79

Die Eingeborenenviertel prangen im Schmuck von ungezählten bunten Wimpeln, edlen Teppichen und Stickereien, zu Ehren des Frühlingsfestes Cham-El-Nessîm. Fritz kehrt froh und farbensatt von einem weiten Gang durch die alte Stadt zurück und merkt mit leiser Überraschung, daß bei seinem Eintreten die laute Runde am Abendtisch in drückendes Schweigen verfällt. Vergebens sucht er ein Gespräch in Gang zu bringen; selbst die Stiftung einer Abschiedsbowle verfängt nicht. Nur stummes Kopfschütteln und seltsame Blicke sind die Antwort. Endlich erhebt sich Herr Lustig und fordert ihn mit einem Augenwink auf, ihm zu folgen. Fritz wittert einen der üblichen Scherze und wappnet sich zu schlauer Abwehr. Doch Herr Lustig schließt die Zimmertüre, beginnt stockend und verwirrt zu sprechen: „Es sind Nachrichten gekommen .. der Vater ...“ Dann starrt er Fritz ängstlich, fast flehend an, als sollte der ihm die Fortsetzung erlassen. Doch Fritz schweigt. Herr Lustig beginnt abermals, stößt nach kurzem Zögern hervor: „Der Vater ist tot!“ — „Wessen Vater?“ fragt Fritz, immer noch völlig verständnislos. „Ihr Vater!“ murmelt Herr Lustig. — „Mein Vater? Der war ja gar nicht krank .. das ist ja ...“ dumm gelogen, will er sagen. Doch er besinnt sich: den Scherz erlaubt sich keiner! Ein Mißverständnis also, das rasch aufgeklärt werden muß! — „Woher haben Sie die Nachricht?“ fragt er rauh. Und Herr Lustig beginnt sich erschreckt von dem Verdacht zu reinigen, er habe eine solche Mitteilung etwa leichtfertig gewagt. Mit der Abendpost ist ein Brief für Fritz gekommen und eine schwarzgeränderte Todesanzeige. Die wurde, da der Umschlag offen war, aus reiner Neugierde gelesen. Um nun die Wirkung des Versehens zu mildern — zweifellos ein Versehen —, habe er sich auf Wunsch der Tafelrunde entschlossen ... einige vorbereitende Worte ... in der besten Absicht ...

„Wo sind die Briefe?“ flüstert Fritz. Und Herr Lustig zieht sie aus der Rocktasche, bleibt einen Augenblick unschlüssig stehen, geht dann auf Zehenspitzen hinaus. Die Tür klappt zu.

Fritz entfaltet das schwarzgerahmte Blatt mit fliegenden Händen. Da steht es — Name — Titel — Orden — nach kurzem, schwerem Leiden ...

Vor sieben Tagen gestorben! Und er hat diese sieben Tage ahnungslos gelebt, hat sein bißchen Dienst gemacht, Spaziergänge, Ritte, hat gelesen, geplaudert, gegessen, geschlafen — gestern, heute, vor einer halben Stunde noch, als der Vater längst schon in der Erde lag?

Der Vater gestorben — und hat wohl noch in den Tod das alte Bild des Jüngsten mitgenommen — schlimmer noch: Die Kündigung, auf eigene Faust, doch in der festen Absicht unternommen, vor dem Vater dafür einzustehen — nun wird sie zur Heimlichkeit, zur nie wieder gutzumachenden! — Er hätte den Vater sehen, sprechen, ihm die Wandlung beweisen müssen ... zu spät!

Nach kurzem, schwerem Leiden ... Der Vater war krank, und man hat ihm, dem Sohn, nichts geschrieben; er ist gestorben, und man überläßt es dem Zufall, ob der Sohn nicht durch eine gedruckte Todesanzeige davon erfährt — wer durfte ihm das tun? Und erstickende Wut steigt in die Kehle. — Da fällt sein Blick auf den zweiten Brief, der die steile Mädchenschrift der Schwester zeigt. — Am Todestage aufgegeben — die Karte zwei Tage später ... Sie haben nicht daran gedacht, daß die Post in Genua gesammelt wird ... Ein Mißverständnis noch im Tode ...

Da kommen die Tränen.

Die Schwester schreibt kurz, sichtlich unter dem unmittelbaren Eindruck des Hingangs: Der Vater habe jede Nachricht von seiner Erkrankung ausdrücklich verboten ... keine unnütze Aufregung gewünscht ... dann das Ende so plötzlich ... Die arme Mama ... „In wenig Wochen bist Du ja hier — ich hatte so viel von dem Wiedersehen gehofft — nun findest Du ihn nicht mehr ...“

Wo ist nun die Herrengebärde, der Sieg des jungen Willens — wozu nun alle Einkehr, alle Selbstbesinnung, da er nicht mehr davon erfährt?

Und einen Augenblick scheint ihm der Abschied von der Bank, nun, da er sich widerstandslos und selbstverständlich vollziehen könnte, fast verleidet. Doch bei allem Schmerz merkt er den eitlen Trotz, der den verlorenen Widerpart vermißt, und zwingt ihn wütend nieder: Soll dies letzte Jahr umsonst gelebt sein, soll Gitta umsonst um mich geweint, gelitten haben? — Nicht dem Vater, ob lebend oder tot, zuliebe oder zuleide, auch Gitta nicht — mir selbst habe ich mich zu beweisen! — —

Share on Twitter Share on Facebook