9. Noch eine Neuigkeit.

Das Leben im Hause der Tante gestaltete sich immer angenehmer und harmonischer, je länger ich dort verweilte, und schon lange dachte ich nicht mehr mit jener verzehrenden Sehnsucht, welche mich im Anfange so unsäglich peinigte, an mein liebes Vaterhaus zurück. Ich erkannte jetzt mehr und mehr, welchen Werth es für meine ganze geistige Entwickelung hatte, einen Theil meiner Jugend bei Tante Ulrike zu verleben, und die unbeschreibliche Liebe, mit der dieselbe mich erzog, brachte mich leichter über die tausenderlei Mängel und Fehler hinweg, mit denen ich armes Backfischchen täglich immer wieder zu kämpfen hatte.

Bei dem engen Verkehr, welcher zwischen Tante Ulrike und mir stattfand, konnte es mir nicht entgehen, wenn die heitere Stirn derselben sich trübte, und so beunruhigte es mich ernstlich, als ich die Tante eines Morgens aufgeregt und in Thränen in ihrem Lehnsessel fand, sie, die sonst immer klar und ruhig alle Verhältnisse überblickte und sich eine ungewöhnliche Herrschaft über ihre Gefühle errungen hatte. Ein Brief lag vor ihr auf dem Tische, und als ich erschrocken herbei eilte zu fragen, was ihr fehle, winkte sie mir sanft zu, mich zu entfernen, was ich natürlich in großer Sorge that. Lange hatte ich zu warten, ehe die Tante zu mir in das Zimmer kam; ich hörte sie viele Male in ihrem Kabinet auf und nieder gehen, ein Zeichen, daß sie nach Fassung rang; dann endlich knitterte Papier, und ich hörte, wie die Klappe ihres Schreibsecretärs knarrte, also schrieb sie.

Endlich kam sie zu mir, zwar ernst und niedergeschlagen, aber doch ruhig wie immer. Sie setzte sich neben mich, strich mir liebevoll über das Gesicht und sagte:

»Gretchen, ich muß dir einen Theil dessen erzählen, was mich, wie du gesehen, so unbeschreiblich bedrückt. Du bist ein verständiges Mädchen und hast mich lieb, also kann ich dir immerhin etwas anvertrauen, wovon mein Herz belastet wird. Natürlich sprich außer gegen deine gute Marie und deren Mutter, welcher ich es selbst mittheilen werde, gegen niemand davon.«

Ich küßte ihre liebe Hand, was ich so oft und so gern that, wenn ich ihr meine Liebe und Verehrung bezeigen wollte, und mit sanfter Stimme sprach die Tante weiter: »Du weißt, mein liebes Kind, daß ich seit vier Jahren schon Wittwe bin, nachdem ich an der Seite meines trefflichen, geliebten Mannes die schönsten Jahre des Glückes und der Zufriedenheit verlebte. Wir schlossen uns um so inniger an einander, nachdem uns Gott das einzige Kind wieder genommen, das unser Glück vollkommen machte. Eine schwere, traurige Zeit war es, als ich den süßen Knaben verloren, aber meines Gatten zarte Liebe half mir das Schwerste tragen, und so hat mein Herz sich endlich ruhig in Gottes Willen ergeben. Aber noch ein anderes Leid drückte uns bald darnieder, und hier war ich es wieder, die meinem Gatten tröstend zur Seite stand. Sein einziger Bruder nämlich, mit dem mein Mann durch die innigsten Bande der Liebe verknüpft war, hatte einige Jahre nach dem Tode seiner ersten Frau ein junges Mädchen geheirathet, das ihn durch Schönheit und Anmuth zu fesseln verstanden. Zwar hatte man ihn von allen Seiten vor dem Leichtsinn und der launischen Gemüthsart des schönen Mädchens gewarnt, aber Adolph verachtete all' diese Stimmen und ließ sich, verblendet wie er war, von seiner Bewunderung und Leidenschaft hinreißen. Leider war auch die Sorge für seine kleine elfjährige Tochter nicht im Stande, ihn von dem unbesonnenen Schritte zurück zu halten, obwohl das reich begabte Kind gar sehr einer zweiten treuen Mutter bedurft hätte.

Nur zu bald freilich sah mein armer Schwager, wie unbesonnen seine Wahl gewesen. In den sieben Jahren seiner Ehe mit Kathinka ist der kräftige Mann vor Kummer fast zum Greise geworden, denn unmöglich können zwei Naturen weniger zusammen stimmen, als er und sein eitles herzloses Weib. Adolph ist zu schwach und liebt den Frieden im Hause zu sehr, um all' den Launen und Thorheiten seiner vergnügungssüchtigen Frau so entgegen zu treten, als er es wohl sollte, und so mag es dir genügen zu wissen, daß diese Ehe eine unendlich unglückliche ist. Daß die Erziehung der kleinen Eugenie neben solcher Mutter natürlich auch keine gute war, kannst du dir denken; denn der Einfluß des Vaters genügte nicht, um alle nachtheiligen Elemente von seinem Kinde fern zu halten. Eugenie wuchs heran, begabt mit Talenten und körperlichen Vorzügen, eine fertige junge Dame, glänzend und anmuthig, wie die Mama es nur wünschen konnte; aber wenn auch nicht leichtsinnig und herzlos wie diese, wovor sie ihr natürlich gutes Herz bewahrte, so doch ohne rechte innere Gemüthswelt, wie ich sie bis jetzt zu beurtheilen Gelegenheit hatte. Ihre große Selbständigkeit und Originalität sind außerdem noch eine zwar interessante, aber gefährliche Zugabe, und wohl hätte ihre Erziehung bei solchen Anlagen einer ganz besonderen Sorgfalt bedurft. Oft schon bot ich meinem Schwager an, Eugenie eine Zeitlang zu mir zu nehmen; aber der arme Mann konnte sich nicht entschließen, die einzige Freude seines Lebens von sich zu geben, und so blieben die Sachen bis jetzt wie sie waren. Der heutige Brief jedoch giebt mir nun die Nachricht, daß mein Schwager, um sich dem häuslichen Jammer für einige Zeit zu entziehen, als Gesandter seiner Regierung nach dem Auslande gehen wird, scheinbar zwar dorthin geschickt, in der That aber nur auf seinen eigenen dringenden Wunsch. Seine Frau wird ihn also nicht begleiten, und um Eugenie nicht unter der alleinigen Obhut der leichtfertigen Mutter zu lassen, bittet er mich dringend, seine Tochter für die Dauer seiner Abwesenheit in meinem Hause aufzunehmen. Ich habe ihm so eben geantwortet, daß ich hierzu bereit sei, und so sehe ich denn Eugeniens baldiger Ankunft entgegen.

Da dieser Wechsel in unserer Häuslichkeit nun auch dich betrifft, mein Gretchen,« fuhr die Tante nach einer kleinen Pause liebevoll fort, »so mußte ich dir einen Theil jener traurigen Familienverhältnisse enthüllen, von denen ich mit dir sonst niemals gesprochen hätte. In Rücksicht darauf wirst auch du Nachsicht haben gegen die Fehler Eugeniens, welche in solcher Umgebung entstanden. Auch meine Aufgabe, unserer neuen Hausgenossin gegenüber, ist keine leichte, und so wollen wir denn Beide mit gutem Muthe und herzlicher Liebe unsere Eugenie erwarten.«

Ich hatte die Erzählung Tante Ulrike's mit inniger Theilnahme angehört, als sie jedoch von der Ankunft Eugeniens sprach, erzitterte mein Herz unwillkürlich, und angstvoll blickte ich in das sanfte Auge der Tante, um mir dort Ermunterung und Zuversicht für den bevorstehenden Wechsel zu suchen. Eben fing ich an, mich wohl und behaglich hier im Hause zu fühlen, meine schüchterne Zurückhaltung gegen die Tante war erst jetzt einem innigen Vertrauen und herzlichem Anschmiegen gewichen, wie würde es nun werden, wenn eine dritte Person zwischen uns trat, und zwar solch' bedeutendes, glänzendes, selbständiges Mädchen, als Eugenie der Beschreibung nach sein mochte! Welch' traurige Rolle würde ich armes Dorfkind neben solch' einem Wesen spielen, wie verächtlich würde diese Eugenie gewiß auf mich herab sehen, und wie viel neue Plage würde daraus für mich nun wieder entstehen, wo ich kaum anfing, mich etwas in die neuen Verhältnisse zu finden.

Solche Gedanken fuhren mir blitzschnell durch den Sinn und brachten mein Herz in unbeschreiblichen Aufruhr. Da aber erklangen die Worte der Tante, welche mich an die trüben Verhältnisse mahnten, in denen Eugenie bis jetzt gelebt, und daß wir derselben mit gutem Muthe und treuem Herzen entgegen kommen wollten. Tief beschämt, daß ich eigensüchtiger Weise nur an mich und meine Unbequemlichkeiten gedacht, drückte ich die Hand der verehrten Tante, diese aber zog mich liebevoll an ihr Herz, und indem sie mich küßte, blickte sie mir voll Zärtlichkeit in die Augen.

»Habe keine Furcht, mein Kind,« sagte sie dabei sanft, »dir soll kein Nachtheil durch unsere neue Hausgenossin entstehen. Ich bin dir schützend und helfend zur Seite, meine Liebe wird vermitteln, wo es nöthig ist. Vertraue mir nur und sei guten Muthes.«

Es war, als ob die Tante alle Befürchtungen meines armen Herzens gelesen hätte, denn ohne daß ich ein Wort gesprochen, traf sie sogleich den Punkt, wo ich schwach und zaghaft gewesen. Tief erröthend gestand ich ihr nun meine egoistischen Gedanken und schöpfte mir für alles, was da kommen möchte, Muth und Vertrauen an ihrem treuen Herzen, das schon so oft mein Trost und meine Zuflucht gewesen.

Nur wenige Wochen nach diesem Gespräche kam die Erwartete denn auch wirklich eines Nachmittags an. Die Tante war nach dem Bahnhofe gefahren, um Eugenie zu empfangen, und ich harrte indessen zu Haus in banger Erwartung hinter meiner dampfenden Kaffeemaschine, in welcher ich für die Reisende den warmen Bewillkommnungstrank braute. Da fuhr der Wagen vor, und hinter der Gardine spähend sah ich neben Tante Ulrike eine hohe, schlanke Gestalt aussteigen, welche in leichten Schritten nach dem Hausflur eilte, die Sorge für all' ihre unzähligen Reiseeffecten einem hübschen, jungen Mädchen überlassend, das sich bis zum Kinn hinauf damit bepackte. Ich eilte den Ankommenden jetzt schnell entgegen und wurde Eugenien durch die Tante als ihre liebe Nichte Margarethe vorgestellt.

»So so, das ist das Backfischchen vom Lande, von dem du mir vorhin erzähltest,« sagte Eugenie leichthin und ließ ihre Blicke flüchtig auf mir ruhen. Dann reichte sie mir im Vorübergehen ihre zierlichen Fingerspitzen, die von zarten grauen Handschuhen bedeckt waren, und sich zu Tante Ulrike wendend fuhr sie schnippisch fort: »Hast du die Absicht, dir ein Mädcheninstitut anzulegen, daß du dir eine junge Dame nach der andern kommen läßt, Tante Ulrike?«

»Ich hoffe, mein Gretchen wird dir eine liebe Schwester werden,« entgegnete die Tante sanft, indem sie die häßlichen Worte Eugeniens nicht beachtete und mir leise mit der Hand über das Haar strich.

Eugenie wandte sich lachend zu mir und sagte: »Nun, ich bin zwar bis jetzt auch ohne Schwester fertig geworden, aber ich hab' nichts dagegen, daß wir gute Freunde werden, Cousinchen!« Dabei kam sie rasch auf mich zu, und ehe ich es dachte, drückte sie einen herzlichen Kuß auf meine Lippen. Dann wandte sie sich eben so rasch nach jenem belasteten jungen Mädchen, das jetzt in das Zimmer trat und rief: »Lisette, lege die Sachen nur indessen alle auf die Erde und hole mir zuerst ein Glas Wasser, ich komme um vor Hitze und Durst!«

Aber noch ehe Lisette diese Geschäfte beendet, warf sich ihre Herrin auf einen Stuhl, und indem sie einen Fuß empor streckte, rief sie: »Zieh mir diese abominablen Pelzstiefeln von den Beinen, in denen ich aussehe wie ein Lappländer, und gieb mir meine leichten Hausschuhe dafür.«

Lisette that wie ihr befohlen, indem sie vor Eugenien niederkniete, und diese ergötzte sich damit, jeden der geschmäheten Pelzstiefeln mit dem Fuße über Lisettens Kopf hinweg in die entgegengesetzte Ecke zu schleudern, wobei sie kindisch lachte und jubelte.

Ich stand ganz verblüfft neben diesem sonderbaren Wesen, das so ganz anders war, als ich dachte. Hochmüthig und doch dabei herzlich, despotisch und zugleich kindlich, und vor allem so unbegreiflich sicher und ungenirt, als ob sie schon hundert Jahre lang bei Tante Ulrike heimisch sei, es war für mich etwas Unerhörtes. Die Tante schien aber das sonderbare Betragen des neuen Ankömmlings gar nicht zu beachten, denn als sie ihre Sachen abgelegt, setzte sie sich behaglich in die Sophaecke, und sagte heiter: »Nun Gretchen, ich hoffe, du hast uns eine gute Tasse Kaffee bereitet, sie soll uns wohl thun. Eile dich, Eugenie, sonst lasse ich dir gar nichts übrig.«

»Kaffee? Behüte der Himmel, den trinke ich nie!« rief Eugenie, ihren reizenden braunen Lockenkopf schüttelnd, und zog ein Paar hellblaue, weich gefütterte Pantöffelchen an ihre wunderniedlichen kleinen Füße. »Kaffee, ein nichtswürdiges Getränk, puh! Verdirbt den Teint und macht Hitzflecke.«

»Aber was genießt du denn statt des Kaffee's, Kind?« fragte die Tante.

»Des Morgens Chocolade, Nachmittags gar nichts oder Thee!« entgegnete Eugenie leichthin, indem sie sich in Tantchens behaglichen Lehnstuhl streckte und mit den hellblauen Füßchen in der Luft auf und nieder wippte.

Ich wurde ganz roth vor Ueberraschung, als Eugenie sich so mir nichts dir nichts in Tantchens Stuhl setzte, von dem mich stets eine heilige Scheu zurückgehalten hatte; aber dergleichen Gefühle durfte ich freilich bei dieser kleinen Prinzessin nicht voraussetzen, ihr schien das Beste eben gut genug für ihre Bedürfnisse. Die Tante ließ sie auch ruhig gewähren und wandte sich zu mir, indem sie mich bat, etwas Thee für Eugenie zurecht zu machen, da dieser ein warmes Getränk gut thun würde. Eugenie sagte nichts dagegen, und so that ich, wie die Tante mir geheißen.

Das junge Mädchen hatte indessen eine kleine Bürste aus der Tasche gezogen, und putzte damit die fabelhaft langen Fingernägel ihrer zierlichen weißen Hände, ganz als sei sie allein im Zimmer, und achtete gar nicht mehr auf ihre Umgebung. Dann sprang sie vom Stuhle auf, ringelte ihre braunen Locken vor dem Spiegel und ging bald im Zimmer, bald in Tantchens Boudoir umher, indem sie alle Bilder, Kunstwerke, Bücher und dergleichen Sachen flüchtig betrachtete.

»Wie himmlisch altmodisch alles bei dir ist, Tantchen!« rief sie dann lachend. »Den alten Plunder hätte Mama längst zum Trödler geschickt. Wir hatten alle paar Jahr unsere neue Einrichtung.«

Ich erstarrte ordentlich über Eugeniens Reden. Diese schönen, gediegenen, kostbaren Meubles und geschmackvollen Einrichtungen nannte sie alten Plunder! Hier, wo ich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes mich kaum zu bewegen wagte vor Hochachtung gegen die kostbaren Dinge, die mich umgaben, hier hörte ich dieselben Gegenstände als altmodischen Trödel verachten! Das war denn doch zu arg, und angstvoll blickte ich zu der Tante hin, um zu erfahren, was sie dazu sagte.

Sie erröthete leicht und biß sich auf die Lippen. Dann aber sprach sie gelassen: »An diesen alten Meubles hängt der Zauber schöner Erinnerungen, Eugenie. Sie waren Zeugen meiner glücklichsten Tage und sind mit mir alt geworden. Ich möchte kein Stück davon missen oder gegen etwas Neues vertauschen, denn sie sind alle mit mir und meinem Geschick verwachsen. Wer stets neue Umgebung liebt, der denkt entweder nicht gern an die vergangenen Tage, oder hat einen weltlichen, unruhigen Sinn, für den nur das Neue Reiz und Werth besitzt.«

Eugenie sah mit wunderlicher Miene nach der Sprechenden, halb war ihr lächerlich, halb ernsthaft zu Sinne. »Was du für hübsche Gedanken hast, Tantchen,« sagte sie unbefangen. »Sie passen prächtig zu den alten Meubles, sie sind eben so ehrwürdig und altmodisch wie diese. Aber du hast Recht! Was du da sagtest, gefällt mir; es war mir noch nie eingefallen.«

»Du hast wahrscheinlich an gar vieles noch nicht gedacht, Kind, was wahr und gut ist,« sagte die Tante sanft. »Ich hoffe, das wird nun kommen.«

Eugenie setzte sich still und etwas empfindlich wieder in ihren Stuhl, und ich brachte ihr eine Tasse Thee.

»Ich mag keinen Thee, mir ist heiß genug!« sagte sie verdrießlich und schob die Tasse unsanft zurück, so daß der Thee auf mein Kleid floß. Ich wandte mich schnell ab, denn ich ärgerte mich unbeschreiblich über das launische Mädchen, die Tante aber sagte sehr bestimmt, obwohl ruhig:

»Du wirst jetzt diese Tasse Thee trinken, Eugenie; denn erstens thut er dir nach der Reise gut, und zweitens ist er so eben von Gretchen für dich bereitet worden. Du hättest ihr die Mühe sparen können, wenn du vorher wußtest, daß du keinen trinken wolltest.«

Eugenie fuhr verwundert ein wenig vom Sitz auf und wurde dunkelroth. Sie saß ein Weilchen noch wie ein trotzig Kind in ihrem Stuhle und beguckte ihre weißen Fingernägel, dann richtete sie sich plötzlich rasch empor, zog die Theetasse heran, that Sahne und Zucker hinein, trank den Thee in einem Zuge aus und schob mir die leere Tasse hin. »Noch eine, Gretchen!« sagte sie gebieterisch. Ich goß ein, und nun trank sie die zweite Tasse eben so schnell hinunter, indem sie mir abermals die leere Tasse hinschob und »noch eine!« rief.

Ich sah die Tante fragend an, denn offenbar war Eugenie trotzig und wollte die Tante reizen. Diese aber sagte ganz ruhig: »Nein Gretchen, gieße keinen Thee weiter ein, Eugenie würde sich schaden.«

Meine eigensinnige Cousine sagte nichts, saß aber bitterböse im Lehnstuhl und trommelte mit den hellblauen Pantöffelchen auf dem Teppich.

»Gretchen,« rief sie endlich, den Kopf zurück werfend, »bist du hier auch im Correctionshause?«

»Aber Eugenie!« sagte ich bebend; weiter war ich keines Wortes mächtig.

Eugenie erwartete auch gar keine Antwort, sondern schnippte mit den Fingern in der Luft und fing an ein Liedchen zu trällern. Die Tante ging still nach ihrem Boudoir und machte die Thür hinter sich zu, und wir Beiden waren nun allein. Mir waren die Thränen in das Auge getreten, denn offenbar hatte die böse Eugenie Tante Ulriken weh gethan, und vorwurfsvoll sagte ich deshalb:

»Aber liebe Eugenie, wie konntest du die Tante so kränken!«

Eugenie trällerte weiter und gab mir keine Antwort.

»Du glaubst gar nicht, wie gut die Tante ist, liebe Cousine. Du solltest wirklich artiger gegen sie sein, sie verdient so sehr deine Liebe und Achtung!« fuhr ich wärmer werdend fort. »Du kennst sie gewiß noch nicht; aber ich bin schon so lange hier, daß ich ihren großen Werth und ihre hohen Verdienste unendlich lieben und schätzen gelernt habe. Sie meint es so gut mit jedermann!«

Jetzt wurde ich von einem gewaltsamen Gähnen unterbrochen, welches Eugenie hervorstieß, indem sie sich beide Ohren zuhielt.

»Du himmlische Güte, seid ihr hier langweilige Philister!« rief sie sich im Stuhle zurück werfend. »O sancta simplicitas, wie wird's mir armen Heidin unter diesen Heiligen ergehen!«

Sie machte ein so komisches Gesicht, und sah so schelmisch dabei aus, daß ich mir trotz meiner ernsten Stimmung das Lachen verbeißen mußte.

»Sage mal, du kleiner Vernunftkasten, wie alt bist du denn eigentlich, daß du dir heraus nimmst, mir gute Lehren zu geben?« fuhr Eugenie dann fort, indem sie mich mit Semmelkrümchen warf. »Bist du denn schon aus dem dummen Vierteljahr heraus? Du scheinst mir eigentlich noch ein Backfischchen zu sein. Zählst du schon vierzehn Jahre und sieben Wochen?«

»O ja, die liegen glücklich hinter mir, wenn auch noch nicht lange,« sagte ich lächelnd und warf ihr die Semmelkrumen wieder in das Gesicht.

»Wie kannst du dich aber »Gretchen« nennen lassen!« sprach Eugenie weiter. »Das klingt wie lauter Idylle, und die kann ich nicht leiden. Ich werde dich Marguerite nennen, oder auch Gänseblümchen, was ja dasselbe bedeutet.«

»Und was sehr bezeichnend für das simple Backfischchen ist, nicht wahr?« fuhr ich neckend fort, denn ich fühlte recht gut, daß sie mir einen Hieb versetzen wollte.

»Nun dumm bist du nicht, wenn auch simpel!« warf Eugenie leicht hin.

»Nicht so dumm als ich aussehe,« sagte ich lachend.

»Hm! wer sagt dir, daß du so aussiehst?« rief Eugenie rasch. »Ich nicht, denn ich finde dich im Ganzen passabel hübsch.«

»Du meinst la beauté du diable von sechszehn Jahren, wo jedes Mädchen niedlich ist, weil sie frische Farben und jugendliche Formen hat?« warf ich spottend ein.

»Ach mit dir streite wer Lust hat, du bist eine Hexe!« rief Eugenie, mir ein ganzes Milchbrod auf den Rücken werfend, da ich ihr gerade denselben zuwandte.

»Geh nicht so schlecht mit der edlen Gottesgabe um, Eugenie!« sagte ich vorwurfsvoll, die Semmel wieder auf den Tisch legend. »Die Tante leidet es niemals, daß man mit Brod spielt.«

»Um Gottes Willen, da will ich es lassen!« rief Eugenie im komischen Schrecken, »ich muß sonst am Ende auch alles Brod genießen, woraus ich Kugeln und Figuren gedreht habe, wie vorhin deinen gräßlichen Thee, von dem mir noch der Kopf brennt wie Feuer.«

»Weil du unvernünftig dabei warst, wenn ich es dir ehrlich sagen soll,« rief ich, das Theegeschirr zusammen setzend.

»Ich muß doch sehen, ob Tante wieder Lust hat, mich zu verschlingen wie vorhin,« sagte Eugenie jetzt muthwillig und ging nach Tante's Zimmerthür, und noch ehe ich sie voll Schrecken zurückhalten konnte, warf sie mir ein Schnippchen zu und war hinter der Thür verschwunden.

»O mein Gott, ist das ein Mädchen!« rief ich, indem ich ihr angstvoll nachblickte, denn nie hatte ich es gewagt, die Tante zu stören, wenn diese sich zurück gezogen hatte, und sie wagte es, nachdem sie dieselbe durch ihre Unarten so erzürnt hatte! Ich lauschte aufmerksam, ob ich heftigen Wortwechsel hören würde; aber es dauerte nicht lange, so erklang Eugeniens kindlich helles Lachen, die Thür öffnete sich, und von ihrer Nichte zärtlich umschlungen, trat die Tante mit dieser in das Zimmer.

»Du brauchst dir nicht einzubilden, daß du die Versöhnung verursacht hast, heilige Margaretha,« sagte Eugenie, den Kopf aufwerfend, aber ein freundlicher Blick Tante Ulrike's sagte mir, dies sei allerdings der Fall. Nun ich freute mich, die gute Tante wieder heiter zu sehen, die Ursache davon mochte ich oder jemand anders sein.

»Jetzt komm nach deinem Zimmer, mein Kind!« sagte die Tante, Eugenie in ihr freundliches Stübchen führend, welches an unser Schlafzimmer grenzte.

Ich hatte schon gefürchtet, Tante würde mich mit in Eugeniens Zimmer einquartiren, was mir sehr leid gethan hätte, da mir unser trauliches Stübchen herzlich lieb geworden war, nachdem ich so manchen schweren Augenblick darin überstanden hatte. Aber mein Gardinenbettchen stand nach wie vor an seinem alten Flecke, und von einer Aenderung war keine Rede.

Eugeniens Zimmer hatte eine ungemein zierliche, obwohl einfache Einrichtung, und augenscheinlich machte es auf das verwöhnte Kind einen angenehmen Eindruck, denn sie sprang singend und übermüthig von einem Gegenstand zum andern.

»Aber hier die stolze Landschaft muß fort!« rief sie plötzlich, vor dem kleinem Kamin stehen bleibend, über welchem ein schöner Claude Lorrain aufgehängt war. »Hier kommt mein herzig liebes Väterchen hin, obwohl der böse Mensch eigentlich gar nicht verdient, daß ich ihn noch ansehe, seit er mich so treulos verlassen und mich den barbarisch grausamen Händen einer gewissen Frau Ulrike überantwortet hat. Geschwind, Lisette, ausgepackt, daß ich meinen Papa endlich wieder unter den Augen habe; er kennt mich doch am Besten von allen Menschen, und weiß, ob ich so schlecht bin, als gewisse Leute von mir denken.«

Dabei riß sie ungeduldig an den Schnüren und Pappen, welche ein großes Bild umhüllten, das Lisette so eben aus einer der vielen Kisten heraus genommen. Aber trotz ihres Eifers gelang es ihr nicht, das Bild aus seiner Umhüllung zu lösen, so daß ich endlich zugriff und ihr die Sache abnahm.

»Du bist zu heftig, Eugenie, so geht es nicht!« sagte ich, vorsichtig die Schnüre entwirrend, aus denen sie einen wahrhaft gordischen Knoten geschürzt hatte.

»Da nimm es, ich mache alles dumm!« rief sie stürmisch, aber nun stand sie ungeduldig neben mir und ließ mir kaum Zeit und Raum, die Arbeit zu beenden. Endlich fiel das letzte Papier, und mit einem lautem Jubelschrei umfaßte Eugenie das Bild des Vaters mit beiden Armen, drückte es heftig an ihre Brust und bedeckte es dann mit tausend Küssen, wobei ihr die hellen Thränen über die Wangen rollten.

»Väterchen! Mein einzig liebes Väterchen!« rief sie mit zärtlicher Stimme. »Nun hab ich dich ja doch, wenn du auch weit fort von deiner armen lustigen Jenny bist und gar nichts mehr von ihr wissen magst, du böser, böser, lieber Papa!«

Es war wirklich ein unbeschreiblich rührender Anblick, das wunderliebliche Mädchen mit so kindischer Zärtlichkeit das Bild des würdigen Mannes liebkosen zu sehen, und aller Groll, den sie mir bis jetzt durch ihr wunderliches Betragen erregt hatte, schwand beim Anblick dieser Scene. Sie hatte das beste, liebevollste Herz, das zeigte sich nur zu deutlich, aber unter wie viel Schlacken ruhten diese Goldkörner! Schweigend stand ich neben Tante Ulrike, welche ebenfalls tief bewegt nach Eugenien hinblickte, und auch ihr Auge schimmerte in Thränen, sei es vom Anblick des geliebten Schwagers, sei es über die Bewegung ihrer wunderlichen Nichte. Sie trat näher zu Eugenien heran, und indem sie sich tiefer auf das Bild neigte, zog sie das liebe Kind innig an ihr Herz und hielt sie lange schweigend umfangen. Eugenie weinte still am Halse der treuen Tante, und ihr guter Genius schloß einen Bund mit dem besten Herzen, das über ihr wachte.

Aber sich lange der Wehmuth zu überlassen, das war denn doch nicht die Sache unserer Eugenie. Plötzlich raffte sie sich empor, schüttelte die wirren Locken aus der Stirn, trocknete sich die Augen, und rief wieder muthwillig: »Das ist eine schöne Geschichte! Hat der böse Papa mich doch wahrhaftig wieder zum Weinen gebracht, und ich hatte es doch verschworen, seit sein Reisewagen um die Ecke bog. Geschwind an den Nagel mit dem Sünder, der mich zu solch weichgebackenem Seelchen umgewandelt hat.«

Dabei sprang sie auf einen der schwellenden Polsterstühle, und hing mit kräftiger Hand das prachtvolle Oelbild an den Nagel. Dann nickte sie demselben schelmisch zu, küßte es noch einmal herzlich und sprang wieder herab, leicht und lustig wie ein Vogel von dem Zweige.

Der Abend verging ganz gemüthlich mit Auspacken, Einrichten, Erzählen und Plaudern, und Eugenie war bis zum Schlafengehen so liebenswürdig und artig, sprach so viel Gescheidtes und Geistvolles zwischen allerlei Wunderlichem und Barockem, daß man ihr eine geheime Bewunderung nicht versagen konnte. Beim Schlafengehen küßte sie mich herzlich und sagte, ich sei doch eine kleine Hexe, dann hüpfte sie trällernd ihrer voranleuchtenden Jungfer nach, und noch eine ganze Weile hörten wir ihr lustiges Plaudern und Lachen.

Als wir allein waren, strich mir Tante Ulrike freundlich über das Haar, wie sie immer that, wenn sie mit mir zufrieden war; dann zog sie sich noch für ein Stündchen in ihr Zimmer zurück, während ich mein Lager suchte; aber lange noch scheuchten die Gedanken über unsere neue Hausgenossin den Schlaf von meinen Augen, bis endlich der freundliche Traumgott auch meine Sinne mit holden Bildern umgaukelte.

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