Der Gruß des Lebens

Dicht neben dem Schloßpark lag das kleine weiße Haus im Zopfstil des Rokoko. Von der Anlage aus, die nur in den Nachmittagsstunden von den bequem gewordenen Residenzlern aufgesucht wurde, sah man über die mehr als hundertjährige, mannshohe Taxushecke hinweg zwischen den üppigen Platanen die geschweiften, von Muschel- und Schneckenornamenten schier erdrückten Fenster blinken, während die Fenster der Rückseite den Einblick in eine Lichtung des fürstlichen Parkes gestatteten wie in ein der Sehnsucht so nahes, der Wirklichkeit verschlossenes Märchenland. Als der Hof von Versailles für Europa die Losung verschwiegener Üppigkeit ausgab, war der Park über Nacht entstanden, aus altem, gepflegtem Forst heraus, und dem Schloß erreichbar, vom Park und vom Spazierweg aus zu betreten, hatte der lebens- und liebeslustige Erbauer ein Schmuckkästchen aufführen lassen für ein entzückendes Dämchen mit hochtupiertem, schneeweiß gepudertem Haar, getuschten Augenbrauen, Schönheitspflästerchen neben dem Grübchen der Wange und inmitten der feingeschwungenen Buchtung der kokett aus indiskretem Seidenleibchen lugenden kleinen Büste. Und in dem zierlichen, über dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk aufweisenden Häuschen war mehr Leben, Lieben und Lachen gewesen als in dem großen Schlosse. Aber weit über ein Jahrhundert war es her, selbst um die Gespensterstunde spukte kaum noch ein Echo, und im Parkwinkel hatte brünstig umarmender Efeu längst die Goldlettern von dem Stein geküßt, der den Namen der kleinen Sünderin trug, welche selig unter ihm schlief.

Die Tugend war in der kleinen Residenz eingezogen und mit der Tugend die schadenfreudige Nachrede. Vom Schlosse her wehte ein strenger Wind. Man ging in hochgeschlossenen Kleidern und strickte daheim Leibchen für die Missionen, häkelte wohl auch einmal, um den Sinn für das Schöne zu bekunden, an einem kunstreichen Sofaschoner, der vor leichtfertiger Liebe warnt und den Segen der Häuslichkeit preist. Dreimal auf einem Ballabend hatte im vorletzten Winter die junge Frau Hofrat mit dem Hauptmann der Leibkompanie getanzt. Das bildete noch immer das Tagesgespräch. Und die junge Frau Hofrat lachte auf der Straße nur noch mit rotgeweinten Augen …

Am stärksten aber hatte das kleine, weiße Rokokohaus am Parkrand den Wechsel der Zeiten erfahren. Es war dem Konservator der fürstlichen Sammlungen als Dienstwohnung überwiesen worden, einem ältlichen, sorgfältig rasierten Herrn mit hochgeknoteter schwarzer Krawatte und langem, peinlich gebürstetem Gehrock. Er hieß Herr Direktor, Herr Direktor Hubertus, aber von seinem weidmännischen Namenspatron hatte er nur ein Jagdfieber ererbt, das sich auf verstaubte, vergilbte Beute erstreckte. Einer alten Handschrift, mehr noch eines seltenen Kupferstichs wegen vergaß er sich selbst und seine Umwelt, das der Freude erbaute weiße Rokokohaus, durch das eine junge Frau wie im Traum einherschritt, wenn sie nicht stumm am Fenster saß, die Blicke ziellos und zwecklos auf die Spazierwege der Anlage gerichtet oder durch den Parkeinschnitt auf das heimliche Treiben des Hofhalts. Vor fünf Jahren hatte er sie geheiratet, die Tochter eines Studienfreundes, der sich über den drohenden Bankerott eines allzu lustigen Lebens durch eine zu hoch bemessene Portion Digitalis hinweggeholfen hatte. »Herzschlag«, hatte der alte Hausarzt der vor Schreck erstarrten Tochter gegenüber mitleidsvoll geäußert. Dem Freunde des Verstorbenen aber, der aus der Residenz angereist gekommen war, mußte er die Art dieses Herzschlages doch etwas näher erklären. Es handelte sich um rasche Hilfe für die von allen Mitteln entblößte hinterbliebene Tochter.

Damals gerade war dem emsigen Konservator der fürstlichen Sammlungen die neue Dienstwohnung angewiesen worden. Das Haus hatte Platz für zwei und drei. Es lag still und abseits genug, um einem Kindesschmerz Muße zu gewähren, das Gedächtnis eines teuren Toten zu pflegen. Direktor Hubertus war daran, den Vorschlag einer einstweiligen Übersiedelung zu machen, als ihm die Tugend der Stadt und die leicht entzündbare üble Nachrede einfiel. Er rieb sich das Kinn und sah das schlanke Geschöpf mit den großen, fragenden Augen mit Bedauern an. Und während er sie so betrachtete und ihm bei der Kürze der Zeit, über die er verfügte, kein anderer Vorschlag geläufig werden wollte, fiel ihm bei einer müden Wendung, die sie machte, die Ähnlichkeit ihres Profils mit einer köstlich geschnittenen Gemme auf, seinem Lieblingsstück in der fürstlichen Sammlung. Dieser Vergleich ließ ihn nicht mehr los. Mit der Miene des Kunstkenners studierte er die edle Linie des Kopfes, die reingeprägten Züge ihres Gesichtes. Es war der Sammler, der ihn drängte, den Vorschlag einer einstweiligen Übersiedelung in den einer dauernden umzuwandeln. Besaß das Kabinett seines Herrn den Stein, so konnte er in der Stille des Hauses sein Auge an der lebendigen Form weiden. Und nicht die scharfäugigste Tugend vermochte einen entstellenden Flecken nachzuweisen.

»Mein Fräulein, Ihr Sachwalter wird Ihnen gesagt haben, wie – leider – die Dinge hier liegen.«

»Ich werde mich als Gesellschafterin vermieten müssen.«

»Dazu – meine Jahre erlauben mir wohl, davon zu sprechen – dazu dürften Sie zu hübsch sein. Und um traurige Erfahrungen zu machen, dazu ist Ihre Jugend nicht da und mir das Andenken meines Freundes zu wert. Wie alt sind Sie jetzt, mein Fräulein?«

»Zwanzig Jahre,« sagte sie ohne Anteilnahme.

»Hm – ich zähle fünfzig. Das ist ein beträchtlicher Unterschied. Aber ich bin allein, lebe in wohlgeordneten Verhältnissen in einem angenehm liegenden Hause, nehme eine angesehene, pensionsberechtigte Stellung ein und pflege mich wenig um laute Geselligkeit zu kümmern. Wollen Sie sich das einmal überlegen?«

»Was hilft mir das?« meinte sie und schloß die Augen.

»Mein Fräulein, gestern erst ist Ihr Herr Vater beerdigt worden. Da ziemt es sich wohl nicht, angesichts des frischen Grabes vom Leben zu reden. Und doch – die Umstände entscheiden. Ihnen ist die Heimat genommen worden und die Möglichkeit, sich eine neue zu gründen. Ich biete Ihnen eine neue. Nicht aus leidenschaftlicher Übereilung heraus – Leidenschaft wäre heute nicht am Platz –, sondern einer starken Sympathie wegen, die Sie mir einflößen. Meine Studien und mein auf das Sinnende gerichtete Temperament gestatten mir nicht, Ihnen übermäßig lästig zu fallen. Es wird eine wohltemperierte Freundlichkeit und Behaglichkeit zwischen uns walten. Keiner wird den anderen in seiner stillen Beschaulichkeit stören.«

»Sie wollen mich – heiraten?«

»Erscheint es Ihnen nicht lockender, im Hause eines Ihnen väterlich zugetanen Freundes frei als Gattin zu schalten, statt in fremden Häusern sich unter Launen zu demütigen, immer das Bündel in der Hand?«

»Bleibt mir denn nichts? Gar nichts?«

»Ich glaube, mein liebes Kind, nicht einmal das Bündel, von dem ich sprach.«

»Hat denn wirklich Vater nichts für mich hinterlassen?«

»Liebes Kind, es sind hohe Schulden vorhanden. Aber ich will sie übernehmen.«

Ein heftiges Weinen überkam sie.

»Und mich dazu!«

»Und Sie dazu. Stellen Sie sich das nicht so unmöglich vor. Das, was die Jugend bieten könnte, werden wir in gesammelter Form in der Kunst genießen. Wir werden am Abend beieinandersitzen, die Kunstblätter werden von Hand zu Hand gehen, wie die Schatzgräber werden wir bei jedem neuen Funde erstrahlen, während draußen in der rauhen, wilden Welt die Menschen mit finsteren Gesichtern an den Schönheiten vorüberrennen. Und das reine Gedächtnis an den Vater bewahren Sie als Ihren höchsten Schatz.«

Sie stand am Fenster und blickte in den rotglühenden Sonnenball, der sich fern über den Dächern senkte.

»Ich habe ihn so lieb gehabt, den schönen, fröhlichen Vater … Und selbst seinen Leichtsinn hab’ ich lieben müssen …«

»Darum sorgen Sie dafür, daß jetzt nicht schmutzige Hände an ihm herumzerren.«

Sie blickte starr in die rotglühende Sonne, bis der letzte Streifen geschwunden war. Dann wandte sie sich um.

»Wann – dachten Sie – daß ich zu Ihnen – übersiedeln sollte?«

»Die Umstände entschuldigen, daß wir von dem Trauerjahr absehen. Sie sollen sich so bald als möglich in Sicherheit fühlen.«

»In zwei, in drei Monaten –?«

»Ich werde alles vorbereiten.« Er erhob sich, und sein sinnender Blick hing lächelnd an ihrem klaren Profil. »Seien Sie so frohen Mutes, als es Ihnen diese Zeit erlaubt. Ich werde mich jetzt zu den Gläubigern Ihres Vaters begeben und die Schuld auf mich übertragen lassen. Leben Sie wohl.« –

Um ein Vierteljahr später zog die junge Frau Maria in das kleine, weiße Rokokohaus, das unter den von alten Zeiten raunenden Platanen hinter der hohen Taxushecke träumte. Und bald träumte die junge Herrin mit … Wenn der Konservator der fürstlichen Sammlungen im Amte weilte oder daheim über Mappen alter Kupferstiche saß, die nach Alter rochen wie die Wäscheschränke des Hauses nach Lavendel, horchte sie auf das Wispern zwischen Taxus und Platanen, das von Leben, Lieben, Lachen erzählte, von kleinen Menschensünden und großen Menschenfreuden zu den Zeiten des entzückenden Rokokodämchens, das seine Jugend mehr liebte als seine Tugend. Dann wurden ihre Augen weit, einer fremden Sehnsucht voll, und sie ließ den Abendwind, der aus dem verschwiegenen Schloßpark kam, um Hals und Wangen schmeicheln.

»Du wirst dich noch erkälten, Maria. Bitte, schließ das Fenster. Und sieh einmal her. Wer, glaubst du ist der Autor dieser höchst originellen Serie von Kupfern …?«

Sie schloß das Fenster und setzte sich zu ihm an den Tisch. Zu antworten brauchte sie nicht. Der eifrige Sammler hatte bereits die Lupe wieder eingeklemmt, um nach wegweisenden Merkmalen zu fahnden, die ihm den Namen des Kupferstechers verraten könnten. Der Abend ging hin.

Und Woche auf Woche, Monat auf Monat schloß sich an. Sorgfältig rasiert, im peinlich gebürsteten Rock wandelte der fürstliche Konservator in sein Amt, wandelte heim, warf einen frohen Blick auf das edelgeschnittene Profil der Gattin, dem der Schnitt der fürstlichen Gemme nicht standhalten konnte, und vergrub sich in seine Forschungen. Und draußen juchheite der Frühling in den Bäumen, kamen des Sommers Düfte in Strömen aus dem Schloßpark geflossen, färbte sich das Laub purpurn im Auskosten letzter Wonne und fiel braun in den Schnee, der geheimnisvoll die Decke breitete, damit sich neue Seligkeit zu neuen Kräften sammle.

Frau Maria schritt durch das Haus. Nur an den Fenstern zögernd. Wie der Gefangene, der immer wieder nach dem Stückchen blauen Himmel blickt. Tag für Tag schritt sie durch das Haus, ruhelos, vom Keller zum Söller, von Gedanken umsponnen wie von einem unsichtbaren Hofstaat. In der Einsamkeit wurde ihr Blut heißer und lauter, ihr Gesicht blasser und stiller. Mit Menschen kam sie kaum zusammen. Der Herr Konservator war ein Einsiedler gewesen Zeit seines Lebens, die späte Ehe sollte ihm seine Gewohnheiten nicht stören. Die Selbstsucht des Alters war in ihm. Die Vorstellung, daß die Jugend neben ihm, weil sie nun doch einmal an seiner Seite einherschritt, nicht mit seinen Augen sehen, nicht mit seinen Gefühlen empfinden, nicht seine Liebhabereien und Abneigungen teilen sollte, lag ganz abseits seiner Begriffswelt. Weil er sich wohl und warm fühlte, glaubte er dasselbe von seiner jungen Genossin. Da sein Alter nichts entbehrte, wähnte er ihre Jugend in heiterer Zufriedenheit. Nur so verstand er ihren Blick, der schweifend ins Blaue ging oder starr auf einen nahen Punkt gerichtet blieb.

»Freue dich, Maria, heute abend – heute abend bring’ ich dir ein seltenes Blatt.«

Und sie nickte und dachte, während sie ruhelos durch das Haus schritt, an den fürstlichen Erbauer, und ob er der die Arme öffnenden Frau auch Raritäten aus seinen vergilbten und verstaubten Sammlungen gebracht oder den Pulsschlag des Lebens …

Einmal nur, einmal nur einen Gruß erhalten aus dem Liebesjauchzen der Welt! Wie ein Geschenk würde sie ihn bewahren, ihn mit warmen Händen umhüllen wie ein heimliches Licht, wenn auf der Tischplatte die schwarzen Bilder raschelten, und das Haus mit seinem Glanz erfüllen, wäre sie allein und – nicht mehr allein.

Und die Jahre reihten sich aneinander.

Die Stimme des Lebens, die eilig durch die Hauptstraße der Stadt zum Schlosse fuhr und eilig zurück, fand den Weg nicht zu dem vergessenen Häuschen des Rokoko. So angstvoll die Jugend in Frau Maria auch aufhorchte, immer war es nur das eigene Blut, dessen wehes Weinen sie vernahm. Es kam keine Antwort von draußen.

Die Zeiten des Rokoko waren dahin. Die Tugend schlurfte auf lautlosen Socken von Haus zu Haus und äugte durch die Schlüssellöcher. Und die unkundige Frau Hofrat, die vor Jahren einen Ballabend lang einen Verehrer von der Leibkompanie gehabt hatte, lächelte noch immer mit rotgeweinten Augen.

Da wurde Frau Maria so müde, daß ihr das Wispern des Taxus und der Platanen, das Duften des Schloßparks Schmerzen bereitete. Und ihr Wunsch an das Leben wurde immer kleiner, scheuer und bescheidener, der Dornröschenschlaf gewann immer leichtere Arbeit.

»Rate, Maria, was ich dir heute bringe?«

»Einen Kupfer,« sagte sie, »wenn es hoch kommt: eine Radierung.«

»Das wäre mir auch lieber. Die Arbeit wächst und wächst, und jede Art Ferien sind mir ein Greuel.«

»Willst du Ferien machen?« fragte sie, und ihr Atem ging auf einmal schneller.

»Einen kostbaren Abend lang. Es ließ sich nicht umgehen. Die höhere Beamtenschaft vereinigt sich Dienstag mit ihren Damen zu einem Festessen, zu Ehren eines Dienstjubiläums des Fürsten. Liebste, es wird dir gerade wie mir schwer fallen, unser Tuskulum zu verlassen. Aber es muß sein.«

Sie trug Sorge um ihre Toilette. Die Zeit war knapp. Aber er beruhigte sie. »Das einfachste Kleid wird das schönste sein. Ein Sammler hütet seine Schätze.«

Aber eine geheime Mädchenunruhe ließ sich doch nicht bannen. Jeden Tag, wenn sie allein war, stand sie vor ihrem Kleiderschrank, prüfte, verwarf, entschied sich und begann zu ändern und zu verschönern. Der Spiegel lachte sie an, und sie lachte den Spiegel an. »Ein Sammler hütet seine Schätze,« klang es in ihrem Ohr. »Für wen? Wofür …?« Sie schloß die Augen. An dem Kleide änderte sie nicht mehr. – –

Der Tischnachbar, der ihr bestimmt war, hatte im letzten Augenblick wegen eines Podagraanfalles absagen müssen. Aber der Frau Hofrat war unerwartet der Besuch ihres Bruders zugefallen, und ihr Gatte hatte ihm eine Einladung verschafft. So wurde der leere Platz neben Frau Maria besetzt. Es kam fast wie eine Verwunderung über sie, daß sie nicht auch hier allein blieb.

»Gnädige Frau, ich meine, Sie wiederzuerkennen. Habe ich den Vorzug mit der Tochter des Geographen Professor Neuhoff?«

»Er war mein Vater.«

»Und ich, gnädige Frau, war sein Schüler. Ich habe Ihrem Herrn Vater vieles zu danken. Vor allen Dingen die Begeisterung.«

»Die – Begeisterung?«

»Wundert Sie das? Und Sie sind seine Tochter?«

»Ich habe es in der Zurückgezogenheit dieser Stadt fast vergessen.«

»Sie scherzen, gnädige Frau. So etwas vergißt sich nicht. Ich habe ja nicht einmal vergessen, daß ich sein Schüler war. Und ich habe ihn weidlich bestohlen. Ja, ja, schauen Sie nur so erschreckt. Bestohlen um seine frohe Lebensanschauung, seine Begeisterung und nicht zuletzt um den Drang, die Welt zu durchqueren, Länder und Meere zu durchforschen wie er. Ach, Sie hätten ihn im Kolleg und auf Spaziergängen schwärmen hören sollen.«

»Sie wollen eine Forschungsreise unternehmen?«

»Ich habe mich auf drei Jahre einer Expedition durch Zentralasien verpflichtet. Eine ebenso lange Reise durch Afrika liegt hinter mir. Morgen um diese Zeit führt mich der Schnellzug nach Genua. Dort geht’s zu Schiff.«

»Sie Glücklicher« – –

»Und Sie, gnädige Frau? Treibt es Sie nicht auch zuweilen, als müßten Sie auf Forschungsfahrten hinaus?«

»Ich streife täglich durch mein Haus, vom Keller bis zum Söller.«

Er sah sie an. »Da ist nicht das Leben.«

»Nein, da ist es nicht.«

Sie spielte stumm mit den Brotkügelchen auf der damastenen Tischdecke, und er drehte den Fuß seines Weinrömers hin und her. Dann suchte er ihren Blick. Der ruhte auf einem ältlichen, glattrasierten Herrn in altmodischem Frack.

»Ihr Herr Gemahl?« fragte er und beugte sich kaum merkbar zu ihr.

»Mein Gatte, Direktor Hubertus, Konservator der fürstlichen Sammlungen.«

»Ah – –.« Er lehnte sich zurück und schwieg. Nur seine hellen Augen gingen von ihr zu ihm, von ihm zu ihr. Und er hörte ihr tiefes, langes Atemholen.

»Wollen Sie mir nicht etwas vom – Leben erzählen, Herr Doktor Bracht? Ich werde eine aufmerksame Zuhörerin sein.«

Er trank hastig sein Weinglas aus.

»Vom Leben? Das läßt sich nicht erzählen. Das muß man selber erleben.«

»Es kommt nicht hierher. Wenigstens nicht bis an mein abseits gelegenes Haus. Ich glaube – es fürchtet sich vor den vielen toten Kupferstichen meines Mannes.«

Es sollte scherzhaft klingen, aber es hatte einen zitternden Unterton.

»Damit, freilich, verträgt sich das Leben nicht. Es gibt Herzblut, und es verlangt Herzblut.«

»O, wenn es nur darauf allein ankäme« – –

Er sah, wie ihr das Blut unter der Haut emporstieg und ihr langsam Hals und Wangen rötete. Welch eine seltsame Frau! …

»Sie sind mir Schadenersatz schuldig, Herr Doktor. Sie haben meinen Vater bestohlen, und nun müssen Sie mir von den aufgelaufenen Zinsen zurückgeben.«

Da begann er zu erzählen. Von den Wundern des Mittelmeeres und seinen Gestaden, von dem sonnendurchglühten Leben des Südens, von der Pracht der Welt und der Freude der Menschen. Und wie jede Gefahr, selbst die nervenzerrüttenden Strapazen im mittelafrikanischen Hochgebirge, immer wieder zur Freude würde, weil man seine Kraft gespürt hätte, ach, diese herrliche Kraft!

Sie saß ganz still und trank ihm die Worte vom Munde.

»Ich glaube, Sie wären ein prachtvoller Kamerad, gnädige Frau. Jung und gesund und nicht klein zu kriegen.«

»Ich bin sehr klein geworden.«

»Aber Sie würden wachsen, in der Sonne, in dem frischen Seewind, hoch oben auf dem freien Gebirgskamm. Dort lohnt sich das Alleinsein, hier unten nicht.«

»Ja, ich würde wachsen,« sagte sie ganz ruhig. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«

Die Tafel wurde aufgehoben. Aber Robert Bracht blieb an Frau Marias Seite.

»Wissen Sie auch, daß das auffällt, Herr Doktor? Ihre Frau Schwester hat an einem Ballabend dreimal mit einem Hauptmann getanzt. Davon geht hier heute noch die Sage.«

»Ich weiß. Und sie weint sich heute noch die Augen deshalb rot. Als wir uns zum Feste rüsteten, hat sie es mir wieder klagen müssen. Würden Sie sich deshalb auch die Augen rot geweint haben?«

»Ich? O nein. Ich würde in dieser Trostlosigkeit dankbarer sein. Selbst für eine kurze Erinnerung.«

Nun sah er sie mit offenem Staunen an. Ihre Schönheit hatte etwas Schmerzendes. Das rief den Mann in ihm auf, den Ritter der Hilfsbedürftigen und Bedrängten.

»Gnädige Frau, ich war der Schüler Ihres Herrn Vaters, in der Wissenschaft und in der Lebenskunst. Gestatten Sie mir, daß ich die tiefe Freundschaft, die ich für ihn empfand, und die durch seinen Tod vakant geworden ist, Ihnen, seiner Tochter, zur Verfügung stelle?«

Seine hellen Augen blitzten sie an. Unwillkürlich reckte sie ihren schlanken Körper, als ginge ein Lebensstrom hindurch. Dann nahm sie seine Hand. »Ich will es Ihnen gedenken, wenn Sie draußen, in der Wildnis sind.«

»Und ich will aus meiner Wildnis heraus an Sie in Ihrer Einöde denken. Das wird uns beiden gut tun.«

»Ja,« sagte sie und gab seinen Händedruck zurück. – –

Hatte sie ein Erlebnis gehabt? War doch der Gruß des Lebens zu ihr geflattert, und sie hielt ihn in bebenden Händen? Sie sann im Dunkel ihres Schlafzimmers vor sich hin, mit ganz feinfühligen, feinhörigen Sinnen. Draußen raunten die Platanen und wisperte der Taxus. Von dem ausgelassenen Fürstenliebchen? Von der stillen Maria, die zum ersten Male in ihrer Schlafkammer leise gelacht? –

Sie hatte einen Freund, an den sie denken durfte. Sie war nicht mehr allein. Den Altersgeruch der Kupferstiche würde sein frischer Odem aus der Ferne wegwehen. – –

»Das Bankett, meine liebe Maria, ist mir nicht günstig bekommen. Auch du siehst nicht aus wie sonst. Doch nicht Fieber?«

Sie lächelte, daß er ihre Jugend für Fieber nahm.

Als er, wie alltäglich, sein Amtszimmer in den fürstlichen Sammlungen aufgesucht hatte, wanderte sie, wie alltäglich, durchs Haus. Und dennoch nicht wie sonst. Ihre Füße schritten leichter, ihre Augen blickten lebendiger, und wenn sie an einem Fenster in Gedanken versunken stehen blieb, hatten ihre Gedanken ein Ziel. Den Freund!

Noch wenige Stunden, und er würde sich reisefertig machen. Jetzt dachte er her. Das war wie ein Gruß. – –

Und in ihren Ohren klang es wieder: »Frau Maria –«

Sie wandte sich um. Wurden ihre Träume körperlich? »Herr Doktor – – gerade dachte ich an Sie.«

»Und daß ich es auch tat, sehen Sie daran, daß ich vor Ihnen stehe.«

»Ich soll diese Rosen haben, diesen wundervollen Strauß?« Sie vergrub ihr Gesicht in den Kelchen. »Ich kann Ihnen gar nicht danken,« murmelte sie in die Blätter, »ich bin nicht daran gewöhnt.«

»So unglücklich sind Sie, Frau Maria?«

»Jetzt nicht mehr« …

»Weshalb mußten Sie diese Heirat eingehen?«

»Um nicht zu verkommen.«

»Ich bin mit hundert Mark in der Tasche aus dem Elternhaus gegangen und nicht verkommen,« stieß er zornig hervor. »Hatten Sie denn überhaupt keinen Mut?«

»Ich meine, ich habe ihn gezeigt,« sagte sie ohne Auflehnung, und sein Zorn tat ihr wohl.

»Eine gute Versorgung eintauschen, ist das ein Mut? Was wollen da später die Klagen!«

»Ich habe den guten Namen meines Vaters, Ihres Freundes, eingetauscht.«

»Vergebung,« stammelte er betroffen. »Das habe ich nicht gewußt.«

»Sie sehen also, der Handel hat seine Früchte getragen. Kein Mensch, der nicht heute noch das Andenken meines Vaters ehrt. Meines schönen, fröhlichen Vaters … Und ich habe mich zur Buße in eine Raritätensammlung begeben.«

»Frau Maria – können Sie sich – nicht frei machen?«

»Den Käufer um seinen Preis betrügen? Lieber Freund, er hat im guten Glauben gehandelt. Soll ich kleiner denken?«

»Frau Maria, ich habe die ganze Nacht, den ganzen Morgen an Sie gedacht.«

»Und ich – an Sie.«

»Maria, spotten Sie nicht?«

»Soll ich Sie dasselbe fragen?«

»Maria« – er streckt die Hände nach ihr – »welch ein Zauber geht von dir aus!« – –

»Und welch ein Zauber von dir!«

»Ich werde die Sehnsucht nicht mehr los werden.«

»Und ich nicht mehr das Glück. Da bin ich reicher.«

Er hielt sie in seinen Armen, ganz fest, als müßte er sie sich in dieser einen Umarmung zu eigen machen. Er küßte ihre Lippen, ihr Haar, und die Linien ihres Körpers streichelnd, sagte er nur: »So schön bist du – so schön bist du.« – –

Da stiegen ihr die Tränen in die Augen und hingen wie strahlende Perlen an ihren dunklen Wimpern.

»Geh jetzt, Liebster. Nun hat mich das Leben geküßt und gesegnet. Nun wird mir alles leicht.«

»Auch das, mich aufzugeben?«

»Ich dich aufgeben? Wo ich jetzt immer bei dir sein werde? Nun kannst du mich ja gar nicht mehr verlassen, und ich dich nicht. Während du die Welt durchquerst und im rauschenden Leben stehst, sitze ich hier in meinem kleinen, weißen Rokokohaus und träume von meinem fahrenden Ritter, der mir Welt und Leben hereinholt. Ich brauche dich nur zu rufen, ganz unhörbar, und du bist bei mir, und meine Kammer ist voll Sonne und frischem Lebensduft. Und wenn ich mich um dich ängstige, mache ich mich in Gedanken auf und nehme teil an deinen Gefahren und deinen Siegen. Und an deiner Freude, die nun die meine ist.«

»Ich werde lange fortbleiben« …

»Was tut das? Es gibt für mich keine Zeit mehr.«

»Und wenn ich dich noch immer unfrei wiederfinde?«

Sie schüttelte den Kopf. »Selbst wenn du unfrei würdest, ich würde es gar nicht bedenken. Ich würde trotzdem Tag und Nacht mit dir wandern, mit meiner Liebe und mit meiner Sorge. Und mein Haus würde immer voll von dir sein.«

Er preßte sie an sich und küßte sie auf Lippen und Haar.

»O du Träumerin, du wirst meine Sehnsucht nach der Stille sein.«

Und sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn wieder. »Ich habe dich ja so lieb. Ich habe in dir ja das Leben so lieb.« … – – –

Und Herbst kam und Winter. Und wieder der Frühling, wieder der Sommer. Frau Maria merkte es nicht. Sie merkte nicht die Dumpfheit der kleinen Residenz und nicht die Einsamkeit des kleinen, weißen Hauses. Sie merkte nicht die Langeweile der Kunstblattbetrachtungen und nicht den Altersduft, der aus den Blättern stieg, die dem emsig forschenden Gatten das Leben bedeuteten. Mit leuchtenden Augen ging sie umher, mit horchenden Ohren blieb sie stehen, sie lachte, sie sang, mit geschäftiger Seele von früh bis spät. Sie war nicht in der Einsamkeit, sie war in der brausenden Welt, die seiner seligen Kraft bewußt werden läßt den, der sie überwindet. Denn ihre Seele schwang sich hoch über Stadt und Land und tauschte mit dem Leben Grüße. Mit dem Leben, von dem sie geküßt worden war und in dem einen berauschenden Kuß stark gemacht, es zu ertragen. – – –

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