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Morgen nicht. — Der Montag bricht öde an. Härter als sonst drückt das Einerlei des Bankdienstes; an den Sonnentag auf dem Strome mahnt quälender Durst und die dicke Lippe. Fritz saugt immer wieder an der kleinen Wunde. Der leise Schmerz und der Blutgeschmack rufen ihm inbrünstig immer wieder den Kuß wach. Gitta! — Dienstag morgens liegt ein Brief in der Bank. Von Gitta. Fritz reißt den Umschlag hastig auf — lange Seiten, engbeschrieben ... Im ersten Schreck laufen die klaren, steilen Buchstaben durcheinander — dann liest er:

Liebster — Dieser Brief erreicht Dich, wenn ich schon auf hoher See bin. Ja, Liebling, ich gehe fort von Dir. Und daß ich es Dir nicht zu sagen, keinen Abschied zu nehmen wagte — das allein mag Dir beweisen, wie furchtbar schwer es mir fällt. Könnte ich doch bei Dir sein und Dich trösten; — aber dann hätte ich nicht mehr die Kraft fortzugehen. Und es muß doch sein. Ich bin nicht sehr gewandt mit der Feder und verzweifle fast daran, Dir hier aufzuschreiben, was ich doch so klar und notwendig fühle. Du mußt mir glauben, Liebling. Und wenn Du in der ersten Heftigkeit mir nicht glauben willst, dann glaube der Sonne, die über uns geleuchtet hat. Wer müßte ich sein, um zu vergessen, was wir erlebt haben? Und denk auch Du an Deinen Schwur!

Ich habe nie zuvor geliebt, das weißt Du. Dich aber hatte ich lieb vom ersten Augenblick, und mit jedem Tage mehr, bis mir nichts Lieberes mehr blieb als Du. Darum muß ich fort. Versteh das doch, ich bitte Dich! — Du hast mir nie davon gesprochen, und doch weiß ich bestimmt, daß Dich in den letzten Wochen die Frage zu quälen begonnen hat: Was weiter? — Mich hat sie nicht weniger gequält, glaub mir. Denn wenn ich auch nie geheuchelt habe, so oft ich mit Dir ganz in den Augenblick versank, so hat sich meine amerikanische Erziehung doch nicht verleugnet, sobald ich alleine war. Ich sehe die Welt nüchterner als Du.

Du hast Deine Kindheit halbwegs überwunden, Deine Selbsterziehung begonnen und wirst heute oder morgen zu einem Entschluß über Dein Leben kommen, den Du eigentlich schon früher hättest fassen müssen. Du bleibst nicht bei der Bank, bleibst auch nicht im Ausland. Die Heimat steckt Dir tiefer im Blut als Du weißt. Und Du wirst lernen müssen, viel lernen; nicht wegen des dummen Doktortitels, aber weil Dein ganzes Wesen die feste Unterlage braucht.

Nun sieh doch, Liebling: dabei würde ich Dich hindern! Sag nicht, Du würdest durch mich und mit mir ... sag nichts von Hilfe! Kannst Du als Student eine Frau brauchen? Oder nachher, als junger Künstler? Und wie sollten wir leben? Als reiche Leute im großen Stil? Das ertrügest Du keinen Tag. — Oder sollte ich, Deinem Stolz zuliebe, mich von Dir ernähren lassen, durch Stundengeben oder so? — Und meinst Du wirklich ... aber ich will Dir nicht weh tun. —

Sieh doch, Liebling: wie hat uns das Schicksal zusammengebracht, wie hat es uns emporgerissen, steil aufwärts! Können wir weiter steigen, weiter noch so steil steigen? Müßte nicht ein Stillstand kommen, und ein Bergab?

Was haben wir erlebt in diesem halben Jahr, Liebster, Liebster! Wir haben nicht gerechnet, nicht gespart. Und es war gut so. Aber ich könnte es nicht ertragen, Deine Küsse kälter werden zu fühlen. Und das müßte, muß kommen. Wir sind ja so jung, und das Leben ist lang.

Frag nicht, was aus mir wird. Du hast mir unendliches Glück geschenkt, und es wird kein Opfer sein, wenn ich noch lange Jahre mit meiner armen Mutter durch die Welt ziehe. — Es wird kein Opfer sein, solange ich fest glauben kann, daß es so für Dich, Liebster das Beste ist. Nun tue ich Dir wohl weh — aber vielleicht hilft Dir der Schmerz, den Künstler in Dir zu finden, den Du suchst. Und dann wird der Schmerz Frucht tragen und auch das Glück, das wir genossen haben.

Suche mich nicht. Du würdest mich namenlos quälen, aber doch keinen Augenblick irre machen in dem, was ich als richtig erkannt habe. Ich will keine Briefe, ich will aus Deinem Leben verschwinden. Dabei will ich Dich im Auge behalten — aber ich werde Dich niemals unter den Vielen suchen. Vielleicht finden wir uns einmal, wenn Du allein stehst, über den Andern ...

Nun kann ich nicht weiter, denn die Sehnsucht packt mich und es könnte sein, daß der Brief ins Feuer fliegt und ich —

Lieber, Liebster, nun fühlst Du wohl, wie heilig ernst es mir war, als ich Dich gestern auf die Freude schwören ließ. Gestern war das? —

Mama ruft mich. Sie ist aufgeregter als sonst bei einer Abreise, denn sie fühlt wohl, daß wir fliehen. Ich fliehe nur vor meiner Schwäche. Denn Du — bist Du der, den ich liebe, dann wirst Du stark sein.

Leb’ wohl, Liebster!
Gitta.

Ich habe dich gestern gebissen und hoffe sehr, es wird eine kleine, weiße Narbe geben. Fremde Lippen werden sie küssen — aber sie sollen nie jemandem gehören, der dich weniger lieb hat als ich. Das versprich du mir.

Fritz steht gelähmt. — Der Brief in seiner Hand zittert, flattert — er muß ihn gegen die Mauer halten, um den und jenen Satz nochmals überfliegen zu können. Gitta fort! — Und die Welt, die gestern noch strahlend in Sonne lag, ist mit einem Schlage grau und leer. — „Schlechte Nachrichten, mein Herr, wie es scheint?“ feixt der Buchhalter im Vorübergehen. Und Fritz zuckt die Hand — er möchte die geile Fratze zertrümmern. — „Bist du der, den ich liebe ...“ klingt es auf und er wird stolz und kalt. Da im Stiegenhaus stehenbleiben und den Affen ringsum ein Schauspiel geben, daß sie ihm den Jammer schadenfroh an der Nase ablesen können? Nein und nein! — Nicht nachdenken, die Fronstunden absitzen — Abend dann, zu Hause, blieb Zeit, zu heulen, mit dem Kopf gegen die vier Wände des engen Zimmers zu rennen ...

Und er stürzt sich verbissen in die eintönige Arbeit, tobt auf der Maschine, schreibt sich den Krampf in die Finger ... und der Abend findet ihn, zu seiner eigenen Überraschung, gefaßt und ruhig, zu ruhig beinahe, und unfähig zu jedem Ausbruch.

Wohl rauscht sein Blut auf: Gitta! Gitta! — Und die wunde Lippe brennt: Gitta! — Doch neuer Stolz stemmt sich dagegen: Ich kenne dich, Satan! Der Vater konnte mich nicht klein kriegen, die Krankheit nicht, und nicht die Bankarbeit — nun sollte ich mich an die Sinne verlieren, mich verliegen? Was Gitta heute getan hat, das habe ich längst geahnt, gefühlt, hätte es morgen vielleicht selbst erkannt — nun ist es getan. Herrliches Mädchen! Der Schwur war unnütz — nie wieder wird mich der Glaube an Sonne und Glück verlassen, den du mir geschenkt hast! —

Was mag das Mädel gelitten haben und gekämpft — und wie hat sie es getragen! Kaum daß in letzter Stunde das Herz ihr aus den Händen geglitten ist — herrliches Mädchen! „Bist du der, den ich liebe ...“ Ja, ich bin stark, ich lasse mich nicht zwingen, und unter den vielen sollst du mich nie zu suchen haben — Gitta, Gitta! —

Noch kommen Rückfälle in Kleinmut und Rührseligkeit. An manchen Abenden durchrennt Fritz die Straßen, die Gitta neben ihm gesehen haben. Die dunkle Sykomorenallee hinter der großen Brücke ist sein liebstes Ziel. Dort steht er oft im Dunkel, wenige Schritte vor dem Lichtkegel des Hotelportals, klammert die Arme um den mannsdicken Stamm eines Alleebaumes und läßt seine Tränen haltlos die kühle Rinde feuchten, während er wütend an der wunden Lippe saugt. Er will sie lange nicht heilen lassen, denn in dem leisen Schmerz und dem Blutgeschmack brennt jedesmal die Flamme jenes letzten Kusses auf ...

Doch die Lippe heilt. Über Nacht einmal hat sich der kleine Riß geschlossen und bald ist die kleine weiße Narbe da, ganz wie Gitta sie gewünscht hat. Ein wenig wulstig noch, und er streicht gerne mit der Zunge darüber hin.

Die Lippe ist geheilt, und der Entschluß, den Gitta vorausgesehen hat, ist gefaßt, steht unerschütterlich fest: Weg von der Bank, an die Universität erst, und dann ... wenn es zum „Dichter“ nicht reichte, konnte man Kritiker werden oder Schriftsteller. — Jedenfalls: nur ein freier Beruf, der Kunst gewidmet, konnte ihn ausfüllen.

Der Entschluß läßt ihn den Bankdienst mühelos ertragen, daß die kleinlichen Zwischenfälle spurlos an ihm herunterrinnen, wie Wasser am Fell des Seehunds. Wie lange denn noch ...

Schwer aber beginnt von neuem der Gedanke an den Vater zu drücken. Wie wird der den Plan aufnehmen, wie wird die Auseinandersetzung ausfallen? Keinen Augenblick zweifelt Fritz daran, daß sein junger Wille diesmal obsiegen muß. Doch möchte er dem Alten die Niederlage nicht im Bösen beibringen. Innerlich, das weiß er von Mailand her, innerlich wird der Vater wohl dasselbe wünschen — Universitätsstudium. Aber er kennt auch den jähen Starrsinn des Kraftmenschen, der sich dem, was er für Auflehnung hält, eisern verschließt, auch wenn es sich mit seinen Wünschen deckt. Vorsicht also und jede unnütze Schärfe vermeiden — aber wie soll das in Briefen möglich sein? Die Nachrichten von Hause kommen spärlich und wenig gehaltvoll. Auf dem starken Elfenbeinpapier stehen feingestochen die weichen Schriftzüge der Mutter, doch ein P. d. im oberen oder unteren Eck des Bogens zeigt an, daß „Papa diktiert“ hat. Ermahnungen, Vorschriften, Verbote ... Arbeiten, Sparen ... „Wir dulden natürlich nicht ...“ wie freudlos alles! Kein Wort von dem Leben da drüben, in dem alten Haus unter vielen häßlichen Häusern, mit den weiten Feldern im Hintergrund ... Selten einmal ein Brief von Gretl, gütig, zärtlich, doch sie auch seltsam gehemmt in allem, was das Leben zu Hause anging. Leidet sie unter der steten Nähe der lebensfremden alten Leute, oder hat sie die Kraft gefunden, der greisenhaften Trübsal den jungen Willen zur Freude entgegenzusetzen, wie Gitta? Gretl und Gitta! Der Schwester fehlte wohl Gittas harte Kraft. Die ließ sich ihr Schicksal aufbürden und trug es stumm und ohne Klage, mit dem gütigen, treuen Lächeln um die Lippen, das er so gut kannte. Gretl! — Und Fritz merkt beschämt, daß er in den Auslandsjahren die Schwester innerlich vernachlässigt hat, in den letzten Monaten besonders. Wortreiche Schilderungen der Ritte und Jagden, der fremden Weiten — mußte er sie damit nicht eher gequält haben, sie, die in trübster Kleinstadt einen leeren Alltag lebte? Und nie ein Wort der Klage, kein Schatten von Neid, immer nur freundliches Miterleben. — Treue Schwester!

Die Brüder, mein Gott, die Brüder! Felix der Musterhafte, hoher Verwaltungsbeamter, und Max, nach wilden Reiterjahren, im Generalstab — erhabene Würdenträger! Immerhin, es gab Erinnerungen — die Löwenjagd, und Haschilipani Maschitzki Baribatzki — man sollte die beiden wieder einmal sehen! — Im Frühsommer stand ihm der erste Europaurlaub zu, das wußten die Eltern durch den Herrn Rat, und der Vater hatte ihm erlaubt, die vier Wochen zu Hause zu verbringen: „Wir haben nichts dagegen ...“ Er kam nicht los von dem majestätischen Herrscherstil, und dabei gedachte er sicherlich mit dem weitgereisten Jüngsten zu prunken, auf seine Art. Armer alter Mann —, der kaum sich selbst, geschweige denn dem Sohne eine Freude einzugestehen wagte! Der graue Himmel da oben, Nebel und Regen ...

Der Urlaub ließ sich im letzten Augenblick mit der Kündigung verbinden — er konnte abreisen, um nicht wiederzukehren, und drüben, drüben, wenn er erst mit dem Vater Auge in Auge sprechen konnte, da fand sich wohl die Möglichkeit, alles zu erklären, ihn in Güte umzustimmen, wenn Umstimmung nötig war ...

Und so soll es sein: Bei Antritt des Urlaubs wird gekündigt. Die Bank kannte ohnedies keine Kündigungsfrist. Wer gehen mußte, der bekam seine drei Monate Gehalt in die Hand, wer gehen wollte, dem wurde die Türe weit aufgemacht und damit Gott befohlen! — Wochen nur noch bis dahin, die es zu nützen gilt!

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