen Sie selbst! — Bei den Pyramiden draußen gefielen Sie mir schon besser — das war natürlich!“ —

„Es war Schreck — oder Freude — mir blieb das Herz stehen ...“ stottert Fritz beseligt. Und Gitta lächelt ihm strahlend zu:

„Das habe ich wohl gemerkt. Und als Sie sich wieder nicht blicken ließen, da dachte ich mir, nun will ich dem Burschen die Schüchternheit austreiben — und ging in die Bank!“

„Aber wie wußten Sie ... Ich meine — mich kennt doch hier niemand?“ wirft Fritz ein. Doch das Mädchen lacht ihm ins Gesicht: „Glauben Sie wirklich, daß man in Kairo als Europäer unbekannt bleibt? Unser Dragoman hatte Sie doch an jenem Abend in der Mouski gesehen — am nächsten Morgen schon nannte er mir Ihren Namen, Ihre Pension und die Bank, in der Sie angestellt sind. Ich weiß sogar noch mehr — daß Sie oft ausreiten und auf die Jagd gehen. Das war mir besonders lieb zu hören, denn ich habe mir oft einen Ritter gewünscht, der mich in die Wüste begleitet. Der Dragoman ist mir widerlich und die großen Hotelkavalkaden erst recht!“

„Aber Ihre Mutter ...?“ sagt Fritz und wird rot.

„Meine arme Mutter ist glücklich, daß ich mein Leben so ganz auf sie eingestellt habe, und gönnt mir die wenigen Vergnügungen, die ich mir leiste, von Herzen gern. Und Schicklichkeitseinwände verbieten sich von selbst — ganz umsonst bin ich denn doch nicht in Amerika geboren und aufgewachsen. Auch bin ich ja großjährig. — Aber wenn Sie vielleicht das beliebte europäische Ärgernis nehmen wollen?“

„Wo denken Sie hin — Ärgernis ... Ich bin glücklich, wenn ich Sie begleiten darf und fürchtete nur ein Hindernis.“

„Nein — fürchten Sie keines! Wenn Sie nichts andres vorhaben, können wir morgen gleich loslegen! — Wissen Sie eine schöne Partie? — Rücksichten auf weibliche Schwäche brauchen Sie nicht zu nehmen — zehn, zwölf Stunden im Sattel machen mir nichts aus!“

Fritz bleibt erst stumm, erschüttert von ungeahnter Freude. Dann beginnt er mit hastigen Vorschlägen. Gitta entscheidet sich für das Wadi Dukla, ein Wüstental, weit drin im Mokattam-Gebirge.

Sie gehen durch die breiten, stillen Straßen des Europäerviertels. Die große Brücke liegt einsam und menschenleer; durch die uralten Sykomorenalleen der Nilinsel ziehen leise Nachtnebel. Fritz geht wortlos und hört zu, wie der kleine Mädchenfuß im flüchtigen Schreiten die harte Straße klopft. Das weiße Kleid, blaß leuchtend in der Dunkelheit, rauscht gedämpft im Gehen. So oft eine kurze Abendbrise vom Flusse herüberspringt, weht sie Fritz den Atem des jungen Mädchenleibes zu. — Kein aufreizender Frauengeruch, nur der Duft der sauberen Wäsche, der guten Seife, mit einem Hauch von Lavendel — gesund und rein. „Bist du froh? Bist du froh?“ klopfen die kleinen Absätze auf der Straße. Und Fritz tritt leise auf, damit der jubelnde Hall seiner Schritte nicht der nächtigen Weite sein Glück verrate. —

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