Der Hoffende

Wenn ich mein Leben noch einmal beginnen sollte, so würde ich ebenso leben, wie ich gelebt habe.

Montaigne.

Der erste Teil des »Zarathustra« ist im Februar 1883 in Rapallo geschrieben. »Die Schlußpartie wurde genau in der heiligen Stunde fertig gemacht, in der Richard Wagner in Venedig starb.« Also am 13. Februar. Der zweite Teil ist zwischen dem 26. Juni und dem 6. Juli des gleichen Jahres in Sils-Maria geschrieben. »Im Sommer, heimgekehrt zur heiligen Stelle, wo der erste Blitz des Zarathustra-Gedankens mir geleuchtet hatte, fand ich den zweiten ›Zarathustra‹. Zehn Tage genügten; ich habe in keinem Falle, weder beim ersten noch beim dritten und letzten mehr gebraucht.« Der dritte Teil wurde Ende Januar 1884 in Nizza geschrieben.

In zehn Tagen! Es fällt schwer, sich dies vorzustellen bei der Fülle des Werkes, auch wenn wir uns sagen, daß gewiß Vieles längst vorbedacht war. Zu Dr. Paneth aus Wien äußerte Nietzsche einmal zur Zeit, da der dritte »Zarathustra« entstand, er glaube in sich dichterische Kräfte bis zu jedem Grade zu haben; er habe sie so lange zurückgedrängt, daß er jetzt nur die Schleusen zu öffnen brauche. Seine gleichzeitige Mitteilung, er wolle auch einige Kompositionen fertigbringen und hinterlassen als Ergänzung seiner Schriften, denn er könne in Tönen manches sagen, was in Worten nicht auszusprechen sei, bestätigt die innige Verbundenheit von Wort und Musik bei Nietzsche.

Von der Entzückung, in der er seinen »Zarathustra« schuf, gewinnen wir eine überzeugende Vorstellung, wenn wir in »Ecce homo« lesen, wie er die Macht der Inspiration empfand. Nämlich als eine Offenbarung in dem Sinne, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und[154] Feinheit etwas sichtbar, hörbar wird, was einen im tiefsten erschüttert, jede Willkür und Wahl ausschließt und in Bild und Gleichnis unmittelbar den nächsten, richtigsten, einfachsten Ausdruck darbietet.

Nur aus der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der schöpferischen Intuition erklärt es sich, daß das Werk innerhalb einer Frist entstehen konnte, die uns bei einem verstandesmäßig dem Bewußtsein abgerungenen Werk als unmöglich erscheinen müßte. Und dies außerdem unter der mißlichsten Ungunst der Verhältnisse. Gesundheitliche Störungen, Schwierigkeiten mit dem Verleger, Ausbleiben sympathischer Zustimmungen, zufällige Mißhelligkeiten verschiedenster Art vermochten nicht den Fluß seiner Arbeit zu hemmen. Am schwierigsten aber erwies sich dabei wohl, die zeitweise auftretende eigene Depression zu überwinden. Auch an Nietzsche trat, wie an andere Menschen, die Versuchung heran, im Mitleiden eine Tugend zu sehen, der man seine höhere Erkenntnis opfern müsse. Dann versuchte die Einsicht, daß auch der Schaffenswille dem Willen zur Macht, also der Herrschsucht, entstammt, ihm ein Halt zuzurufen; dann zweifelte auch er, ob es eine »Pflicht zur Wahrheit« geben könne, da doch niemals die unbedingte Richtigkeit feststehe. Zweifel überkamen auch ihn, den liebend Hoffenden, ob, wer den Menschen den Genuß am Vorhandenen so gründlich erschüttert, nicht damit die große Müdigkeit der Kulturmenschheit noch mehre, statt sie zu heben, ob diese nicht an Kräften Einbuße erleide, wenn er allem, was heute als Tugend anerkannt wird, die Scheinherrlichkeit raube; denn das Leben bedarf der Illusionen. Aber er überwand diese Versuchung, erfüllt von der Überzeugung, daß seine Lehre der Menschheit das biete, was sie am nötigsten hat: ein neues Ziel!

Heute sind wir uns wohl darüber einig, daß Nietzsches Lehre dies vermag. Gleichviel, ob wir als Individualisten es im harmonischen Vollmenschen sehen, dem Gesetzgeber[155] der Zukunft, der einen Gipfel unserer Entwicklung bedeutet, oder ob wir als Gemeinschaftswesen den Übermenschen nur als Blickpunkt werten, der uns die Richtung zu einer höheren Kultur weist. Heute ja, aber damals beim Erscheinen seines Werkes, da fand sich niemand oder doch fast niemand, der diesen Glauben mit Nietzsche teilte. Kein Wunder also, daß Bedenken in ihm aufstiegen, Versuchungen an ihn herantraten, die er nur durch die Stärke seines Glaubens an sich selbst und seine Hoffnung auf die Zukunft überwinden konnte. Der innere Kampf zwischen Zweifel und Hoffnung wurde für ihn zu einem neuen Erlebnis. Diesem Erlebnis verdanken wir die Dichtung des vierten »Zarathustra«.

Ursprünglich sollte er nicht als Schlußteil seines unsterblichen Werkes erscheinen, sondern unter dem Titel: »Mittag und Ewigkeit« mit dem Zusatz: »Erster Teil: Die Versuchung Zarathustras«. Zwei weitere Teile sollten sich ihm anschließen, wozu wohl Dispositionen vorhanden sind, jedoch ohne daß wir dadurch ein übersichtliches Bild der geplanten Fortsetzung gewinnen. Wäre es Nietzsche vergönnt gewesen, sie auszuführen, so besäßen wir ein selbständiges zweites Buch von »Also sprach Zarathustra«. So aber lag es nahe, es nach seinem Tode – er hatte »Mittag und Ewigkeit« nur in einer kleinen Anzahl für einige Freunde drucken lassen – als vierten Teil seinem Werke einzuverleiben. Dieser vierte Teil ist im Winter 1884/85 in Mentone geschrieben.

Wir verstehen ihn wohl dann am besten, wenn wir davon ausgehen, daß er Nietzsches Überwindung der depressiven Versuchungen durch den festen Glauben des Hoffenden widerspiegelt. In der Zeit vor der Entstehung des vierten »Zarathustra« schrieb Nietzsche die Worte nieder: »Um schaffen zu können, müssen wir selber uns größere Freiheit geben, als je uns gegeben wurde; dazu Befreiung von der Moral und Erleichterung durch Feste (Ahnungen der Zukunft! Die Zukunft feiern,[156] nicht die Vergangenheit! Den Mythus der Zukunft dichten! In der Hoffnung leben!). Selige Augenblicke! Und dann wieder den Vorhang zuziehen und die Gedanken zu festen, nächsten Zielen wenden!«

Im vierten Teile steigt Zarathustra nicht abermals in die Täler hinab, sondern »höhere Menschen« kommen zu ihm in ihrer Not. Wen bezeichnet Nietzsche als höhere Menschen? Vor allem solche, die sich nicht an dem Heute des Pöbels genügen lassen, die lieber verzweifeln als sich in Resignation ergeben. »Daß ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das machte mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen Verehrenden.« Ihr Leid, ihre Verzweiflung bedeuten für Zarathustra eine Versuchung zum Mitleiden, das er nur schwer überwindet, ja dem er zu unterliegen droht. Noch sind sie nicht auf ihrer Höhe, aber sie sind unterwegs zur Höhe. Da ist der Wahrsager, der in seiner Enttäuschung verkündet: »Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.« Zarathustra aber widerspricht ihm: »Es gibt noch glückselige Inseln.« Den beiden Königen, die es davor ekelt, daß sie nicht die ersten sind und es doch bedeuten müssen, belächelt er ihre Friedfertigkeit. Der Gewissenhafte des Geistes, der als Gelehrter zwar eines gründlich wissen will, aber auf alles andere verzichtet, kann ihm in seiner engen Genügsamkeit nicht genügen. Der alte Zauberer und Künstler, der den Büßer des Geistes spielt, der der Bezauberer aller wurde, aber sich selbst entzaubert ist und nun sehnsüchtig nach einem Großen sucht, heißt er gern bei sich willkommen, aber wie sollte er ihm als groß und echt gelten?!

Sowohl der schwarze lange Mann mit einem hageren Bleichgesicht, der letzte Papst, dessen schöne Hand, die immer Segen ausgeteilt hat, Ehrfurcht verdient, und der in seiner Schwermut nach Trost sucht, wie der häßlichste Mensch, der sich selbst und zugleich das[157] Mitleiden der Menschen verachtet, aber unter seiner rachsüchtigen Entrüstung schwer leidet: bedürfen Zarathustras Hilfe. Sie alle verweist er für den Abend in seine Höhle. Ebenso den freiwilligen Bettler, der seinen Reichtum wahllos von sich warf, ohne die Kunst des Schenkens zu üben, denn er soll Stolz und Klugheit von Zarathustras Adler und Schlange lernen. Und endlich Zarathustras Schatten, der viel schon hinter ihm herging, der als sein Nachfolger immer unterwegs war, aber nicht sein Gebot fand: auch ihn kann er nur als Gast in seine Höhle laden, nicht aber als gleichberechtigten Freund anerkennen. »Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.«

Haben wir so die Zarathustra aufsuchenden höheren Menschen als Typen erschaut, so gelüstet es uns kaum, darüber belehrt zu werden, wer zu einzelnen Zügen von ihnen Modell gestanden hat. Was liegt daran?! Ehe ihre gemeinsame Begrüßung in Zarathustras Höhle erfolgt, beschenkt uns Nietzsche wiederum mit einem unmittelbar aus der Musik erstandenen Wortgesange, einem Schlaflied, »Mittags« genannt. Wie sich in jenem Dithyrambus »Das andere Tanzlied« der Rhythmus der Bewegung in Worten entfaltet, so hier der Rhythmus allmählicher Beruhigung. »Scheue dich! Heißer Mittag schläft auf den Fluren. Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen.« Wiederum gilt es, Hörer zu sein, Hörer des Mittags und Hörer der Ewigkeit.

Als am späten Nachmittag Zarathustra zu seiner Höhle zurückkehrt, wo er seine Gäste versammelt findet, liest er von neuem ihre Seelen ab. Sie sind Verzweifelnde, aber sie haben erkannt: unsere Rettung liegt bei Zarathustra. So gelten sie ihm als Vorzeichen, daß Bessere, Höhere noch als sie kommen werden. Einer der Könige verkündet: Der letzte Rest Gottes unter den Menschen ist zu Dir unterwegs. Das ist: »alle die Menschen der großen Sehnsucht, des großen Ekels, des großen[158] Überdrusses. Alle, die nicht leben wollen, oder sie lernen wieder hoffen – oder sie lernen von Dir, o Zarathustra, die große Hoffnung«. Aber Zarathustra weiß, die Sehnsucht allein genügt nicht. Er wartet: »auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, Solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen«. Das erst sind Menschen, bei denen starker Wille und heitere Lebensbejahung sich vereinigen. »Was gäbe ich nicht hin, daß ich eins hätte: diese Kinder, diese lebendige Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!«

Das Fest des »Abendmahls«, das in Zarathustras Höhle gefeiert wird, ist kein Fest der Demut und der Ermüdung, sondern ein Fest des Stolzes und der Erhebung. Von den Schaffenden wird bei diesem Feste gesprochen, die alles Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit vergessen, die tanzen lernen und lachen lernen. »Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranzkrone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!«

Wohl wissen seine Gäste zu lachen. Aber ihr Lachen ist noch nicht sein Lachen. Es entstammt der Parodie und Verhöhnung. Auch als solches ist es ein Zeichen der Genesung und Befreiung, denn »nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man«. Und auch aus der Narrheit kann die Zufriedenheit mit dem Leben und der Wunsch aufsteigen, es noch einmal zu leben. Daher darf ihnen Zarathustra mit dem »trunkenen Lied« antworten, das sein Mitternachtslied »O Mensch! Gib acht!« tief und doch zugleich übermütig umschreibt.

Gleichwohl bleibt bei ihrem Behaben für Zarathustra die Überzeugung bestehen: das sind noch nicht meine rechten Gefährten. Sein Schritt am Morgen ist für sie noch kein Weckruf. Wohl aber begegnen ihm Zeichen,[159] welche ihn sprechen lassen; »meine Kinder sind nahe, meine Kinder«! Diese Hoffnung befreit ihn von den Gefahren der Versuchung durch Leid und Mitleiden, sowie von der Gefahr, um des eigenen Glückes willen auf sein Ziel zu verzichten. »Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!« Mit diesem Gedanken schließt der vierte »Zarathustra« und läßt uns noch einmal das Thema des ersten Satzes in der Erinnerung aufsteigen: das Motiv des schöpferischen Willens, aber noch nicht die Erfüllung selbst.

Die drei ersten Teile des Buches bilden ein in sich abgerundetes Werk; der vierte Teil ist, wie wir bereits erwähnten, der Anfang eines zweiten Buches, dem noch zwei Teile folgen sollten. Wie dachte sich Nietzsche diese Fortsetzung? Nur Mutmaßungen auf Grund vereinzelter Aufzeichnungen können uns auf diese Frage Antwort geben. Der Dichter plante ursprünglich die Einführung Panas, welche Zarathustra liebt und aus Mitleid den Dolch nach ihm zückt. »Im Augenblick wo sie den Dolch führt, versteht Zarathustra alles und stirbt am Schmerz über dieses Mitleiden.« Aber diesen Gedanken hat Nietzsche wohl fallen lassen; denn er kehrt in den späteren Dispositionen nicht wieder.

Indem wir uns streng an seine hinterlassenen Aufzeichnungen halten, wollen wir uns nunmehr ein Bild machen, wie sich Nietzsche wohl die Fortsetzung des »Zarathustra« dachte. Die Lehre der Ewigen Wiederkunft erweist sich zunächst als zerdrückend für die Edleren, ja scheinbar sogar als ein Mittel sie auszurotten, so daß gerade die geringeren, weniger empfindlichen Naturen übrigbleiben würden. Es erhebt sich daher der Gedanke: »Man muß diese Lehre unterdrücken und Zarathustra töten.« Zarathustra aber erwidert: Ihr kennt mich nicht. Ich gab euch diese schwerste Last, daß die Schwächlinge daran zugrunde gehen. – Sanftmut und Milde sind[160] Zeichen der noch nicht ihrer selbst sicheren Kraft. Mit der Genesung Zarathustras von seinen Versuchungen steht Cäsar da, unerbittlich gütig – zwischen Schöpfersinn, Güte und Weisheit ist nunmehr die Kluft vernichtet. Helle und Ruhe zeichnen Zarathustra aus. Keine übertriebene Sehnsucht beherrscht ihn, sondern er sieht sein Glück im recht angewendeten verewigten Augenblick. So erscheint er als der Typus, wie der Übermensch leben muß, nämlich: wie ein epikuräischer Gott. Die »dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens« bleibt an Stelle einer utopischen Erfüllung Ziel und Inhalt seiner Lehre. Aber die Züchtung der besseren Menschen verlangt schwere Opfer: Verlassen von Heimat, Familie, Vaterland. Ein unentwegbares Leben unter der Verachtung der herrschenden Sittlichkeit.

Große Menschen wollen sich hineingestalten in große Gemeinden. Man beachte diesen kulturell wichtigen kommunistischen Zug! Sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehen und zu gestalten. Wer die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch daß er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch. Von dieser Überzeugung erfüllt, ruft Zarathustra zum Ringkampf auf und zur Verwendung der Macht, welche die Menschheit präsentiert.

So ungefähr dachte sich Nietzsche nunmehr Zarathustra. Der vierte Teil hatte mit der Ankündigung geschlossen, daß seine Kinder zu ihm unterwegs sind, das heißt jene Menschen, die sich auf Grund seiner Lehre entwickelten. Er nimmt daher Abschied von seiner Höhle, Abschied für immer, und zieht ihnen mit seinen Tieren, also seinem Stolze, seiner Klugheit, seinem Mute, entgegen bis zur Stadt. Die Vereinigung mit ihnen bedeutet einen Siegeszug. Die Stadt heißt ihm die Peststadt. Die Bemerkung: »Ein Scheiterhaufen. Die alte[161] Kultur verbrannt«, läßt uns auf einen dramatisch lebensvollen Höhepunkt schließen. Ein Frühlingsfest sollte sich diesem Ereignis anschließen. Ein Frühlingsfest mit Chören. Zarathustra verlangt Rechenschaft. Er fragt: »Was tatet ihr?« Die Art der neuen Gemeinschaft kommt zur Darstellung. Neue Fragen werden von Zarathustra gestellt und von ihm selbst beantwortet. Sie betreffen die Wahl der Wohnorte, den Entschluß, Versuche zum besten der Kultur mit Verbrechern an Stelle von Bestrafungen anzustellen, die Erlösung des Weibes im Weibe, die Vermehrung der Maschinen, aber auch deren Umgestaltung ins Schöne, sowie die Einteilung des Tages. Die Unschuld des Werdens muß gewahrt bleiben, die Weihung auch des Kleinsten muß erfolgen, das Heraufbeschwören des Feindes wird nötig, damit der neue Adel und die neuen Könige, als Vorbild und Lehrer, sich bewähren.

Dem neuen Typus droht eine äußerste Gefahr, denn die »Guten« nehmen jetzt gegen den höheren Menschen, gegen die Ausnahmen Partei. Das Kleinwerden und Schämen der Mächtigen bleibt das drohende Verhängnis der aufwärtsstrebenden Menschheit. Bei dem Mangel, erhebende Menschen zu sehen, wird die Häßlichkeit, der Neid und die Kleinlichkeit des Plebejers, die moralische Tartüfferie zur Gefahr, daß alle hohen Naturen ersticken und die Weltregierung in die Hände der Mittelmäßigen fällt. Zarathustra reizt daher seine Jünger zur Erderoberung auf. Nicht die Mittelmäßigen sollen regieren, sondern zu Gesetzgebern der Zukunft sind nur solche berufen, die einen großen Tatbestand von Wertschätzungen neu feststellen und als Befehlende diese Wertschätzungen in Wirklichkeit verwandeln.

Zarathustra selbst bewährt sich als ein solcher Gesetzgeber. Die Stunde seines Sieges ist gekommen. Er fragt bei dem dionysischen Frühlingsfeste die ganze Masse – und führt dadurch die letzte Entscheidung herbei: Wollt[162] ihr das alles (Freud und Leid des Lebens) noch einmal?, und als alle mit Ja! antworten, da stirbt er vor Glück.

Ahnungsvoll, heiter, schauerlich wollte Nietzsche diesen entscheidenden Vorgang gestalten. Der Himmel heiter, tief. Tiefste Stille. Die Tiere um Zarathustra. Er hat sterbend das Haupt verhüllt, die Arme über die Felsplatte gebreitet. So scheint er zu schlafen. Furchtbare Stille tritt ein. Etwas Leuchtendes geht allen über ihre Gedanken hinweg.

Den Abschluß des Werkes bilden Worte der Gelobenden. Wir erfahren: der große Mittag ist zum Wendepunkt geworden. Die höchste Entfaltung des Individuums bedeutet die Überwältigung des »Menschen«, die Überbietung aller bisherigen Moral. Der Tod ist seiner Zufälligkeit entkleidet. Am Schaffen selbst stirbt der Schaffende, der Schöpfer aus Güte und Weisheit.

Wenn wir so – trotz großer Vorsicht vielleicht manches verfehlend – aus den andeutenden Aufzeichnungen auch nur vage Umrisse erhalten, wie ungefähr Nietzsche die beiden letzten Teile des »Zarathustra« zu gestalten dachte: so gewinnen wir damit doch eine Ahnung, daß das Werk damit bedeutsam zum Abschluß gekommen wäre. Im Jahre 1885 faßte Nietzsche jedoch, wie uns ein Vermerk in seinem Notizbuch besagt, endgültig den Entschluß, auf die Ausführung zu verzichten. »Ich will reden und nicht mehr Zarathustra.« Eine Vorstellung des Stiles, in dem die plastische Ausgestaltung der Schlußteile sich bewegen sollte, gibt uns wohl ein glücklicherweise erhaltenes Fragment.

Da es nur in die große Ausgabe seiner Werke aufgenommen wurde, in allen anderen Ausgaben aber fehlt, ist es wenig bekannt. Ich bringe es mit freundlicher Erlaubnis von Frau Förster-Nietzsche als Abschluß unserer Zarathustra-Betrachtung zum Abdruck, und zwar in der Fassung in der es erstmals in der Zeitschrift »Pan« veröffentlicht wurde.

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