Saarbrück am 27 Juni (1771).
Wenn das alles aufgeschrieben wäre, liebe Freundin, was ich an Sie gedacht habe, da ich diesen schönen Weg hierher machte und alle Abwechselungen eines herrlichen Sommertages in der süßesten Ruhe genoß; Sie würden mancherlei zu lesen haben und manchmal empfinden und oft lachen. Heute regnet's, und in meiner Einsamkeit finde ich nichts reizenders als an Sie zu denken; an Sie, das heißt zugleich an alle, die mich lieben und auch sogar an Käthchen, von der ich doch weiß, daß sie sich nicht verläugnen wird, daß sie gegen meine Briefe sein wird, was sie gegen mich war, und daß sie — Genug, wer sie auch nur als Silhouette gesehn hat, der kennt sie.
Gestern waren wir den ganzen Tag geritten, die Nacht kam herbei und wir kamen eben auf's Lothring'sche Gebirg, da die Saar im lieblichen Thal unten vorbei fließt. Wie ich so rechter Hand über die grüne Tiefe hinaussah und der Fluß in der Dämmerung so graulich und still floß und linker Hand die schwere Finsterniß des Buchenwaldes vom Berg über mich herabhing, wie um die dunklen Felsen durchs Gebüsch die leuchtenden Vögelchen still und geheimnißvoll zogen; da wurd's in meinem Herzen so still wie in der Gegend und die ganze Beschwerlichkeit des Tags war vergessen wie ein Traum, man braucht Anstrengung, um ihn im Gedächtniß aufzusuchen.
Welch Glück ist's, ein leichtes, ein freies Herz zu haben! Muth treibt uns an Beschwerlichkeit, an Gefahren; aber große Freuden werden nur mit großer Mühe erworben. Und das ist vielleicht das meiste was ich gegen die Liebe habe; man sagt, sie mache muthig; nimmermehr! Sobald unser Herz weich ist, ist es schwach. Wenn es so ganz warm an seine Brust schlägt und die Kehle wie zugeschnürt ist, und man Thränen aus den Augen zu drücken sucht und in einer unbegreiflichen Wonne dasitzt, wenn sie fließen, o da sind wir so schwach, daß uns Blumenketten fesseln, nicht weil sie durch irgend eine Zauberkraft stark sind, sondern weil wir zittern sie zu zerreissen.
Muthig wird wohl der Liebhaber, der in Gefahr kommt, sein Mädchen zu verlieren, aber das ist nicht mehr Liebe, das ist Neid. Wenn ich Liebe sage, so verstehe ich die wiegende Empfindung, in der unser Herz schwimmt, immer auf einem Fleck sich hin und her bewegt, wenn irgend ein Reiz es aus der gewöhnlichen Bahn der Gleichgültigkeit gerückt hat. Wir sind wie Kinder auf dem Schaukelpferde immer in Bewegung, immer in Arbeit und nimmer vom Fleck. Das ist das wahrste Bild eines Liebhabers. Wie traurig wird die Liebe, wenn man so schenirt ist, und doch können Verliebte nicht leben, ohne sich zu scheniren.
Sagen Sie meinem Fränzchen, daß ich noch immer ihr bin. Ich habe sie viel lieb, und ich ärgerte mich oft, daß sie mich so wenig schenirte; man will gebunden sein wenn man liebt.
Ich kenne einen guten Freund, dessen Mädchen oft die Gefälligkeit hatte, bei Tisch des Liebsten Füße zum Schemel der ihrigen zu machen.[146] Es geschah einen Abend, daß er aufstehen wollte, eh es ihr gelegen war; sie drückte ihren Fuß auf den seinigen, um ihn durch diese Schmeichelei festzuhalten; unglücklicher Weise kam sie mit dem Absatz auf seine Zehen, er stand viel Schmerzen aus, und doch kannte er den Werth einer Gunstbezeugung zu sehr, um seinen Fuß zurückzuziehen.
[146] Vgl. das in Leipz. gedichtete Lied „Der wahre Genuß“ (S. 182):
Ich bin genügsam, und genieße,
Schon da, wenn sie mir zärtlich lacht,
Wenn sie beym Tisch des Liebsten Füße
Zum Schemmel ihrer Füße macht.
Unter einer nicht unbedeutenden Anzahl von Briefen und Concepten von Friederike Oeser, welche ich durchgesehen habe, fand sich leider keiner der an Goethe geschriebenen. Um ein lebendigeres Bild von seiner Correspondentin zu erhalten, wird es nicht ohne Interesse sein ein Bruchstück aus einem Briefe an einen Freund in Dresden vom 21. Jan. 1770 hier zu lesen.
„Ich war, wie Sie wissen, der Liebling meines Vaters und seine stete Gesellschaft, auch selbst bey seinen Geschäften. Tausend kleine Streiche, die ich meinem phlegmatischen Bruder Hanß spielte, verriethen ein anschlägisches Köpfchen und oft eine kleine ‘fühlbare’ Thräne, bei dem Unglück einer Yariko, und eine Erbitterung über Beatens harte Gabe, ein gutes Herz, bey alle dem wurde oft auch ein gut Theilgen Ehrgeiz wahrgenommen. Doch plötzlich kam der grausame Krieg, der mir, vielleicht auf ewig, meine geliebte Vaterstadt entrissen! wir flüchteten vor seiner Wuth auf ein gräfliches Schloß,[147] wo wir uns 3 glückliche Jahre, von allen Unruhen entfernt, aufhielten. Hier l. N. wurde Ihre Freundin ein kleines Bauermädchen, die am liebsten Erdäpfel raufte oder zur Kirmes gieng! mein Vater war die meiste Zeit von uns entfernt, jeden Monat glaubten wir aufzubrechen, es wurde also kein Lehrer angenommen außer einem Schreibemeister, den seine gros gewachsene Schülerin noch täglich durch eine erstaunenswürdige Hand verewigt![148] meines Vaters kleine Reisebibliothek war alles womit ich mir bei grosen Regen die Zeit verkürzen konnte, ich las auch sehr fleißig, bey so traurigen Umständen und in diesen Zeiten erwarb ich mir meine Begriffe von der grosen Welt. Ich hatte von Jugend auf über mein verstümmeltes Gesichte klagen gehört, ich wußte also, schon in meinem 9. Jahre, daß ich nicht hübsch war (große Wissenschaft für junge Mädchen!) ich kannte das Unglück nur halb und wußte mich darüber zu trösten. „Hast du keinen schönen Körper, so sorge doch für andere schöne Tugenden (sagte ich zu mir selbst), du mußt geschickter werden als die ganze Welt, alles besser lernen als Mädchen die schön sind es zu lernen brauchen, denn dieses muß nothwendig der zweite Weg seyn, auf welchem man glücklich zu gefallen weiß. Es giebt lauter gute vernünftige Leuthe in der Welt. Und wenn du nur einmal gros bist, so mußt du dich in ihrer Gesellschaft ohne Nachteil zeigen können; wenn man diese oder jene wichtige Frage an dich thut, so mußt du dich in keiner Verlegenheit finden, darauf richtig zu antworten.“ Kurz l. N. meine Welt war ein gröserer Sammelplatz von Seltenheiten als Rolands Entdeckungen in dem Mond! und nie kann mehr Ehrgeiz in einem jungen Busen gelodert haben, doch Ehrgeiz ohne Stolz; ich war fast ganz unempfindlich wenn man mich über etwas lobte, besonders wie ich mich in meine Vorstellungen betrogen fand, und nach und nach die Leipziger Welt, als meine Welt, kennen lernte. Ich lernte sie und mich besser einsehen und da ich erst aus Ehrgeiz Beyspiele vor Augen genommen hatte (doch ist hier bloß von Geschicklichkeiten die Rede, denn mein Herz hatte seine besondere Ökonomie) die ich nie erreichen konnte, und ich endlich diese Kenntniß, als das sicherste Mittel, mich für mehr als gewöhnlicher Eitelkeit zu bewahren, zu nuzen suchte, so war es mir leicht, mich von dieser unglücklichen Sucht ziemlich zu heilen. Ich folgte nun ganz den Eingebungen meines ehrlichen guten Herzens, ich ward gegen eine Welt fast gleichgültig, in der ich böses hörte und viel unnüzes sah. Ich lernte meine Fehler nach und nach einsehen, und desto mehr Nachsicht gegen die Schwachheiten meiner Freunde (die ich nur zu gut entdeckte!) haben. Ich überließ mich gänzlich meinen Lieblingsneigungen, besonders dem Hange zum Lesen, wo ich dabey dem Rath vernünftiger Personen folgte, doch las ich nur solche Bücher, die mich reformireten und vergnügten, in dem grosen weitläuftigen doch unentbehrlichen Buch der menschlichen Erfahrungen lernte ich endlich auch ein paar Blätter umwenden. Und so bin ich das Mädchen geworden daß ich bin! daß Sie sehr gut kennen, l. N., und daß sich wohl schwerlich jemals von seinen Mängeln und grosen Fehlern ganz heilen wird. Wie ist nun dieses Mädchen geschickt, gründliche Urtheile über diese oder jene Abhandlungen zu sagen, da es nur die Schönheiten, die es fühlt, seinem Herzen und nicht seiner Kenntniß zu verdanken hat? und auch nicht eine Regel weiß, wodurch man das Gegentheil bei dieser oder jener Stelle beweisen könnte! Wollen Sie diese Urtheile meiner Empfindung anhören? so bin ich bereit Sie Ihnen bei jeder vorfallenden Gelegenheit mitzutheilen, aber um die Ursache, warum ich so empfinde, dürfen Sie mich nicht fragen! ich würde Ihnen höchstens: daß weiß ich selbsten nicht! antworten.“
[147] Dahlen, ein Gut des Grafen Bünau.
[148] Ihre Hand ist sehr deutlich, fest und bestimmt.