20. Ein Abenteuer.

Eingeschlossen von den mächtigen Felswänden des Zugspitz liegt dort still und einsam der friedliche Eibsee zwischen grünen Abhängen und schroffen Felsblöcken aus der Tiefe hervor schimmernd. Sein Wasser ist reich an Fischen; aber nur gering sind die Zahl derer, welche hiervon Vortheil ziehen, denn der See gehörte seit Jahrhunderten den Besitzern jener wenigen Hütten, welche sich an dem Ufer angesiedelt haben. Es ist eine wilde, zigeunerhaft aussehende Klasse von Menschen, diese Fischer des Eibsees; schwarze Augen blitzen uns aus den dunklen schmutzigen Gesichtern entgegen, und wer mit ihnen verkehrt, der sei vorsichtig, sonst wird er betrogen und überlistet, sei es auch nur um einige Kreuzer.

Doch die eigenthümliche Schönheit des Sees lockte die Fremden von allen Seiten herbei, wie unbehaglich auch die Menschen sind, die seine Ufer bewachen. Auch wir besuchten den reizenden Winkel und freuten uns an der großartigen Einsamkeit und Schönheit seiner Lage. Ein starkes, schwarzäugiges Weib mit finsterem Gesicht fuhr uns auf dem Wasser umher, und nur die reichliche Spende, womit die Tante unsere Spazierfahrt bezahlte, konnte ihren grimmigen Zügen ein Lächeln abgewinnen. Der Abend war noch ziemlich fern, als wir den Rückweg nach dem Dorfe Greinau antraten, wo unser Wagen stand. Der Weg dorthin zog sich durch grüne Wiesen und Abhänge und machte zahllose malerische Biegungen, welche reichen Stoff für meine Zeichenmappe gaben; deshalb bat ich die Tante, mit den beiden anderen Damen unserer Begleitung immer voraus zu gehen, während ich zurück blieb, um einige flüchtige Skizzen der Gegend zu zeichnen. Die Tante zögerte, mich allein zurück zu lassen; doch die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel, der Weg war viel betreten, und so that sie mir endlich den Willen, hieß jedoch den kleinen Buben bei mir zu bleiben, der uns den Weg zeigte. Ich vertiefte mich bald völlig in meine Arbeit; die Bäume hingen so unbeschreiblich malerisch über kleine Felsvorsprünge, lichte Durchblicke lockten in die Ferne, dazwischen tauchte hin und wieder ein spitzer Kirchthurm empor oder das zierliche Dach einer Bauerhütte, ich konnte kein Ende finden, ein Punkt war immer noch schöner als der andere.

Endlich sah ich, daß der Himmel sich röthete; die hellen Wände des Zugspitz leuchteten auf, als wären sie von rothem Golde, die Sonne sank, und es war die höchste Zeit für mich, den Rückweg anzutreten, da die Tante mich gewiß ungeduldig erwartete. Ich suchte meine Sachen zusammen und bemerkte nun erst, wie zwei braune Männer, vom Eibsee herkommend, sich mir näherten. Sie trugen große Stöcke in den Händen, ihr Anzug war zerlumpt und zigeunerhaft, und an dem lichten Abendhimmel hoben sich ihre riesigen Gestalten drohend empor. Ich erschrak und blickte mich ängstlich nach ihnen um, denn mit bangem Herzen dachte ich gleich an allerlei schreckliche Dinge, Raubanfälle, Mißhandlung und wer weiß, was alles, dessen man die Bewohner des Eibsees für fähig erklärte. Der Abend war nahe, mit jeder Minute wurde es dunkler, und diese Männer kamen gerade auf mich zu.

Voll Unruhe rief ich nach dem Knaben, der bis vor Kurzem in meiner Nähe gespielt hatte; aber er war verschwunden, wer weiß ob er nicht gar mit den Männern im Einverständniß handelte. Eine namenlose Angst ergriff mich, ich lief auf dem Wege fort, der nach Greinau führte; aber das Dorf war noch fern und die Männer kamen immer näher. Schon hörte ich ihre Stimmen, sie schienen mir etwas zuzurufen und lachten dazwischen. Wieder blickte ich mich angstvoll nach ihnen um und, o Entsetzen, ich sah deutlich, wie der Eine den Knüttel hob und mir damit drohte. Nun wer es kein Zweifel mehr und meine Furcht nur zu begründet, sie hatten es auf mich abgesehen. Laut schreiend stürzte ich davon, Hügel auf und ab, nichts mehr denkend, als Rettung durch die Flucht. Ich fiel über Geröll und über Baumstümpfe, verlor meinen Schirm und mein Zeichenbuch; es war mir alles gleich, nur vorwärts, vorwärts, ehe mich die Entsetzlichen erreichten, die ich immer hinter mir wußte. Jetzt hörte ich ihre Stimmen so nahe neben mir, daß mir die Sinne fast vergingen vor Angst, und ich mich eben niederwerfen wollte, ihr Mitleid anzuflehen und ihnen alles zu geben, was ich bei mir trug. Aber wie wenig war das, sie würden mich sicher plündern und mißhandeln; Da, im letzten schrecklichen Augenblicke, sah ich eine Gestalt durch die Bäume schimmern. War es einer ihrer Spießgesellen? Heftig rief ich um Hülfe und stürzte vorwärts. Gott sei Dank, es war ein gut gekleideter Herr, ich war gerettet! Mit Todesangst flog ich zu dem Fremden, seinen Schutz anzuflehen, er mochte sein wer er wollte. Aber wer begreift mein Entzücken, als ich meinen Freund Dr. Hausmann vor mir sah! Mit ausgebreiteten Armen stürzte ich ihm entgegen, und ohne recht zu wissen, was ich that, sank ich an seine Brust.

»Retten Sie mich, um Gottes Willen!« rief ich außer mir, dann vergingen mir die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rasen, Dr. Hausmann kniete neben mir. Ich fühlte mich namenlos matt und konnte mich lange nicht besinnen, was geschehen sei. Endlich aber erinnerte ich mich plötzlich an alles, und angstvoll blickte ich um mich.

»Seien Sie außer Sorge, Fräulein Gretchen, es ist nichts mehr zu fürchten,« sprach Dr. Hausmann beruhigend. »Die Männer haben sich einen bösen Scherz mit Ihnen gemacht und Sie scheinbar verfolgt, da sie Ihre Furcht bemerkten. Jetzt sind Sie ganz sicher, denn ich bleibe bei Ihnen.«

Nun erst fiel mir ein, in welcher Weise ich in meiner Angst bei dem Freunde Schutz gesucht hatte. Dunkle Gluth bedeckte mein Gesicht, ich wagte nicht aufzublicken. Dr. Hausmann bemerkte meine Pein und suchte mich davon zu befreien.

»Und Sie wundern sich gar nicht, mich hier zu sehen?« sagte er heiter und setzte sich neben mich in das Gras. »Wußten Sie denn, daß ich Sie aufsuchte?«

»Ich? Nein, wie sollte ich davon wissen?« entgegnete ich, nach Fassung ringend. »Sind Sie denn allein, und wo erfuhren Sie unseren Aufenthalt? Ich wußte nicht, daß Sie auch diese Reise beabsichtigten.«

»Es ist auch ein ganz plötzlicher Entschluß, den ich aber jetzt doppelt segne, da ich Ihnen nützlich sein konnte, Fräulein Gretchen!« sagte Dr. Hausmann und blickte mir so herzlich in die Augen, daß mir wieder alles Blut in die Wangen schoß.

»Bitte, ich möchte zur Tante, sie wird sich um mich sorgen,« flüsterte ich ängstlich und versuchte aufzustehen. Die Knie zitterten mir noch heftig, und so mußte ich mich auf den Arm meines Freundes stützen, so peinlich es mir auch war. Dieser aber plauderte munter fort und erzählte, daß Eduard ihn begleite, den ich bei der Tante in Greinau finden werde, wohin sie Beide geeilt, als sie bei ihrer Ankunft in Parthenkirchen erfahren, wo wir seien.

Das Gehen that mir gut, bald bedurfte ich des Führers nicht mehr, meine Kräfte fanden sich schnell wieder. Ich erzählte nun das Nähere meines Abenteuers und suchte meine Angst zu rechtfertigen. Mit zarter Schonung ging Dr. Hausmann darauf ein, um mir zu zeigen, wie natürlich er meine Bewegung gefunden. Gegen die Tante und Eduard, welche meine Angst übertrieben fanden und mich als ein Hasenherz etwas verhöhnten, vertheidigte er mich dann so entschieden, daß ich ihm aufrichtig dankte, besonders da er über die Art unseres Begegnens sehr leicht fort ging. Sonderbar, sonst beichtete ich meiner guten Tante Ulrike alles, was ich Thörichtes gethan; aber mein Zusammtreffen mit Dr. Hausmann konnte ich ihr unmöglich genau so beschreiben, wie es sich zugetragen, die Worte wollten absolut nicht über meine Lippen. Aber wozu auch? Dr. Hausmann schien gar nicht mehr daran zu denken, so fein und zurückhaltend benahm er sich gegen mich, und das ganze Ereigniß erschien mir endlich selbst wie ein wunderlicher Traum.

In der Gesellschaft unserer neuen Reisegefährten verbrachten wir einige sehr angenehme Wochen und durchstreiften die schönen Berge nach allen Richtungen. Auch Eugeniens Vater kam, wie er versprochen, bald zu uns, und mit ihm reisten wir endlich nach Bayerns schöner Residenz, dem interessanten München. Wie staunte ich über alle die unzähligen Kunstschätze, welche großentheils durch den kunstsinnigen König Ludwig hier geschaffen und aufgesammelt wurden. Zwei Wochen blieben wir in München, und so hatten wir reichlich Muße, uns alles genau zu betrachten: die beiden Pynakotheken, die Glyptothek, Schlösser, Kirchen und was es sonst an Sehenswürdigkeiten gab. Das Allermerkwürdigste blieb mir aber immer die erzene Riesenjungfrau Bavaria auf der Theresienwiese, in deren Kopfe wir so behaglich umherwanderten, als sei es ein Thurmstübchen, und deren Augen die prächtigsten Fensterchen bildeten, durch die wir auf München und die ganze weite Ebene schauten und weiter hinaus, wo die blauen Alpen uns freundliche Abschiedsblicke zuwarfen.

Unseren Heimweg nahmen wir durch Böhmen, um in Teplitz Eugenien und den Baron zu besuchen, von denen Herr von Jagow uns die besten Nachrichten gebracht hatte. Das Bad war dem Baron anfangs zwar nicht gut bekommen, und Eugenie hatte wahrscheinlich all ihre Heiterkeit in Bewegung setzen müssen, um den Leidenden zu zerstreuen, wenigstens konnte der dankbare Gatte uns später davon nicht genug Gutes und Liebes erzählen. Jetzt nach Beendigung der Kur jedoch ging es dem Baron vortrefflich, und die Steifigkeit seines Fußes verringerte sich von Tag zu Tage, so daß wir mit den freudigsten Hoffnungen für völlige Genesung abreisten, und der Herbst uns endlich Alle wieder in dem traulichen Wohnstübchen Tante Ulrike's versammelt sah. Wie schön auch die Reise gewesen, und wie viel Herrliches ich gesehen, hier bei der besten Tante in meiner zweiten Heimath war es doch am allerschönsten, das fühlte ich mit innigem Behagen, als die lieben Räume mich wieder so still und heimlich umgaben.

Aber mit mächtigen Schritten nahte jetzt die Zeit, in welcher ich diesen Räumen Lebewohl sagen sollte. »Für ein Jahr nehme ich dein Gretchen mit mir,« hatte Tante Ulrike zu Papa gesagt, als sie an jenem unvergeßlichen Tage mit mir von Schreibersdorf abreiste, und das zaghafte Kind sich zum ersten Male vom Elternhause trennte. O damals glaubte ich es nimmer aushalten zu können, eine solche Trennung nimmer zu ertragen. Ein Jahr! Welche Ewigkeit für mich, die bis dahin nicht einen Tag von Eltern und Geschwistern getrennt war! Zwölf lange, lange Monate! Und jetzt war mehr als ein Jahr seit jenem Tage vergangen, nicht nur zwölf Monate, sondern noch fünf außerdem, und ich lebte noch, die Trennung hatte mich nicht krank gemacht, mich nicht verzehrt und abgehärmt, wie ich einst glaubte. Nein, im Gegentheil, ich blühte frisch und kräftig in gesunder Jugendfülle, war stärker und vollständiger in der Erscheinung geworden, wenn mein Spiegel mir die Wahrheit sagte, und in der großen Stadt, in dem neuen Kreise, wohin die Tante mich geführt, und vor dem mein ängstlich Herz erzittert hatte, da fühlte ich mich jetzt mit tausend Fäden festgewachsen. So unsäglich ich mich auf die liebe theure Heimath, auf Eltern und Geschwister freute, so überkam mich doch eine grenzenlose Traurigkeit, dachte ich an die Trennung von all' den Lieben in Berlin. Die Tante mit ihrer unaussprechlichen Güte und Milde, ihrer feinen Bildung und ihrem steten Wohlwollen für mich, der ich so namenlos viel dankte, Eugenie, an die mich die herzlichste Schwesterliebe kettete, Marie, die treueste Freundin für das Leben, der Baron, Dr. Hausmann, Eduard, ach und so viele, viele, die mir lieb und theuer geworden, sie Alle ließ ich hier zurück, ich konnte den Gedanken kaum fassen. Und doch, es war nicht anders! Der Tag der Abreise kam wirklich heran und überschüttet von tausend Liebesbeweisen schied ich von allen meinen Lieben. Eugenie und der Baron gaben das Versprechen, mich im Elternhause bald zu besuchen, auch die Tante tröstete mich mit dieser Aussicht, und besonders entzückte mich der Gedanke, meine liebe Marie, wie ich dringend gebeten, bald nach meiner Heimkehr für längere Zeit im Hause meiner Eltern zu sehen.

So schied ich denn leichteren Herzens von der lieben Stätte, wo mir so viel Gutes geworden. Ein reich beschriebenes schönes Blatt hatte der gütige Gott mir in das Buch meines Lebens gefügt, ich konnte Ihm nie innig genug dafür danken!

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