116. Goethe an Kestner.

Wartburg d. 28. Sept. 77.

Lieber Kestner, nicht dass ich euch vergessen habe, sondern dass ich im Zustande des Schweigens bin gegen alle Welt, den die alten Weisen schon angerathen haben und in dem ich mich höchst wohl befinde, indess sich viele Leute mit Mährchen von mir unterhalten, wie sie sich ehemals von meinen Mährchen unterhielten. Wenn ihr’s könntet auf euch gewinnen, und mir mehr schriebt, oder nur manchmal, ohne Antwort, glaubt dass mirs ewig werth ist, denn ich seh euch leben und glücklich seyn. — Einen Rath verlangt ihr! Aus der Ferne ist schweer rathen! Aber der sicherste, treuste, erprobteste, ist: bleibt wo ihr seyd. Tragt diese oder iene Unbequemlichkeit, Verdruss, Hintansezzung u.s.w. weil ihrs nicht besser finden werdet wenn ihr den Ort verändert. Bleibt fest und treu auf eurem Plazze. Fest und treu auf Einem Zweck, ihr seyd ia der Mann dazu, und ihr werdet vordringen durchs bleiben, weil alles andre hinter euch weicht. Wer seinen Zustand verändert verliert immer die Reise- und Einrichte-kosten, moralisch und ökonomisch, und sezzt sich zurück. Das sag ich dir als Weltmensch, der nach und nach mancherley lernt wie’s zugeht. Schreib mir aber mehr von dir, vielleicht sag ich dir was bestimmt besseres.

Grüsse Lotten, und Gott erhalt euch und die Kleinen.

Ich wohne auf Luthers Pathmos, und finde mich da so wohl als er. Uebrigens bin ich der glücklichste von allen die ich kenne. Das wird dir auch genug seyn.

Addio. Grüsse Sophien.[28]

G.

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