7. In Gesellschaft.

Der lebhafte Verkehr, den Tante Ulrike mit allen ihren Bekannten unterhielt, und die häufigen Gesellschaften, in welche sie nun auch mich mit einführte, verursachten mir anfangs große Angst und gaben Anlaß zu gar mancher Rüge von meiner lieben Tante Anstand.

Unvergeßlich ist mir vor Allem ein Abend geblieben, der so reich an Ereignissen für mich war, daß ich davon erzählen muß, da er in seinen Folgen tief in mein Leben eingriff, ohne daß ich es damals ahnen konnte.

Wir waren in einer glänzenden Abendgesellschaft bei Präsident Römers. Ich stand, wie gewöhnlich, neben meiner Freundin Marie, die mir hier wie überall ein Retter in der Noth war, denn ich kannte in der zahlreichen Gesellschaft fast keine Seele weiter. Ziemlich gelangweilt blickte ich im Saale umher und musterte die elegante Menge. Plötzlich aber blickte ich freudig auf. »Ach Marie, sieh doch, da ist der Dr. Hausmann aus F., der hat Papa kürzlich besucht,« rief ich hoch erfreut und zeigte mit dem Finger nach einem großen blonden Herrn, der mitten unter andern Gästen stand. »Den muß ich begrüßen! Wie wird er sich wundern, mich hier zu sehen!«

Schnell wollte ich von Marie's Seite fort und zu Dr. Hausmann hinüber, als ich meiner Freundin Hand fest auf meinem Arme fühlte.

»Halt, Gretchen!« rief sie leise, mich zurück ziehend. »Erstens zeige um Himmels Willen nicht mit den Fingern nach jemand, das ist schrecklich unanständig, und dann muß ich dir sagen, es geht doch wirklich nicht an, daß du den Dr. Hausmann jetzt anredest, wo er mitten unter den andern Herren steht, du müßtest dich ja mit Gewalt zwischen diesen hindurch drängen, um zu ihm zu gelangen.«

»Ach das ist wahr, daran hatte ich gar nicht gedacht!« sagte ich betreten.

»Ueberhaupt,« fuhr Marie fort, »kennst du denn den Herrn so genau, daß du ihn zuerst begrüßen willst? Er ist wohl ein guter Freund eures Hauses?«

»Nein, ich habe ihn nur ein einziges Mal bei uns gesehen, er kam in Geschäften zu Papa und blieb den Nachmittag bei uns,« erwiderte ich etwas befangen. »Aber da ich die Leute hier so wenig kenne, so freue ich mich darauf, mit ihm von Schreibersdorf zu sprechen; das bringt ihn mir viel näher, als all' die andern Herren, die weder meinen Papa noch irgend jemand von zu Haus kennen.«

»Weißt du was, Gretchen, wenn du ihn nicht näher kennst, so warte, bis er dich begrüßt,« sagte Marie. »Dann schickt es sich wirklich nicht anders. Denn wenn er dir auch dadurch interessant wird, daß er die Deinen kennt, so bist du es ihm doch vielleicht viel weniger, sonst hätte er dich wohl schon angesprochen.«

Wie immer, mußte ich auch hier meiner weisen Marie Recht geben; doch verdroß es mich gewaltig, daß ich für den jungen Herrn, der mich so lebhaft interessirte, gar nicht zu existiren schien. Aber lange sollte mein Zorn nicht anhalten; denn bald bemerkte ich, wie sich der Herrnknäuel entwirrte, und mein blonder Herr Doctor juris rasch auf mich zugeschritten kam.

»Fräulein Geßler, finde ich Sie hier? Welche Ueberraschung!« rief er freudig. »Ich sehe Sie erst in diesem Augenblicke, sonst hätte ich mich beeilt, Sie früher zu begrüßen. Wie geht es Ihnen denn?«

Dacht' ichs doch! Er freute sich auch, mich hier unter all' den fremden Leuten zu sehen, und hatte es mir nur nicht früher sagen können, da er mich jetzt erst bemerkte. Das war mir gar zu angenehm, und fröhlich schwatzte ich nun mit meinem »lieben Freunde«, wie Marie ihn neckend nannte, von allen meinen Lieben zu Hause, und Dr. Hausmann schien sich so für Alles zu interessiren, was ich ihm vorplauderte, daß ich meine Umgebung völlig vergaß und ihm mit unbeschreiblichem Vergnügen und offenem Herzen gleich von allen möglichen Dingen erzählte. Nachdem wir lange Zeit mit einander geschwatzt hatten, sah ich Tante Ulrikens feine Gestalt in meiner Nähe, und mir schien, sie blickte sehr prüfend und überrascht zu ihrem Backfischchen hinüber. Da fiel mir ein, daß es ihr auch Freude machen würde, den Dr. Hausmann kennen zu lernen, und so stand ich rasch auf und sagte, ich wollte meine Tante herbei rufen. Der Doctor folgte mir aber auf dem Fuße und bat, ihn doch lieber zu der Tante hinzuführen, damit er sich ihr vorstelle. Dabei lächelte er so eigen, daß ich fühlte, ich hatte da gewiß wieder etwas Dummes gemacht, und mit Purpur übergossen eilte ich ihm voran, hin zu Tante Ulrike, der ich meinen Bekannten mit einigen Worten präsentirte.

Die Tante begrüßte den Doctor zwar in ihrer freundlichen Weise, wie sie eben gegen alle Menschen so engelsgut war, aber meinen Gefühlen genügte dieser Empfang bei weitem nicht und erschien mir gar zu kühl und zurückhaltend. Hatte ich ja doch schon von so Vielem mit ihm gesprochen, was meinem Herzen nahe stand, von meinen Eltern und Geschwistern, meinem lieben Vaterhause mit all' seinen gemüthlichen Einwohnern und Räumen, und von unserm traulichen, freundlichen Dorfe, das mitten in Wald und Wiese lag, wie eine Perle in der Muschel. Das Alles hatte ihn mir so nahe gebracht, mir die Zunge gelöst und das Herz auf die Lippen geführt, und nun behandelte ihn die Tante zwar freundlich, aber doch gerade ebenso fremd als jeden andern jungen Herrn, der ihr vorgestellt wurde. Das war recht unangenehm!

Aber wie groß war mein Erstaunen, als der Doctor sich entfernt hatte, und die Tante sich nun mit nicht gar zu freundlichem Gesicht zu mir wandte.

»Du warst ja recht vertraut mit dem jungen Herrn,« sagte sie, mich mit sich in eine Fensternische ziehend, wo wir wenig beobachtet werden konnten. »Ist denn der Dr. Hausmann ein so naher Freund eures Hauses? Davon wußte ich gar nichts.«

»Nein, Tantchen, sehr befreundet ist er meinen Eltern nicht,« erwiderte ich, etwas ängstlich geworden. »Ich freute mich aber sehr, ihn hier zu sehen, wo mir so viele Personen unbekannt sind.«

»Und in deiner Freude hast du ganz vergessen, was sich für ein junges Mädchen schickt, mein Töchterchen,« sagte die Tante sanft.

»Ich, Tantchen?« rief ich wahrhaft erschrocken, denn davon hatte ich keine Ahnung.

»Ja du, mein Herz! In deiner Lebendigkeit hast du nicht beachtet, wie viele verwunderte Blicke zu dir hinflogen, während du dich mit dem jungen Mann so laut unterhieltest, daß die ganze Umgebung an eurem Gespräche Antheil haben konnte. Dann lachtest du dazwischen auch so laut, wobei du den Mund recht unschön aufsperrtest und dich auf dem Stuhle weit hintenüber legtest, daß mir angst und bange wurde. Das Schlimmste aber war, daß du mit dem jungen Herrn sogar leise tuscheltest, als wäret ihr die intimsten Freunde. Was in aller Welt fällt dir ein, Kind? Du bist doch sonst so schüchtern und ängstlich, heute aber kenne ich dich gar nicht wieder.«

»Ach, Tantchen, ich erzählte ihm einige meiner dummen Streiche, und das sollte doch niemand weiter hören; aber ich sah wohl, daß einige Gäste unserm Gespräche lauschten,« sagte ich ganz außer mir vor Schrecken.

»Also dergleichen hast du schon mit ihm gesprochen? Das ist ja viel Vertrauen, das du diesem Herrn schenkst. Kennst du ihn denn so genau, daß du weißt, er verspottet nicht etwa im Herzen deine Vertraulichkeit?«

»Nein, Tantchen, das würde ich nie von ihm glauben!« rief ich erglühend. »Er hat sich ja so für Alles interessirt, was ich ihm von meiner Familie und meiner Heimath erzählte, und das würde er gewiß nicht gethan haben, wenn er so schlecht wäre.«

»Nun natürlich erschien dir das so, Kind, denn er konnte doch nicht so unartig sein, fortzulaufen, wenn eine junge Dame ihm so vertrauliche Herzensergüsse macht,« sagte die Tante lächelnd.

»Aber Tantchen!« jammerte ich dem Weinen nahe.

»Ich kann dir nicht helfen, du mußt diese kleine Strafpredigt hinnehmen, damit du vorsichtiger wirst,« fuhr die unerbittliche Tante fort. »Wer weiß, ob dein Freund nicht jetzt gerade dabei ist, einem andern jungen Herrn zu erzählen, welch' thörichtes Backfischchen dieses junge Fräulein Geßler ist, und ob diese Beiden sich dann nicht auf deine Kosten recht herzlich lustig machen.«

»Tantchen, um Alles in der Welt sprich nicht so!« flehte ich trostlos, indem dicke Thränen der Angst und Verzweiflung über mein Gesicht rollten.

»Nun wir wollen das Beste hoffen, Kind, tröste dich nur,« sagte die Tante, mir das Haar aus meinem glühenden Gesicht streichend. »Aber warnen mußte ich dich, damit du vorsichtiger und besonnener wirst, und deinen Gefühlen nicht noch freieren Lauf läßt. Jetzt nimm dich zusammen, mache durch gehaltenes, nettes Betragen wieder gut, was du in den Augen so Mancher versehen, und vor Allem, zeige ein ruhiges, freundliches Gesicht; denn es ist nie rathsam, die Gesichtszüge Verräther der Gefühle und Herzensbewegungen werden zu lassen, in Gesellschaft aber am wenigsten. Sieh, da kommt deine gute Marie, sie wird dich besser trösten können, als ich es im Stande bin.«

Während Marie zu uns trat, ging die Tante einer alten Dame entgegen, und überließ es uns, nach Belieben unsere Herzen gegenseitig zu öffnen. Die stille Fensternische verbarg denn auch noch für eine Weile all' meinen Jammer, den ich in das Herz meiner guten Marie ausschüttete, und von ihr erhielt ich allerdings auch reichlich Trost und Beruhigung für alle Thorheiten, die ich begangen.

»Aufgefallen ist dein Betragen freilich, das kann ich nicht leugnen,« sagte Marie nach meinen Bekenntnissen, »und ich hätte dich gar zu gern aufmerksam gemacht, daß du lange genug mit dem Dr. Hausmann gesprochen habest. Du schienst mich aber über deinem Gespräche ganz zu vergessen, so nah ich dich auch umschwärmte, und unaufgefordert konnte ich mich in eure Unterhaltung nicht mischen, da ich deinen Freund nicht kannte.«

»Ach nenne ihn nur nicht so!« bat ich kleinlaut. »Wer weiß, ob er dieses Namens nicht vielleicht völlig unwürdig ist und meiner spottet.«

»Nein, das glaube ich nicht,« sagte Marie ernst. »In seinem Gesicht spricht sich viel Ernst und Milde aus, und wenn er vielleicht auch ein klein wenig im Herzen über das junge Backfischchen lächelt, das sich noch nicht recht zu benehmen weiß, so wird er dich doch sicher nie verspotten, sondern dein Zutrauen zu ehren wissen.«

»Glaubst du das wirklich, Marie?« rief ich voll Entzücken, »Ach die Tante hatte mir gar zu bange gemacht!«

»Ich müßte mich in seinem Gesicht völlig irren, wenn es anders wäre,« sagte Marie sinnend.

»Aber alle die Menschen hier, wie schrecklich habe ich mich vor denen blamirt! Ich wage gar nicht aus meiner Ecke heraus zu kriechen,« seufzte ich weiter.

»Auch damit ist es nicht so schlimm, als du denkst,« tröstete Marie. »Das Schlimmste, was ich in deiner Umgebung vorhin hörte, war, daß man lachte und dich für sehr jung erklärte, und sehr kindlich und unbefangen, und das ist am Ende Alles zusammen kein großer Fehler. Uebrigens wird man jetzt nach so langer Zeit die Geschichte vergessen haben; komm nur getrost wieder an das Lampenlicht, denn länger dürfen wir hier jetzt nicht mehr stehen. Sieh, da kommt Fräulein Meynfeld, sie ist stets sehr freundlich zu mir, und ich habe sie noch nicht begrüßt. Adieu, auf Wiedersehn! Sei guten Muthes, mein Rosenknöspchen, und mache kein solch armes Sündergesicht mehr!«

Dabei nickte mir Marie's blondes Köpfchen fröhlich zu, und bald sah ich meinen blauen Himmel an der Seite Fräulein Meynfelds, eines ältlichen, angenehmen Fräuleins, dahin schweben.

Zaghaft mischte ich mich wieder unter die übrigen Gäste, und setzte mich still etwas seitwärts in einem Zimmer neben dem Salon nieder, in welchem man eben anfing zu musiciren. Die Diener reichten Eis herum, was ich sehr liebte, und so vertrieb ich mir die Zeit eine Weile recht gut ganz allein, indem ich bald der Musik lauschte, bald mein Eis langsam auf der Zunge schmelzen ließ, so daß es mein heißes Blut angenehm kühlte. Dabei beobachtete ich meine Umgebung, ob ich nicht auch vielleicht etwas bemerkte, was nicht ganz nach den Regeln des Anstandes sein möchte, damit ich doch nicht allein solch armer Sünder war. Aber nein, ringsum war alles gehalten, ernst, anständig; man unterhielt sich wohl, aber wegen der Musik nur leise, machte sich zierliche, wohlanständige Verbeugungen, und saß und stand überall so gerade, so sittig und passend, daß ich mich seufzend abwandte.

Da fiel mein Blick auf einen Herrn, der dicht neben mir stand. Er schien mir nicht mehr ganz jung zu sein und sah auffallend ängstlich und befangen aus; auch war er augenscheinlich ganz unbekannt in dem Kreise und verstand so wenig, seine Schüchternheit zu verbergen, daß ich herzliche Sympathie mit diesem Einsamen fühlte.

Die Musik schwieg endlich, die Gesellschaft schwirrte wieder lebhafter durch einander, nur mein Fremdling verharrte in seiner Verlassenheit. Auch ich blieb ruhig auf meinem Stuhle sitzen, denn ich war verstimmt und konnte meiner Laune nicht Herr werden.

Endlich aber erhob ich mich, um meinen Teller fortzusetzen und sah dabei, das auch mein Einsamer seinen Teller noch in der Hand hielt und sich augenscheinlich dadurch in großer Verlegenheit befand, da er nicht wußte, was damit anfangen.

»Ach,« dachte ich, »du armer Schelm bist doch noch ungelenker, als ich kleiner Backfisch,« und da ich dicht an ihm vorbei gehen mußte, so griff ich, ein freundliches Wort sprechend, auch nach dem Teller des Einsamen und erlöste den Armen von seiner Verlegenheit.

Ueberrascht fuhr derselbe auf und starrte mir stumm in das Gesicht. Endlich besann er sich und machte mir eine Verbeugung, die herzlich steif ausfiel. Dann stand er wieder wie vorher still auf seinem Platze, und auch ich nahm meinen Sitz wieder ein, da die Musik von Neuem ertönte.

Ich glaubte, wie gesagt, anfangs, als ich meinen stummen Nachbar betrachtete, einen nicht mehr jungen Mann vor mir zu haben. Indem ich denselben jedoch jetzt in der Nähe angesehen, merkte ich wohl, daß er noch zu den jüngeren Herren gehörte, und daß nur seine wunderliche Haltung an diesem Irrthum die Schuld trug. Ich blickte deshalb jetzt von meinem Stuhle aus noch einmal zu dem Fremden hin, um den ersten Eindruck mit dem späteren zu vergleichen. Da aber wandte sich der Beobachtete schnell nach mir um, und ehe ich noch meine Blicke von ihm abgewendet, sah er mich mit seinen dunkeln, eigenthümlich schwermüthigen Augen starr und stumm lange Zeit an.

Etwas gepeinigt durch dieses Anstieren machte ich mir schnell an meinen Handschuhen etwas zu schaffen, deren Knöpfe aufgesprungen waren. Nun aber, als ich des Einsamen Gesicht jetzt eben wieder betrachtete, war mir dessen Aehnlichkeit mit irgend jemand aufgefallen, den ich kannte, ich konnte mich aber durchaus nicht besinnen, wer es sei, der ihm gleiche. War es Prediger Moller in Magdeburg, oder Onkel Heinrich in Leipzig? Nein, nein, Dr. Sarre in Halle sah ihm wohl ähnlich, oder mehr noch Amtmann Amelang, unser Nachbar in Schreibersdorf. Ich konnte mit mir nicht darüber einig werden, und doch quälte es mich unablässig, wie es mit solchen Dingen geht, denn eine große Aehnlichkeit war da, aber mit wem nur am meisten? Ich mußte es heraus bekommen, mußte mir noch einmal das eigenthümlich anziehende Gesicht des Einsamen darauf ansehen.

Getrost blickte ich deshalb wieder auf und gerade zu dem Fremden hin, der mich jetzt gewiß längst ignorirte.

Aber wie erschrak ich, als ich nun bemerkte, daß die Blicke desselben immer noch auf mir ruhten wie vorher. Das war doch recht lästig, was hatte denn der wunderliche Mann an mir zu sehen? Er war doch gar zu sonderbar! Ich fühlte, wie mein Gesicht vor Verlegenheit feuerroth wurde, eine Erscheinung, die mich freilich oft genug belästigte, aber ich konnte es nicht ändern. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhle umher und nahm mir fest vor, den Platz zu wechseln, sobald das Gesangstück beendigt war. Das schien aber kein Ende nehmen zu wollen, und während ich nun ordentlich scheu und erschrocken meine Augen vor den Blicken des Sonderlings senkte, geschah wieder etwas, das denselben in neue Verlegenheit brachte.

Er hielt nämlich, wie alle Herren, seinen Hut unter dem Arme, aber so ungeschickt, daß ich schon immer gefürchtet hatte, er werde ihn fallen lassen. Und richtig! Plautz! da lag der unglückliche Hut endlich auch und zwar gerade vor meinen Füßen. Der Fremde war in höchster Bestürzung, und vor Verlegenheit wagte er kaum, nach seinem Eigenthum die Hand auszustrecken. Unwillkürlich bückte ich mich deshalb schnell, griff nach dem Hute und reichte, natürlich abermals tief erröthend, denselben seinem Besitzer hin, der ihn mit einer steifen Verbeugung aus meiner Hand empfing. Hierbei aber verlor er nun wieder seine Handschuh, die er in der Hand hielt, und ehe er noch seinen steifen Rücken gekrümmt hatte, übergab ich ihm auch schon das Verlorene wieder.

Abermaliger Bückling und große Verlegenheit, denn nun stand er vor mir und wußte nicht, sollte er sprechen oder seine stumme Rolle ferner weiter spielen. Um den wunderlichen Gesellschafter, sowie mich selbst aus der peinlichen Situation zu erlösen, griff ich nach einer Bildermappe, welche in der Nähe aufgeschlagen lag, und vertiefte mich scheinbar lebhaft in die Betrachtung der Kupferstiche.

Hatten nun aber diese Bilder wirklich das Interesse des Einsamen erregt, oder meinte er, mir seine Aufmerksamkeit beweisen zu müssen, kurz, er schaute mit vorgestrecktem Halse und weit geöffneten Augen nach den Bildern hin, die ich durchblätterte, blieb dabei aber in so gemessener Entfernung stehen, daß ich das Lachen verbergen mußte, das seine Stellung in mir erregte. Um ihn jedoch los zu werden, reichte ich ihm ein Blatt nach dem andern hin, damit er es sehen konnte, ohne mich zu belästigen.

Diese neue Aufmerksamkeit schien den Damm seiner Schüchternheit zu durchbrechen. War ich ja doch augenscheinlich die Einzige, die sich seiner erbarmte unter all' den Gästen, – unter Larven die einzig fühlende Brust! – dem konnte sein Herz nicht widerstehen, das besiegte selbst seine Blödigkeit!

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte er stotternd und leise, indem er sich an meine Seite setzte, »ich danke Ihnen, o ich danke Ihnen!« Dann fragte er mich, ob ich mich für die Kupferstiche interessire, und als ich dies bejahte, dabei aber meine völlige Unkenntniß eingestand, fing er an, mit leiser Stimme, um die Musik nicht zu stören, von den Meistern zu reden, deren Werke vor uns auf dem Tische lagen: Dürer, Holbein, Carstens, sowie den berühmtesten Italienern Rafael und Michel Angelo. Mir war anfangs etwas ängstlich zu Muthe, denn ich erinnerte mich wohl, daß die Tante mir geboten, nur mit solchen Herren zu sprechen, die mir vorgestellt seien, und den wunderlichen Fremden kannte ich doch gar nicht. Aber bald vergaß ich diese meine Furcht über dem lebhaften Interesse, das seine Reden mir erregten. Er hatte augenscheinlich große Kenntniß in Kunstsachen, denn von jedem der Meister, sowie von ihren Werken wußte er mir in einer sehr anziehenden Weise etwas zu sagen.

Jetzt aber schwieg die Musik wieder, und es wurde um uns her lebhaft. Ich fing wieder an mich zu ängstigen, daß ich mit dem wunderlichen Fremden so allein in einer Ecke saß, er aber schien dies gar nicht zu bemerken, sondern fuhr in seiner Unterhaltung gleichmäßig fort. Da endlich sah ich Marie's blaues Kleid in der Nähe, und mich schnell erhebend, sagte ich hastig: »Entschuldigen Sie, ich glaube, man sucht mich.«

Da kam Marie aber schon auf mich zu. Sie war sehr erstaunt, mich mit dem Fremden in so nahem Verkehr zu finden, und indem sie demselben eine leichte Verbeugung machte, sagte sie: »Ah, Herr Baron, sieht man Sie auch einmal hier? Das ist schön!« Ich flüsterte Marien hastig zu, sie möchte mir den Herrn vorstellen, da sie ihn kenne. Marie sah mich verwundert an, denn sie dachte natürlich, daß mein gesprächiger Cavalier dies schon selbst gethan hätte, nun aber wandte sie sich gefällig wieder zu uns und sagte: »Liebes Gretchen, erlaube, daß ich dir einen Freund meines Bruders vorstelle, den Herrn Baron von Senft. Und dies, Herr Baron, ist meine liebe Freundin Margarethe Geßler.«

Alle Steifheit und alles Ungeschick, das mein armer Einsamer während der lebhaften Unterhaltung glücklich überwunden hatte, kehrte jetzt mit einem Male in vollster Blüthe zurück, sowie Marie zu uns getreten, und gesellschaftliche Formen wieder von ihm verlangt wurden. Er machte eine unendlich linkische Verbeugung und stotterte einige unzusammenhängende Laute, aus denen nur einzelne Worte, wie: entzückt – Fräulein – gütig, vernehmbar hervor tauchten, wie Froschköpfe aus dem Sumpfe.

Wir eilten der Verlegenheit ein Ende zu machen, indem wir uns schnell empfahlen und nach einem andern Zimmer gingen. Aber mit wahrhaftem Mitleiden bemerkte ich die traurigen Blicke, welche der aufs Neue Vereinsamte mir nachsandte, und ich konnte mir nicht helfen, mein gutes Herz trieb mich, ihm noch einen recht freundlichen Gruß zurück zu schicken.

»Was tausend heißt denn das, Grete? Du bist heute ja ganz ausgetauscht!« lachte Marie, als sie meinen Gruß bemerkte. »Erst so vertraulich mit Dr. Hausmann, und nun gar ein Herz und eine Seele mit dem menschenscheuen Baron Senft? Irre ich nicht, so habe ich so eben ein sehr interessantes tête-à-tête gestört, in dem du mit dem Sonderling begriffen warst. Nun sollst du mir noch einmal weiß machen, du seist blöde! Dem Mädchen, das den Baron Senft gewinnen kann, gehört wahrlich eine Verdienstmedaille!«

»So schweig doch nur endlich mit dem Unsinn und höre, wie das alles gekommen ist!« rief ich ärgerlich, denn ich schien heute wirklich dazu verdammt, den Schein eines unbesonnenen, koketten Mädchens auf mich zu ziehen. Hastig erzählte ich nun der Freundin, wie sich unsre Bekanntschaft angeknüpft, und wie ich nichts weniger gewollt, als mich dem Sonderling aufzudrängen; aber wie das Mitleid, das ich mit seiner Unbehülflichkeit gehabt, mir endlich seine Aufmerksamkeit erworben und die Eisrinde seiner Schüchternheit aufgethaut habe.

»Nun ein anderer, als unser scheuer, guter Baron hätte deine Aufmerksamkeiten wohl noch anders verstehen können,« lachte Marie. »Ich bitte dich um Alles, spare deine Dienstfertigkeiten für andere Leute auf, junge Herren werden nun einmal nicht von jungen Damen bedient. An dem armen Baron aber hast du eine Eroberung gemacht, den haben deine schwarzen Augen versengt; denn sieh nur, da steht er schon wieder in der Thür und blickt sehnsuchtsvoll zu uns herüber.«

Wirklich, Marie hatte Recht, dort stand er und sah mich mit seinen großen Augen so eigenthümlich an, daß ich wieder dunkelroth wurde und mich ängstlich an Marie's Arm klammerte und flehentlich bat, sie möge mich nicht mehr verlassen, ich mache sonst noch mehr Thorheiten. Zum Glück nahte sich die Gesellschaft ihrem Ende, und ich ward aus der peinlichen Situation erlöst, in welche meine Unerfahrenheit mich wieder aufs Neue versetzt hatte. Die lose Marie flüsterte mir als Gruß zur guten Nacht noch schelmisch zu: »Gratulire zu deiner Eroberung, träume süß, liebes Gretchen!«

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