5. Mittagessen.

Wie schon beim Frühstück so gab es natürlich auch beim Mittagessen gar viele Dinge, welche ich nicht nach den Regeln des Anstandes verrichtete; denn zu Haus nahm die lärmende kleine Kindergesellschaft alle Aufmerksamkeit der Eltern in Anspruch, und Erhaltung der Ruhe war das erste und einzige Erforderniß bei Tisch, alles Uebrige blieb so ziemlich dem eigenen Gutdünken überlassen.

Die Mittagsmahlzeiten im Hause der Tante vergingen in der Regel ziemlich gleichförmig, dabei aber gemüthlich und heiter, denn die Tante würzte das Mahl durch angenehme Unterhaltung, in welcher ihre Ermahnungen zur Wohlanständigkeit wie große Ausrufungszeichen die gleichmäßige Rede unterbrachen.

»Bediene dich doch deiner Serviette, liebes Kind,« lautete z. B. eins der Gebote in meinem Anstandskatechismus. »Mit der Hand wischt man sich das Gesicht wohl nur da ab, wo keine Servietten wachsen.«

Das war auf deutsch bei den Bauern, ich verstand das wohl, und griff hastig nach dem bis jetzt so arg vernachlässigten Wesen.

»Sieh mal, was du für ein kleiner Gourmand bist!« sagte Tante Ulrike dann wieder neckend. »Schlürfst deine Suppe mit einer Kennermiene, gerade wie ein Feinschmecker seinen Wein. Gewiß willst du heraus schmecken, wie viel Pfund Rindfleisch diese Kraftbrühe hervorbrachten. Auch hast du es dir dabei recht bequem gemacht; essen bei euch die Ellbogen auch mit?«

»O der Thorweg ist zu klein für das mächtige Fuder Heu,« lachte sie ein andermal, wenn ich so große Bissen zum Munde führte, daß ich Mühe hatte, derselben Herr zu werden. Als ich nun gar mit diesem Vorrath zwischen den Zähnen sprechen wollte, legte die Tante energischen Widerspruch ein, denn: »mit vollem Munde redet man nicht.« Ebenso durfte ich weder die Finger auf den Teller, noch das Messer in den Mund führen, worin ich ebenso regellos handelte wie mit der Placirung von Kartoffelschalen und Knochen, die es nie merken wollten, daß ihr Platz nicht auf dem Tischtuche war, sondern auf dem Tellerrande.

»Du könntest dem armen Phylax wohl auch ein Fäserchen Fleisch gönnen, liebe Grete, und nicht selbst die Knochen so gründlich abnagen,« hieß es dann wieder, wenn ich mit jugendlichem Appetit Hühnchen oder Tauben verzehrte und dabei unbarmherzig alle Knochen zerbiß und benagte.

»In den Knochen sitzt das beste Mark, sagt Papa immer,« erwiderte ich eifrig. Als ich jedoch eines Tages mit meinen fettglänzenden Fingern in der Welt umher fuhr, indem ich ein zierliches Hühnerkeulchen zum Munde führte, sagte die Tante lächelnd:

»Mein lieber Schatz, morgen sind wir bei Dunkers zu Tisch, wie du weißt. Sei so gut und nimm dann kein junges Huhn zwischen die Finger; hier bei mir will ich es dir nicht wehren, eigentlich aber löst man das Fleisch mit Messer und Gabel vom Knochen, es schickt sich nicht anders.«

»Ja wohl, liebe Tante,« erwiderte ich überrascht, denn Geflügel hatte ich bisher immer nur mit Hülfe der Finger verzehrt.

Es war das erste Mal, daß ich mit der Tante zu einem Diner ausging, und mir klopfte das Herz, denn ich armer Neuling fürchtete überall, mich zu blamiren. Zum Glück setzte sich Marie neben mich, und so war ich denn im Falle der Noth gedeckt. Mein andrer Nachbar war ein dicker freundlicher Herr, der mir aussah, als bestehe sein größtes Vergnügen in Essen und Trinken. Das war denn allerdings auch wohl der Fall; aber das Behagen, mit dem er nun schlürfte und schmatzte, die unaussprechlich unappetitliche Art und Weise, wie er eben so viel neben seine breiten Lippen als zwischen dieselben führte, und endlich das Schnaufen, das diese gewichtige Arbeit dem dicken Herrn entlockte, verdarben mir selbst alle Eßlust. Ich dachte so recht an die Worte, welche Tante Ulrike mir noch gestern sagte, wie unangenehm es sei, einen Tischnachbar mit schlechten Angewohnheiten zu haben. Heut lernte ich dies Ungemach aus dem Grunde kennen. Freilich waren dergleichen Untugenden einem alten Herrn eher zu verzeihen, als einem jungen Mädchen, das litt keinen Zweifel, und ich begriff nun erst völlig, wie sehr ich selbst auf gute Manieren zu achten habe, um nicht auch Aergerniß zu erregen.

Nach der Suppe wurde ein wunderliches Gericht herum gegeben, das ich noch nie gegessen hatte: es war eine schwärzliche Masse, und seiner körnigen Gestalt nach hielt ich es für eingemachte Beeren. Da ich hiervon eine große Freundin war, und der alte Herr neben mir auch wacker zulangte, so nahm ich mir eine gute Portion auf den Teller und fing an zu schmausen.

Aber wie erschrak ich, als ein salzig schleimiger Geschmack statt des erwarteten süßen meine Zunge berührte! Ich war nicht im Stande, einen zweiten Bissen davon zu verzehren, und betrachtete verwundert meinen Nachbar, der die schwarzen Körner auf geröstete Semmelscheiben strich, sie dann mit Citronensaft beträufelte, und das Ganze alsbald mit größtem Behagen verzehrte.

Eben wollte ich Marie fragen, was das eigentlich für ein Produkt der Kochkunst sei, da wandte der alte Herr sich käuend zu mir, und mit den dicken glänzenden Lippen schmunzelnd sagte er, indem er auf meinen Teller zeigte: »Delicater Caviar! Auch Liebhaberin davon, meine Gnädige?«

Also Caviar war das. Ja, dem Namen nach kannte ich diese edle Gottesgabe wohl, in Person aber hatte sich nie ein Körnchen davon bis zu unserm Dorfe verirrt und war mir deshalb völlig unbekannt.

»O nein, ich ... ich war zerstreut, als ich mir davon nahm,« stotterte ich dunkelroth vor Verlegenheit, meine Unwissenheit thörichter Weise hinter einer Lüge verbergend.

»O, nicht möglich! Versuchen Sie nur einmal, ganz delicat, ich kann es versichern, und ich ... ich verstehe mich etwas darauf, was gut schmeckt,« versicherte der Dicke eifrig, und obwohl ich durchaus von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt war, so lehnte ich die Aufforderung dennoch dankend ab und sah mit großem Ergötzen, welche sehnsüchtigen Blicke mein Nachbar der von mir verschmähten Leckerei zuwarf, wovon der Diener mich endlich befreite.

Einige folgende Gerichte gingen ohne weitere Verlegenheiten vorüber, nur als ich Marien um Salz bat, und ich bei Ueberreichung desselben, wie ich gewohnt war, mit den Fingern in das Salzfaß greifen wollte, fuhr Marie erschrocken zurück und sagte leise: »Mit dem Messer, Gretchen!«

Ich folgte beschämt ihrer Weisung, obwohl ich wirklich sehr verwundert war; denn bis jetzt hatte ich mich immer meiner fünfzackigen Fingergabel zu diesem Geschäfte bedient.

Nun kam der Braten auf den Tisch, wirklich junge Hühner, wie Tante Ulrike gedacht, und ich erinnerte mich zum Glück der ertheilten Ermahnung und versuchte, das Fleisch mit Messer und Gabel abzulösen, statt wie sonst die zarten Knochen mit meinen Zähnen zu bearbeiten. Aber das war ein recht undankbares Geschäft, das Beste blieb dabei an den Knochen sitzen, und mit wahrem Bedauern trennte ich mich von diesen Resten. Die eingemachten Früchte, welche als Compot zu dem Braten gegeben wurden, täuschten mich jetzt nicht wieder, sie waren süß und lecker, wie ich es liebte, und nicht unangenehm salzig wie jener Caviar. Mit einem Behagen, das beinah dem meines eßlustigen Nachbars gleich kam, verzehrte ich diese süßen Erdbeeren, Kirschen und Pflaumen, und freute mich kindisch auf den Genuß der dicken Zuckersauce, in welcher die Früchte auf meinem Glasteller umher schwammen. Da ich diesen Zuckersaft jedoch nicht mit der Gabel verzehren konnte, ein Löffel aber nicht in meinem Bereiche lag, so erhob ich eben den kleinen Teller zu meinen Lippen, um, wie ich zu Haus so oft gethan, die Sauce davon zu schlürfen. Schon schwebte der Teller in der Luft meinem Munde entgegen, da fühlte ich mich plötzlich am Arme erfaßt, und mit einem schnellen Ruck stand der Teller wieder an seinem Platze.

»Um Himmels willen, Grete, bist du nicht klug?« raunte Marie mir dabei in das Ohr. »Die Sauce läßt man auf dem Teller.«

»Auf dem Teller?« rief ich ungläubig und sah mich nach Marie um, welche noch immer meinen Arm festhielt, in der Furcht, ich könnte die Comödie noch einmal aufführen wollen. »Die schöne Zuckersauce ist mir ja das Liebste am Eingemachten, die werde ich doch nicht zurück lassen?«

»Zu Haus thu' was du willst, in Gesellschaft geht es aber nicht anders, ich bitte dich, folge mir, Grete!« flüsterte Marie schnell, denn eben wurde sie von ihrem Nachbar in Anspruch genommen und konnte sich um mich nicht mehr bekümmern. Da saß ich denn nun betrübt meiner schönen Fruchtsauce gegenüber, die ich nicht essen durfte, und ärgerte mich recht aus Herzensgrunde über die sonderbaren Gesetze des Anstandes, welche mir erst geboten, das Fleisch an den Knochen sitzen zu lassen und jetzt gar das Beste vom ganzen Diner aufzuopfern.

»Was würde Mama zu dieser Verschwendung sagen,« dachte ich ärgerlich, wurde da aber gewaltsam aus meinem Sinnen gerissen, indem ich erschrocken vom Stuhle auffuhr und um mich blickte, wer denn geschossen habe. Mein alter Nachbar lachte herzlich über meinen Schreck, und bald sah ich, daß nur ein Champagnerpfropfen geknallt hatte, aber auch das hatte ich bis jetzt so selten gehört, daß mir dieser Ton sehr neu war. Und nun gar das Getränk selbst! Ich hatte es kaum einmal zu Haus gekostet, wenn Kindtaufen waren, nun stand ein hohes volles Glas davon vor mir, und lustig tanzten zahllose kleine Perlen aus der Spitze desselben empor.

Der Geschmack dieses Weines behagte mir aber ganz außerordentlich. Dieses Prickeln auf der Zunge, dieses Feuer, diese Süßigkeit, ohne weichlich zu sein, alles trug dazu bei, den Wohlgeschmack zu erhöhen, und jetzt ließ ich sogar mein Glas Ananaskardinal stehen, der mir so gut geschmeckt hatte, und trank lieber diesen köstlichen Champagner. Mein dicker Nachbar verstand es freilich noch besser als ich, aber er ergötzte sich so sehr an dem Wohlgefallen, das ich an dem Weine hatte, daß er mir ein Glas nach dem andern einschenkte. Bald glühten meine Backen, und es flimmerte mir vor den Augen; aber ich achtete nicht sehr darauf, bis ich endlich mit einem Male so verwirrt umher blickte, daß Marie mich ängstlich ansah und sagte:

»Bist du unwohl, Gretchen? Oder was ist dir?«

»Ich bin so confus, es dreht sich ja Alles,« rief ich leise und griff nach Marie's Hand, um mich an ihr festzuhalten.

»Hast du Champagner getrunken? Er ist sehr stark, nimm dich in Acht!« sagte Marie.

»Ja, drei oder vier Gläser. Herr von Martini hat mir immerfort eingegossen,« flüsterte ich und hielt mir die Augen zu, um mich zu fassen, denn mir war wunderlich zu Muthe.

»Aber wie kannst du auch? Cardinal hattest du ja auch schon getrunken,« schalt Marie und goß mir ein großes Glas Wasser ein, das ich hastig hinunter stürzte. Wirklich wurde ich davon auch klarer und freier und hütete mich nun wohl, noch einen Tropfen von jenem bösen, verführerisch leckern Weine zu genießen, so sehr mich auch mein Nachbar nöthigte und neckte. Er selbst konnte, wie mir schien, Ungeheures vertragen, ohne davon Schwindel zu bekommen, wie ich armer Neuling, denn sein Glas war stets auf der Wanderung begriffen vom Tische zu seinen Lippen und wieder zurück. Ich war herzlich froh, als man endlich vom Tische aufstand, um nach dem Garten zu gehen, wo der Kaffee eingenommen wurde. Die frische Luft brachte meine verwirrten Lebensgeister bald wieder in Ruhe und Klarheit, und an einer Erfahrung reicher wandelte ich mit Marie heiter im Garten umher. Unserer lieben Tante Ulrike, welche sich bald zu uns gesellte, beichtete ich dann ehrlich alle meine klugen Streiche, mit denen ich auf diesem meinem ersten Diner debütirte, und die mir unvergeßlich geblieben sind.

Share on Twitter Share on Facebook