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Nun regieren neue Sterne — nun ist das Leben da, das Leben, gebefreudig kaum erträumten Genuß spendend. Immer noch liegen drei Viertel des Tages in totem Schatten — die Brotarbeit in der Bank, die Pension mit den Freunden von gestern, heute Halbfremden — ertragen nur in glühender Erwartung der wenigen Stunden mit Gitta.

Fritz ertappt sich dabei, wie er die lichtlose Kindheit segnet. Hat sie ihn nicht unverbraucht erhalten, ihm die Fähigkeit bewahrt, freier nun und bewußter, mit ganzer Seele sich Freuden hinzugeben, die tausend andern seines Alters, von Jugend auf vertraut, nun kaum noch sonderlichen Gefühlsaufwandes wert erschienen? Selbst die Krankheit noch segnet er. Der Gedanke an den Knochenmann, den er, ewig lauernd, auf dem Rücken trägt, fügt süß und schmerzhaft die letzte Steigerung zum Genuß sinnenfroher, junger Körperlichkeit.

Vergessen, versunken die eingeprügelte Scheu, die finstere Lüsternheit der Jugendjahre; frei ringt sich göttliche Schamlosigkeit auf: Gott schuf den Menschen nach Seinem Bilde! — Wie durstig trinkt die Haut die ungewohnten Sonnenstrahlen, den reinen Hauch der Weite, wie unirdisch leuchten die jungen Leiber im blaugoldenen Schein der Wüste!

In der Stadt: Eine junge Dame, die sich sehr förmlich von ihrem Ritter geleiten läßt. — Kaum aber ist der Dunstkreis der Menschenherde überwunden, da fallen die hemmenden Kleider, zwei nackte Menschen taumeln durch die Unendlichkeit, wie liebesselige Falter.

Kein Gestern, kein Morgen. — Weite Ritte, Nachtlager in freier Wüste, auf lauem Sand. Sonne, Mond und Sterne, und wieder Sonne. Ihr Auf und Nieder bescheint unwandelbares Glück. „Deine Mutter ..., mein Vater ...? Laß — laß! Wir sind der Urbeginn, das erste Paar, die Menscheneltern!“ — Kein Gestern, kein Morgen.

Lag je eine Frage quälend auf dem Grund der Dinge, auf die es die Antwort zu finden galt? Vorbei die Qual — hier die Antwort: Selige Nacktheit unter freien Gestirnen. — Kein Gestern, kein Morgen.

Kein Morgen? — Die eine Frage pocht und brennt, ist nicht zum Schweigen zu bringen. In einsamen Nächten — die sonnendürre Haut wehrt sich schmerzhaft gegen leichteste Hülle, der ganze Leib glüht wie mit flüssigem Blei ausgegossen, rasender, unstillbarer Durst scheucht jeden Schlaf — in einsamen Nächten springt ihm folternd die Zwiespältigkeit seines Daseins ins Hirn. Kein Morgen? Soll dieses Heute unverändert währen? Heute, das ist: Gitta, Sonne, Freiheit. Heute aber, das ist auch: Bank, armselige Schreibarbeit, widerwillig oder doch gleichgültig getan, acht, zehn, zwölf Stunden im Tag. — Heute: Das ist der kleine Handelsangestellte, dem ein namenloses Glück in den Schoß gefallen ist, das er nun heimlich, heimlich genießt.

Trotz bellt auf: „Heimlichkeit? — In offener Wüste?“ — Doch das Gewissen läßt sich nicht belügen: „Seid ihr so kettenlos frei, Urbeginn, erstes Paar, Menscheneltern — was ist es dann, das euch immer wieder in die Stadt zurückzwingt, hinein in die Herde, in Kleider und Gesetze? Dort selige Nacktheit unter freien Gestirnen — hier öder Werktag, enge Formen —: Wollt ihr ein Leben lang dazwischen pendeln?“

Was soll werden? Die Zweifel überwuchern seine Einsamkeit nicht nur, sie greifen fressend über auch auf die Stunden mit Gitta, daß langsam neue Befangenheit aufwächst. — Heiraten — Weib und Kind ernähren von dem lächerlichen Gehalt, der knapp für einen reichte? Das war dein Traum, armer Heinze, und seine Erfüllung hat dir ein gnädiger Tod erspart! — Aber Gitta ist reich, nach europäischen Begriffen unerhört reich, und man könnte ... man könnte — was? Sich mit dem Geld einer geliebten Frau zur Ruhe setzen, ohne je ehrlich müde gewesen zu sein? Der Vater ... ach was — keine Beispiele! Der eigene Stolz reckt sich auf. — Was soll werden?

Ein Tag auf dem Nil. Vom frühen Morgen an hat das scharfgeschnittene Segelboot sich gegen strammen Südwind rauschend stromaufwärts gekämpft. Gitta und Fritz haben sich redlich abgeplagt bei dem ewigen Kreuzen, sie am Steuer, er an den Segeln. Kurz nach Mittag fällt tote Flaute ein; das Boot liegt abgetakelt vor Anker und schwait leise im Strom.

Gitta ist stiller als sonst, und seltsam ernst. Fritz wehrt sich gegen einen inneren Druck, der ihm die Sonnenstunden verleiden will. — Da wendet sich Gitta, die ausgestreckt neben ihm im Bootskasten liegt, auf dem Ellenbogen ihm zu, und ihre freie rechte Hand greift weich und zärtlich in sein Haar. „Sag mir, du — bist du geheilt?“ — Er fährt aus seinem Grübeln auf, wie auf einem Verbrechen ertappt, wiederholt verwirrt: „Geheilt — Gitta?“ — „Ja, geheilt, von deiner Bitterkeit, von Haß, von all dem Häßlichen, sag?“ — „Ja, oh ja!“ stammelt er glühend, will sie küssen. Doch sie wehrt ihm leise: „Wird nichts, nichts, was immer auch geschieht, dich nochmals verbittern können?“ Der Ton der Frage schreckt ihn, er sieht sie starr an. Sie hält den Blick ruhig und ernst aus, drängt ihn: „Sag mir, du, wirst du nie wieder, nie wieder bitter sein, wie damals, als wir uns trafen? Sag?“ — „Nie wieder, Gitta, gewiß nie wieder — aber warum ...“ — „Schwöre mir das, ich bitte dich, schwöre mir das, bei allem was uns heilig ist, bei der Wüste, bei der Sonne ... sag: ich schwöre!“ — Er will sich wehren, doch sie beharrt ernsthaft auf ihrem Willen, läßt ihn einen Schwur nachsprechen, daß er den Glauben an die Sonnenstunden ewig bewahren will. Kaum hat er, von ihrer andächtigen Inbrunst bezwungen, das letzte Wort nachgesprochen, da wirft sie sich über ihn, umschlingt ihn rasend und flüstert zwischen saugenden Küssen: „Sei froh, du, sei froh!“

Gegen Abend springt der Wind wieder auf. Das Boot zieht vor der stetigen Brise den Strom hinab, die Segel weit ausgelegt, lautlos ruhig. Gitta sitzt am Steuer, Fritz vor ihr auf dem Bootsboden, die Wange an ihre nackten Kniee gelehnt. „So werde ich dich immer sehen,“ flüstert er weich, „du am Steuer meines Schiffs, und ich dir zu Füßen!“ — Da flammt eine Röte, dunkler als der Abendschein, in ihrem Gesicht auf und sie sagt hart wie nie zuvor, heftig: „Das sollst du nicht — das sollst du nicht!“ — „Gitta, was ist dir?“ — Da ist die weiche Stimme wieder, und der zärtliche Blick: „Verzeih, ich bin wohl etwas müde — nimm du das Ruder, bitte!“ —

Das Boot ist im Segelhafen festgemacht, und Fritz will einen Wagen herbeipfeifen. Gitta faßt seinen Arm: „Bitte, gehen wir zu Fuß!“ — Er gibt gerne nach.

Hinter der großen Brücke, im nächtigen Dunkel der Sykomorenallee, nimmt Gitta seinen Arm. „Hier sind wir seit dem ersten Abend bei Hesselbach nie mehr gegangen — immer nur gefahren oder geritten. Denkst du noch dran?“ — „Oh ja, oh ja!“ sagt Fritz und zieht die kleine Hand zärtlich an die Lippen. „Damals hattest du Stöckelschuhe, die klimperten eine Frage auf der harten Straße!“ — „Eine Frage?“ — „So klang es mir. — Bist du froh, bist du froh?“ — Da wirft Gitta die Arme um ihn, stammelt an seinem Ohr, und er hört Tränen in ihrer Stimme: „Bist du froh? — Wirst du froh bleiben, immer, immer, sag?“ Der jähe Überschwang macht ihn bestürzt — er faßt ihren Kopf, will ihr Gesicht sehen — doch sie preßt sich enger noch an ihn: „Immer, immer, sag?“ Und eine heiße Träne rinnt ihm über Wange und Hals. „Ja, Liebling, tausendmal ja — ich wäre ja ein Schuft ...“ Da schnellt sie ihren Kopf dem seinen entgegen, daß zwischen vollen Lippen die Zähne aufeinander knirschen, und in einem langen Kuß keucht sie ihm in den Mund: „Denk dran — du hast geschworen!“ Dann ein scharfer Biß, daß ihm augenblicklich ein Blutfaden von der Unterlippe übers Kinn läuft — sie reißt sich los und ist mit zwei Sprüngen im Lichtkegel des nahen Hotelportals. Alter Verabredung nach begleitet er sie nie mehr bis zum Eingang. So bleibt er ratlos im Dunkel, saugt an der zerbissenen, schmerzenden Lippe. Als er sie zögern sieht, fragt er: „Morgen?“ Da ruft sie über die Schulter zurück: „Not to morrow — you’ll hear from me — God bye!“ winkt mit abgewandtem Kopf und läuft ins Haus.

Der aufgeregte Abschied — wie fremd und ungewohnt! — Und daß sie englisch geantwortet hat? — Natürlich — um in Hörweite des Hotels nicht „du“ sagen zu müssen! — Doch eine ziellose Unruhe läßt sich nicht unterdrücken. Dazu noch die Lippe, die dick aufschwillt — es wird am Ende dreckige Bemerkungen in der Pension geben, und morgen in der Bank ... „Morgen nicht — du hörst noch von mir — Gott befohlen!“ —

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