Zweiter Frühling

Über den Ponte Vecchio von Florenz schritt an einem glühenden Junimorgen ein junger blonder Mann in grauem Touristenanzug, den weichen, breitkrempigen Filzhut weit in den Nacken geschoben. Die Szenerien am Arnoufer mußten ihm bereits bekannt sein, denn er wandte die Augen weder rechts noch links, hielt die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben und pfiff beim Gehen leise vor sich hin. Er bog in die Via dei Guicciardini ein und strebte, wie selbstverständlich, die Anhöhe hinan, auf der im Schmucke des Boboligartens der Palazzo Pitti seine mächtige Fassade streckt. Hier wartete er, die Uhr in der Hand, bis die Glocken aus der Stadt die zehnte Morgenstunde herüberriefen und der Palast seine Pforten den Besuchern der Galerie öffnete, stieg alsbald die Stufen bis zum zweiten Stockwerk empor, durchschritt ohne Aufenthalt den Saal der Ilias, nur einen liebevollen Blick mit dem Meisterwerk Giorgiones, dem Konzert des Augustinermönches, tauschend, und gelangte in den Saal des Saturnus.

Noch war er der einzige Gast in dem prunkenden Bau, den die Eifersucht auf die Medici errichtete. Der tägliche Schwarm der Italienreisenden überschwemmte noch nicht die Säle, und die störenden Bemerkungen der Philister drängten sich um diese Stunde nicht in die Andacht des Wissenden und Lernenden.

Vom Saal des Saturnus wandte sich der junge Mann gleich der linken Wand zu, blieb vor einem Gemälde stehen und nahm den Hut vom Kopf. Raffaels Madonna della Sedia schaute ihn aus großen glückstrunkenen Mutteraugen an – –.

»Ja,« dachte er, und es war eine große selbstlose Freude in ihm, »so sieht das Glück aus … Eine glückliche Mutter! Kann es etwas Glückseligeres geben?«

Er setzte sich auf ein Polster, drückte den Hut zwischen die Kniee und blieb im Ansehen versunken.

Aus dem anstoßenden Saal kam ein leichter Schritt. Ärgerlich wollte der einsame Beschauer die Brauen runzeln. Aber schon flog ein Lächeln des Erkennens um seinen Mund, und er ließ sich nicht stören. Doch nach einigen Minuten konnte er nicht anders, als heimlich den Kopf zur Seite zu wenden. Nur, um sich zu vergewissern, ob sie es auch wirklich war, die sich seit den acht Tagen, die er nun in Florenz weilte, mit ihm in den stillen Kultus des Madonnenbildes teilte. Nein, er hatte sich auch heute nicht getäuscht. Einen kleinen bemalten Fächer in den Händen, stand sie seitwärts von dem Bilde, auf das sie den Blick mit einem eigentümlichen Ausdruck sinnend geheftet hielt.

Der junge Mann beobachtete sie jetzt schärfer. Sein Interesse an der Dame, die seiner Schätzung nach Ende der Zwanziger stehen mochte, war schon seit Tagen geweckt, ja, wenn er sich genauer Rechenschaft ablegen wollte, seit der Morgenstunde, in der er sie zum ersten Male vor dieser Bilderperle angetroffen hatte und ihm die Schönheit ihres dunkelbraunen Haares, der braunen Augen, die so ungewöhnlich groß aus dem feinen Antlitz leuchteten, aufgefallen war. Die Formen ihres Körpers, die das seltsame Gemisch von frauenhafter Anmut und der leichten Grazie des Mädchens zeigten, waren von einem duftigen Kleide aus weißem Spitzenstoff umhüllt, der schmale Fuß erwies sich elegant beschuht, die Hände bedeckten fein durchbrochene Handschuhe aus Seidengewebe, die sich bis zur Mitte des schön gerundeten Armes hinaufzogen. Im Gürtel der zarten, biegsamen Taille staken ein paar dunkelrote Rosen.

Die Dame schien den Blick zu empfinden. Sie tat ein paar Schritte, um aus der Sehlinie ihres einsamen Gesellschafters zu kommen und maß ihn dabei kühlen Auges. Aber der Ausdruck echtester, staunender Bewunderung auf dem offenen Gesicht des jungen Mannes machte sie stutzen, eine leise Röte huschte über ihr Gesicht, sie lächelte fast ein wenig und verließ bald darauf den Saal, da von draußen die Stimmen neuer Besucher ertönten. Auch der junge Tourist hatte sich erhoben und war, ohne es eigentlich zu wollen, der Dame gefolgt. In schicklicher Entfernung von ihr schritt er dahin und bewunderte die elegante Figur und die sichere Grazie des Ganges. Der Weg führte am Ufer des Arno entlang, dann rechts ab und hinauf zum Piazzale Michelangelo, dem wunderbaren Aussichtspunkt auf Florenz. Neben dem bronzenen David des Meisters nahm sie auf einer Bank Platz und ließ die Augen über das ferne Häusermeer schweifen, bis sie einen Punkt gefunden hatten, an dem sie hafteten. Und wieder sah der junge Lauscher, der nicht weit von ihr hinter einer breitastigen Platane stand, denselben eigentümlichen, sinnenden Ausdruck des Blickes, mit dem sie Raffaels gemaltes Mutterglück betrachtet hatte, und doch war etwas Neues, Fremdartiges darin, eine Sehnsucht – –.

Wem mochte Blick und Gefühl gelten? Den Klostermauern drüben im Osten der Stadt, die wie ein grauer Fleck inmitten glänzender Paläste lagen? Dazu stimmte nicht Gewand und Haltung. Oder den Palästen selbst, den blühenden Gärten, die heiteres Leben verkündeten? Dazu wieder lag zu viel stille Traurigkeit in dem Blick. Und doch war es Sehnsucht, ein Verlangen, mit dem sie rang. Hier oben auf den Höhen, zu denen sie emporgestiegen war, lagen die stillen Wonnen des Sommers ausgebreitet, und unten in der Stadt, die sie verlassen hatte, pulste das frühlingsfrische Leben des ewig jungen Florenz.

Wohl eine Stunde war vergangen. Droben vom Kirchlein San Miniato klang eine Mittagsglocke. Noch einen langen Blick warf die Dame auf das Panorama zu ihren Füßen, und langsam ging sie den Weg zurück, dem Arno zu, über die Brücke in die innere Stadt bis zum Dom, wo sie in einem Privathotel verschwand. »Maison Nardini,« las der junge Mann. Und in einer Stimmung, die er nicht begriff, die aber sein ganzes Innere mit sonderbaren Bildern und Wünschen erfüllte, umschritt er den Domplatz, kehrte zu dem Hotel zurück und riß sich endlich mit Gewalt los, um sich nach der Post zu begeben und nach Briefen für den Baumeister Karl Erkelenz zu fragen. Er fand Nachrichten vor aus der deutschen Universitätsstadt, an deren Hochschule er eine Assistentenstellung bekleidete, las sie teilnahmslos durch und befand sich plötzlich wieder vor dem Hotel Nardini. Kurz entschlossen trat er ein, erkundigte sich bei dem Wirt nach einem Zimmer, und schon am Nachmittag trug ein Dienstmann das geringe Gepäck aus seinem bisherigen Hotel in die Pension Nardini. Über sein Tun war er sich nicht im geringsten klar, aber er betrieb die Übersiedlung so schnell, um nicht Zeit zu finden, erst darüber nachzudenken. Er wußte nur eins: er handelte im Banne dieser großen, braunen, sehnsüchtigen Augen.

Die elektrische Klingel rief zum Siebenuhrdiner. Erkelenz hatte seine grauen Touristenkleider mit einem schwarzen Anzug vertauscht und saß bereits auf dem Platz, den ihm der Aufwärter angewiesen hatte. Nur wenige Gäste waren anwesend. Die meisten der Hotelbewohner hatten die Schönheit des Tages zu weiteren Ausflügen benutzt, von denen sie noch nicht zurückgekehrt waren. Die minestra war als Vorspeise herumgereicht worden, der Aufwärter tauschte klappernd die Teller, und noch immer wollte sie nicht erscheinen, um derentwillen der junge Baumeister Pensionär des Signor Nardini geworden war. Er begann nachgerade unruhig zu werden und sich im stillen Vorwürfe über sein übereiltes Tun zu machen. Wer bürgte denn dafür, daß die Dame in diesem Hotel wirklich Wohnung genommen hatte? Konnte sie heute mittag nicht zu einem kurzen Besuch hier eingetreten sein? Vielleicht gar, um bei Bekannten einen Abschiedsbesuch zu machen. Wahrhaftig, damit wäre das lange, stille Verweilen bei der Davidstatue in Einklang zu bringen gewesen, das einem Abschiednehmen so ähnlich sah. Es war ein kindischer Streich, ohne jeden Anhaltspunkt mit Sack und Pack hierher zu ziehen, und Erkelenz fühlte, wie ihm die gute Stimmung abhanden kam. Er war doch, weiß Gott, nach Florenz gekommen, um sich über alte Baudenkmäler und nicht über junge Frauen zu unterrichten. Über junge Frauen! Er hatte Zeit seines Lebens noch nichts von ihnen gewußt, und seine Kameraden hatten ihn weidlich wegen seiner Weiberscheu gehänselt.

Da öffnete sich die Tür. Und errötend bis unter die Haarwurzeln machte der Baumeister der Dame, die sich ihm gegenüber niederließ, eine ungeschickte Verbeugung. Sie war es, die er erwartet hatte. In demselben weißen duftigen Kleide.

Erkelenz wagte kaum von seinem Teller aufzusehen. Der große, erstaunte Blick, mit dem sie seinen Gruß erwidert hatte, hatte ihn in eine knabenhafte Verwirrung versetzt.

Um ihn herum wurde in vielen Zungen parliert. Nur sein schönes Gegenüber beteiligte sich nicht an der Unterhaltung und spielte schweigend mit den Blumen auf der Tafeldecke.

Dieses Schweigen wurde dem jungen Baumeister von Minute zu Minute peinlicher. Bei seiner geringen Weltkenntnis glaubte er einen stummen Verweis für seine Anwesenheit darin zu erblicken. Aber das Auge der Dame ruhte so unbefangen und freundlich auf ihm, daß sein frischer Jugendmut mit einem Schlage zurückkehrte.

»Befehlen Sie diese Früchte?« fragte er bescheiden und bot ihr die Schale.

Sie nickte dankend und begann eine Orange abzuschälen. Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie die goldgelbe Frucht zwischen den feinen Fingerspitzen drehte. Da traf ihn ihr lächelnder Blick, und er wurde rot wie ein ertappter Sünder.

»Darf ich Ihre Freundlichkeit erwidern?«

Die Stimme klang so weich und angenehm, und er beeilte sich, eins der Orangestückchen, die sie ihm auf ihrem Glastellerchen bot, anzunehmen.

»Gnädige Frau,« sagte er stockend, »ich habe wohl die Ehre, eine Landsmännin zu begrüßen? Gestatten Sie mir: mein Name ist Erkelenz.«

»Sie haben recht geraten,« erwiderte sie, seine Namensnennung mit einer Kopfneigung entgegennehmend. »Ich befinde mich nur vorübergehend in Florenz.«

»Und wird es Ihnen nicht schwer werden, diese herrliche Stätte wieder zu verlassen? Ich,« fuhr er mit jugendlicher Begeisterung fort, »bin wie berauscht von den Wundern der Stadt. Diese verschwenderische Fülle von Baudenkmälern, von Palästen und Kirchen, von meisterlichen Bildhauerwerken und Gemälden! Ich meine oft, ich könnte mich nicht mehr losreißen.«

»Sie sind Maler?« fragte sie und sah mit Vergnügen auf sein glühendes Gesicht.

»Nein, gnädige Frau, ich bin Baumeister. Aber gerade der Baumeister soll ja Sinn für alles Schöne haben, denn er soll alles Schöne in der Architektur, der Plastik und der Malerei zu einem harmonischen Ganzen verbinden. Der Baumeister ist der berufene Vermittler in der Kunst.«

»Wenn er selbst ein Künstler ist.«

»Das muß er sein, oder er ist kein Baumeister, sondern ein Bauhandlanger. Der Meister darf von der Form den Inhalt nicht trennen.«

»Sie nehmen trotz Ihrer Jugend Ihren Beruf sehr ernst. Sie müssen einen trefflichen Lehrer gehabt haben.«

»Meine Mutter, gnädige Frau.«

Er sagte die wenigen Worte mit so tiefem Gefühl, daß es sie durchzuckte.

»Ihre Frau Mutter,« meinte sie leise, »muß sehr glücklich sein.«

Er schwieg einen kurzen Augenblick, als wenn er sich besänne. Dann begann er offenherzig: »Im Palazzo Pitti hängt ein Bild, das schönste, das ist meine Mutter.«

»Sie meinen die Madonna della Sedia?«

»Ja, das Raffaelsche Wunderwerk. Der Meister muß es in Gedanken an seine Mutter gemalt haben, wenn er auch ein fremdes Modell benutzte. Liegt nicht ein ganzer Himmel in ihrem Auge? Nicht ein Himmel, den sie für sich begehrt. Nein, sie selbst ist nach echter Mutterart voll lächelnder Zufriedenheit still untergetaucht, um in ihrem Kinde glückselig aufzuerstehen zu einem zweiten Leben. In ihrem Kinde, für das sie die Welt und den Himmel beansprucht. Sie bringt in ihrem Sinn damit kein Opfer, nein, sie ersehnt darin ihr höchstes Glück. Das ist eben das Wunder. Und so ist meine Mutter.«

Die schöne Frau spielte gedankenvoll mit der Schale der Orange.

»Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Mutter,« bat sie.

»O, gnädige Frau,« versicherte er fröhlich, »in ihrem Leben ist nicht viel Bemerkenswertes. Sie ist eine einfache Frau, die mich nach dem frühen Tode meines Vaters mit Verleugnung aller eigenen Wünsche erzogen hat. Das Beste kann man ja nicht erzählen, ich meine ihre Liebe. Aber sie wird auch hierin keine Ausnahme unter den Müttern bilden. Ich wenigstens vermag mir eine Mutter gar nicht anders mehr vorzustellen.«

»Es wird schwül im Zimmer,« warf sie plötzlich ein. »Unsere Tischnachbarn haben sich schon ins Freie gerettet. Ich werde ihrem Beispiel folgen. Auf Wiedersehen, mein Herr.«

Auch Erkelenz erhob sich schnell und machte seinem Gegenüber eine tiefe Verbeugung.

»Würde die Bitte nicht unbescheiden sein,« brachte er zögernd hervor –

»Wollen Sie mich auf meinem Spaziergang begleiten?« Sie hatte ihm den Wunsch abgelesen und kam seiner Verwirrung schnell zu Hilfe. »Ich gehe nach den Cascinen, dem Prater. Wenn es Ihnen also Vergnügen macht – ich hole nur meinen Hut.«

Nach wenigen Minuten war sie zurück. Und als er neben ihrer Anmut einherschritt und der Ton ihrer Stimme um ihn war, fühlte er sich in eine Stimmung eingesponnen, die wie ein Beglücktsein war und wie eine Unruhe zur selben Zeit.

»Nehmen wir bis zum Parkeingang einen Wagen?« fragte er. »Die Dämmerung könnte zu schnell hereinbrechen.«

»Wenn Sie mir gestatten, Sie einzuladen?«

»Aber, gnädige Frau,« protestierte er, »wie wäre das möglich?«

»Unbesorgt,« lachte sie mit einem Anflug von Schelmerei. »Sie vergeben sich nichts. Ich bin die ältere.«

»O, gnädige Frau, was sagen Sie da? Die ältere? Nein, nein, damit überrumpeln Sie mich nicht.«

»Und Sie selbst gaben mir von Anfang an den Titel ›Frau‹, ohne mich zu kennen.«

»Das war der Respekt vor Ihrer lieblichen Würde.«

»Nicht schmeicheln,« entgegnete sie ruhig, »das kleidet Sie nicht.«

Er konnte heute des Rotwerdens nicht Herr werden, und sie sah es mit heimlichem Gefallen.

»Gnädige Frau,« stotterte er, »ich schmeichle nicht. Wie kann man dort schmeicheln, wo es der Gegenstand gar nicht bedarf. Aber etwas schön finden, was in seiner Natur schön ist, das kann nicht beleidigen, weil es wahr ist. Und die Wahrheit darf ich sagen und Sie dürfen sie anhören.«

»Wenn ich Sie noch weiter sprechen ließe, würden Sie mich zu einer Aphrodite stempeln.«

»Ja,« sagte er ehrlich.

Nun war es an ihr, eine heiße Welle zu empfinden, die vom Herzen in die Wangen drang. Sie wandte sich schnell zur Seite, rief einen Kutscher heran, der sich längst schon durch lebhafte Gebärden bemerkbar zu machen versuchte, und stieg in den Wagen.

»Nehmen Sie Platz, Herr Baumeister, ich bin und bleibe doch die ältere.«

Der Wagen rollte den Cascinen zu. Erkelenz hatte sich auf dem rückwärtigen Polsterbänkchen niedergelassen und schaute, die Hände zwischen den Knieen gefaltet, stumm zu ihr auf, die in den Fond gelehnt ihren Gedanken nachzuhängen schien.

»Ist es nicht wunderbar,« begann sie plötzlich, »daß wir wie alte, gute Freunde durch Florenz fahren, und kennen uns doch erst seit einer Stunde?«

»Wenn es ein Wunder ist,« erwiderte er leise, als wollte er die Stimmung nicht zerreißen, »so ist es ein schönes Wunder, für das ich nach Dank suche.«

Sie sah ihn einen Moment voll an und die langen Wimpern zitterten ein wenig.

»Auch sind Sie mir nicht so ganz unbekannt,« gestand er. »Ich kenne Sie schon lange. Von der Madonna della Sedia her.«

»Seit acht Tagen,« nickte sie. »Ich sah Sie täglich dort.«

»Sie waren so gütig, mich zu bemerken?« rief er. Und unbekümmert darum, daß sie in einem offenen Wagen fuhren, beugte er sich rasch vor und küßte ihre Hand.

Sekundenlang schloß sie die Augen. Dann, mit einem Blick voll liebevoller Nachsicht, sagte sie nur: »Sie großes, törichtes Kind.«

Bei ihm aber, der gefürchtet hatte, gescholten zu werden, war der Bann gebrochen. Er begann zu schwatzen und zu lachen, erzählte tausenderlei Dinge von seiner Heimat, seiner Mutter, seinen Universitätsjahren und den tollen Studentenstreichen, seiner Assistentenstellung, die er sich gleichzeitig mit dem großen Preis für die beste Examensarbeit errungen hatte, der ihm jetzt die Italienreise ermöglichte, und seinen Aussichten, in ein paar Jahren eine Professur zu erlangen, falls er nicht doch noch die Praxis vorzöge. Und mit einem Male verstummte er, sann vor sich hin und lachte wieder.

»Weshalb lachen Sie?« fragte sie und betrachtete sein jugendfrisches Gesicht mit steigendem Wohlgefallen.

»O –« machte er überrascht.

»War es etwas Schönes, so müssen Sie die Wahrheit sagen.«

Er wurde verlegen und stammelte: »Ich – ich – nein, es ist zu närrisch.«

»Haben Sie kein Vertrauen zu mir?«

»Alles, alles!« beteuerte er hastig, »und ich will’s auch gestehen, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich auslachen.«

»Das werde ich gewiß nicht tun.«

»Nun. Können Sie sich denken, daß mich sowohl meine früheren Kommilitonen wie auch meine jetzigen Kollegen für – seien Sie mir nicht böse, wenn ich mich drastisch ausdrücke – für weiberscheu halten? Und da fiel mir ein: wenn sie mich jetzt sähen, jetzt in diesem Augenblick – ah, wie sie mich trotz ihrer großen Frauenkenntnis beneiden würden.«

Sie hatte den Fächer hochgehalten, als ob die Abendsonne sie belästige. Aber hinter dem bemalten Stückchen Seide verbarg sie ein stilles Lächeln. Als sie den Fächer sinken ließ, sah er ihre Augen in heiterer Güte auf sich gerichtet.

»Daß Sie Ihr Herz nicht verzettelt haben,« sagte sie warm, »das ehrt Sie nur. Dafür verdienen Sie einmal recht glücklich zu werden. Man soll seine heiligsten Gefühle nie verzetteln.«

Sie nahten sich dem Eingang der Cascinen.

»Hier wollen wir aussteigen. Ist es Ihnen recht, durch den Park zu promenieren?« fragte sie. »Aber Sie wissen noch immer nicht meinen Namen. Verzeihen Sie mir.«

Sie nahm ein Täschchen aus ihrem Gürtel und reichte ihm eine kleine Elfenbeinkarte.

»Frau v. Stein« las er und verneigte sich dankend.

Sie hatte den Kutscher, wie sie es gewünscht, selbst abgelohnt, und nun wanderten sie langsam, in vollen Zügen die Luft des abendstillen Parkes genießend, unter den hohen Baumgruppen einher. Das Gespräch, das sie zuerst fortzusetzen versucht hatten, war ins Stocken gekommen, sie gingen nebeneinander her, wie es langjährige, treue Bekannte oder Liebende tun, wie Menschen, die, ohne die Sprache zu Hilfe zu nehmen, doch im regsten Gedankenaustausch bleiben und sich wortlos Red’ und Antwort stehen. Von Zeit zu Zeit ließ der junge Baumeister einen heimlichen Blick über die Gestalt seiner Dame gleiten, oder die schöne Frau belauschte hinter dem Fächer hervor die Züge seines Gesichtes, in dem die Männlichkeit erwachte. Eine Weile schon waren sie fortgeschritten, als er unvermittelt fragte: »Sie werden doch noch länger in Florenz bleiben?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber Sie reisen doch zu Ihrem Vergnügen?«

»Es muß wohl so sein.«

»Es muß so sein? Ist es denn ein geteiltes Vergnügen?«

»Ich hole meine Tochter ab.«

»Wen?« fragte er ganz überrascht. »Ihr Töchterchen? Haben Sie es mit der Wärterin vorauf geschickt?«

Sie lächelte. Ein glücklicher und doch schwermütiger Zug spielte um ihren Mund.

»Mein Töchterchen, wie Sie es nennen, ist längst von der Wärterin entwöhnt. Sie schickt sich gerade an, in die Welt einzutreten, und denkt im Winter ihren ersten Ball zu tanzen.«

»Also Ihre Stieftochter, gnädige Frau?«

»Nein, nein, meine wirkliche Tochter. Ich werde doch mein einziges Kind nicht verleugnen.«

Erkelenz blieb stehen. Dann schüttelte er den Kopf.

»Sie wollen mich zum besten haben, gnädige Frau. Sie, eine junge Dame im ersten Frühling –«

»Der erste ist vorüber … Er war so kurz und frostig, daß er den Namen nicht verdiente,« fuhr sie fort und sann hinter den Worten her. Dann schrak sie auf und zwang sich zum Scherz.

»Und doch ist es so. Ich bin eine alte Frau.«

»Eine alte Frau in den Zwanzigern,« lachte er.

»Fehlgeschossen! Ich bin bedeutend älter.«

»Bedeutend?« spottete er vergnügt. »Bekommt man im Alter so schöne, junge Augen und so prachtvolles, braunes Haar? Dann möchte ich auch alt werden.«

»Eine alte Frau muß einem jungen Wildfang diese lose Rede wohl nachsehen. Meine Tochter wird morgen siebzehn Jahre alt. Mit denselben Jahren habe ich bereits geheiratet. Heute zähle ich fünfunddreißig Jahre.«

»Aber das ist ja unmöglich!«

»Weshalb finden Sie es unmöglich?«

»Weil – weil – – Aber Sie sind ja noch so jung und so wunderbar schön!«

Sie standen neben einer Bank, über der sich eine mächtige Ulme emporreckte. Weg und Wald lag im tiefen Abenddämmer. Von der Mitte des Parks her, wo die Cafés sich befinden, kamen wehmütige Orgelklänge herübergezittert. »O dolce Napoli,« spielte die Orgel.

Frau v. Stein war bei dem unvermittelten Ausruf des jungen Baumeisters blasser geworden. In dem Dunkel, das sich ausbreitete, glänzten ihre Augen übernatürlich groß. Sie tastete mit der Hand nach der Lehne der Bank und ließ sich nieder. Und als sie eine Weile wie freudig lauschend geradeaus gestarrt hatte, fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen und sagte tief aufatmend: »Welch ein Unsinn.«

Karl Erkelenz wußte nicht, was erwidern. Ihm war zu Mute, als begänne ein Märchen sich anzuspinnen, dessen Fäden ihm noch unsichtbar seien. Am liebsten hätte er sich zu ihren Füßen in das Gras gesetzt und hinausgeträumt in die Welt.

»Zürnen Sie mir wegen meiner Aufrichtigkeit?« fragte er schüchtern.

Die unschuldige Zaghaftigkeit, so unmittelbar hinter dem jugendlichen Sturm und Drang seines Wesens, berührte sie tief. Es lag etwas in seiner Stimme – war es die Ehrerbietung oder die Anbetung oder beides zugleich – was ihr unendlich wohl tat. »Lieber Freund,« sagte sie und reichte ihm die Hand, »welche Frau würde zürnen, weil man sie jung und schön findet. Ich bitte Sie, geben Sie mir Ihren Arm. Es wird dunkel, und wir dürfen uns nicht verirren.«

Sie schritten den Weg zurück, den sie gekommen waren, und er geleitete sie mit einer Vorsicht und Ritterlichkeit über Unebenheiten und Baumwurzeln, die den Weg kreuzten, als führe er eine Prinzessin. Er fühlte das pulsende Leben ihres Armes durch die dünne Spitzenhülle in seinen Körper eindringen. Das verwirrte ihn. Und sie horchte immerfort auf den Schlag ihres Herzens, das heute doppelt laut schlug, und dachte unaufhörlich: »Ob er es vernimmt, wie das törichte Ding in meiner Brust dummes Zeug schwatzt? Ich müßte mich schämen vor dem lieben Jungen.«

Als sie aus dem Park heraustraten, ging sie schnellen Schrittes auf einen Wagen zu.

»Ich werde allein nach Hause fahren. Nein, nein, ohne Widerrede. Genießen Sie den Abend noch, und wenn Sie mögen und Ihre Zeit es Ihnen erlaubt, so holen Sie mich morgen frühzeitig ab, zu einem Ausflug nach Fiesole.«

Er hob sie in den Wagen und küßte ihr die Hand, mit der sie sich auf die seine gestützt hatte. Und er nahm ihre andere Hand und küßte auch diese. Sie schloß die Augen und lehnte sich zurück. »Es ist wie im Frühling,« sagte er, um nur irgend etwas zu sagen.

Sie nickte, mit geschlossenen Augen lächelnd.

Dann fuhr der Wagen schnell davon, und der junge Baumeister folgte ihm langsam, Schritt vor Schritt, und grübelte und lachte, weil er die Gegenwart der schönen Frau noch immer empfand wie eine Wohltat. Und diese Frau wollte alt sein? Er wurde fast übermütig bei dem Gedanken.

Frau v. Stein verbrachte eine unruhige Nacht. Sie lag in den Kissen, mit überwachten Augen, und immer wieder kehrte das Bild des jungen Landsmannes zurück, der sein Herz noch nicht vertan hatte. Ein Recht darauf gewinnen, es sich zu eigen machen und den Dank dafür suchen! Den Dank für den erneuten Frühling. War sie nicht jung und schön? Hatte er es nicht gesagt? Gesagt? Hinausgesungen fast in den Park! Er, der mit den Augen des unschuldigen Knaben und des kühnen Mannes sah. Und eine Sehnsucht hatte sie, eine Sehnsucht nach Liebe –

Sie breitete die Arme weit aus. Und plötzlich kreuzte sie sie über die Brust und ließ den erglühten Kopf auf die Schulter sinken.

Einen Tag noch, und die frommen Schwestern zu Florenz würden ihr die Tochter wiedergeben. – – Neue Sonne! – Sonne aber, die ihr das Abendrot zeigte … »Ada,« murmelte sie, und es klang wie ein Weinen.

Die Augen glühten in die Dunkelheit hinaus, daß sie einen Schmerz empfand, und die Gedanken wirbelten durcheinander. Tochter und Mutter. Das Recht der Jugend. Recht oder Unrecht: träumen und wäre es nur einen Frühlingstag lang. Wie kurz er ist. – –

Als Erkelenz am anderen Morgen im Frühstückszimmer saß und in den neuesten Journalen blätterte, wunderte er sich, daß Frau v. Stein so lange auf sich warten ließ, denn die Uhr schlug neun. Doch jetzt hörte er ihren Schritt. Aber sie kam die Treppe herauf! Sollte sie schon ausgewesen sein?

Frisch und blühend wie ein junges Mädchen trat sie ein, streckte ihm die Hand hin und entschuldigte ihr Säumen.

»Ich war baden,« sagte sie, »der Sommermorgen lockte zu gewaltig. Nun können wir auch sofort aufbrechen, wenn es Ihnen paßt.«

Sie löffelte eine Tasse Schokolade aus, und sie machten sich auf den Weg. Ein tiefblauer Himmel spannte sich über sie, und kein Lüftchen ging. Er hatte sich ihres Plaids bemächtigt und bot ihr, als sie aus der Stadt heraus waren und der Aufstieg begann, den Arm, den sie zuerst ablehnte, dann aber, als der Weg steiler wurde, nahm. Sie hing sich fest ein, bewegte in der Rechten lebhaft den kleinen Sonnenschirm und plauderte so lustig und angeregt, daß ihr Begleiter bald angesteckt wurde und es wieder beiden war, als kennten sie sich seit Kindheitszeiten und hätten sich nichts zu verschweigen. Immer schöner wurde der Tag, und sie blieben wahllos stehen und schauten in den Äther hinauf, um dem Flug eines Falken zu folgen, der im Sonnenglanz seine Kreise zog, oder zur Stadt hinab, die von den grünen Hügeln umgeben wie eine herrlich gefaßte Perle dalag. Dann lehnte sie sich fest an seine Schulter, und er empfand die Berührung als etwas Selbstverständliches. Nachdem sie in San Domenico einen kleinen Aufenthalt genommen hatten, folgten sie dem Bergpfad nach Fiesole, und in dem grünen Hohlweg bückte sie sich nach Blumen, haschte nach den bunten Schmetterlingen, die vor ihnen aufgaukelten, und plötzlich hob sie mit heller Stimme ein Liedchen zu singen an.

»Wie gut Ihnen das steht,« sagte er treuherzig. »Sie glauben nicht, wie wohl ich mich bei Ihnen fühle. Ich habe Glück, das müssen Sie sagen.«

»Weil Sie mich so ausgelassen sehen? Ich vollziehe eine Feier.«

»Eine Feier? Ah, wie romantisch, hier auf altem etruskischen Boden, das Paradies des Arnotales zu Füßen, Sonne und Wonne um sich her. Und was für eine Feier?«

»Meinen Abschied von der Jugend.«

»Gnädige Frau,« grollte er, »so dürfen Sie nicht sprechen.«

»Kommen Sie, kommen Sie, junger Freund, wir wollen uns den Feiertag nicht mit Sentimentalitäten verderben. Ach, ist das schön, ist das schön!«

Sie beschrieb mit ihrem Sonnenschirm einen großen Kreis durch die Luft, sog, die Lider halb gesenkt, den würzigen Duft der Zypressen ein und wandte sich dann hastig, um den Aufstieg fortzusetzen. Ohne eine Spur von Müdigkeit zu zeigen, leicht und graziös schritt sie vor ihm her, und sein Auge haftete mit naivem Entzücken auf dem winzigen Fuß.

In Fiesole besichtigten sie die ehrwürdige Kathedrale und begaben sich weiter zu den Überresten des antiken Theaters und der Arena, den uralten Thermen und zu der Ringmauer aus etruskischer Zeit. Hier war ein lieblicher Platz, um in das frische Mugnonetal hinab seine Träume spazieren zu führen, und sie machten ausgiebigen Gebrauch davon.

Die Mittagszeit war vorüber. Sie hatten in einer einfachen Trattoria ihr Mahl eingenommen, einige Gläser roten Landweins getrunken und wiederum neue Aussichtspunkte aufgesucht, in der Nähe des Klosters, das sich die Söhne des heiligen Franz mit feinem Sinn für Erdenschönheiten hoch oben an der Stelle der alten Akropolis von Fiesole aufgebaut. Über Frau v. Stein kam eine erregte Stimmung. Sie sang, scherzte und neckte sich mit ihrem Begleiter, um gleich darauf in tiefe Niedergeschlagenheit zu versinken, aus der sie sich wieder mit einem plötzlichen Scherzwort oder einem Tasten nach Erkelenz’ Arm herausriß.

»Was ist Ihnen nur, gnädige Frau?« fragte er besorgt.

»Lassen Sie mir doch mein Vergnügen,« rief sie, »Sie sehen ja, daß ich mich freue.«

»Ich kann Ihre rätselhaften Worte vom Abschiednehmen nicht aus dem Kopf bekommen,« entgegnete er.

»Nicht daran denken, lieber Freund, nicht daran denken. Ich möcht’s ja selbst nicht glauben.«

Sie gingen den Weg nach San Domenico zurück, und sie blieb nahe an seiner Seite, als ob ihr etwas Furcht bereite.

»Erzählen Sie mir, was Sie drückt,« bat er. »Ich sehe doch, daß Sie leiden.«

»Woran ich leide?« fragte sie sinnend. »Sie würden es nicht verstehen, wenn ich es Ihnen auch sagen wollte.«

»Versuchen Sie es,« drängte er voll Teilnahme.

»Nun gut. Sie mögen es wissen. Ich leide unter dem, was ich nicht besessen habe, an dem Mangel schöner Erinnerungen, an dem Mangel alles vergessen machender Liebesstunden, wie jedes Weib sie begehrt, die wir nötig haben, wenn wir eine gute Mutter werden wollen, ich – Sie blicken mich betroffen an? Sie denken, sie ist doch vermählt gewesen! Ja, das war ich, aber daß ich früh Witwe wurde, war der schönere Teil meiner Ehe. Mit siebzehn Jahren, die Welt verlangend, an einen Mann gekettet, für den das Leben keine süßen Geheimnisse mehr hatte; sich mit der Neige einer Liebe begnügen müssen, wo das jugendlachende Herz aus dem Vollen schöpfen wollte. Ach, nur ein einziges Mal es können!«

»Aber Sie haben ein Kind,« sagte er leise und drückte unbewußt ihren Arm.

»Ein Kind –?« wiederholte sie. »Ich war ja selbst noch ein Kind, das eben erst seine Puppe in die Ecke gestellt hatte. Ich hatte mich ja selbst noch zu erziehen, wie sollte ich da ein Kind erziehen. Bei einer Reise durch Italien sah ich meine Ohnmacht ein, und ich gab es den frommen Schwestern in Florenz zur Erziehung. Dort wird es wenigstens nicht gelernt haben, den Mann hassen, der die Mutter um den Frühling betrog.«

Sie hatte hastig gesprochen und lehnte sich nun erschöpft an ihn.

»O gnädige Frau,« sagte er bewegt, »Sie haben noch einen zweiten Frühling vor sich.«

Da schlug sie die Augen mit so weher Frage zu ihm auf, daß er in seinem Innersten erschüttert sich zu ihr niederbeugte, um sie auf die Stirn zu küssen, wie man ein krankes Kind küßt. Sie sah, was er tun wollte, und drängte, ausweichend, den Kopf gegen seinen Arm. Und bei der jähen Bewegung zuckte sie zusammen, stieß einen Schrei aus und sank an ihm nieder.

»Was ist Ihnen?«

»Ich habe – die Baumwurzel übersehen. Das Fußgelenk – schmerzt.«

Sie hatte Kindertränen in den Augen.

Er wußte nicht aus noch ein. Und da er sie auf dem Rasen sitzen sah, kniete er vor sie hin. Ganz still und verängstigt.

»Liebe, gnädige Frau – –« Und er stützte ihre Schulter.

»So ist’s gut …«

Er regte sich nicht. Um sie her war der leuchtende Abend. Glühwürmchen tanzten in der Luft wie ein unübersehbar Heer von Sternen, das eine Johannisnacht lang überselig zur Erde nieder durfte. Morgen war es vorbei. Morgen waren die tanzenden Lichtlein in Busch und Hag erloschen, und die Sterne kreisten wieder in den vorgeschriebenen Bahnen. Heute – war es noch Frühling.

Ihr Kopf lag noch in seinem Arm. Keiner wußte, wie lange. Als sie ihn aufrichtete, war ihm, als hätten ihre Lippen sein Herz gestreift.

»Jetzt kann ich gehen. In Domenico finden wir einen Wagen.«

Da hob er sie behutsam auf und führte sie wortlos die Chaussee entlang bis zum nächsten Gasthaus. Hier beorderte er ein Gefährt, und eine halbe Stunde später rollten sie auf Florenz zu. Sie lag schweigend in die Ecke gedrückt und hielt seine Hand. Der Wagen fuhr über das Pflaster der Stadt. Da seufzte sie tief auf, schaute sich verwundert um und ließ wie eine Erwachende seine Hand los.

»Ada wird angekommen sein. Es ist Abend.«

»Ihr Fräulein Tochter?« fragte er verwundert. »Erwarten Sie sie heute?«

»Ja,« erwiderte sie mit seltsamer Betonung, »mein Fräulein Tochter. Wollen Sie mich in meinen Salon begleiten? Wir feiern heute ihr Geburtstagsfest.«

Der Wagen hielt vor der Pension Nardini, und ehe Erkelenz eine Antwort geben konnte, war sie allein ausgestiegen und die Treppe hinaufgegangen. Er zahlte den Kutscher, wartete noch eine kleine Weile ab und folgte ihr. Am Schlüsselbrett las er die Nummer ihrer Zimmer, durchschritt den Korridor und klopfte. Als eine helle Mädchenstimme »herein« rief, klinkte er auf und trat ein.

Auf einem Sessel inmitten des Zimmers saß Frau v. Stein, Wangen und Wimpern zeigten feuchte Spuren, und ihre Hände lagen auf den braunen Locken eines vor ihr knieenden Mädchens.

»Treten Sie nur näher, lieber Freund,« sagte sie mit vibrierender Stimme. »Meine Tochter Ada, Herr Baumeister Erkelenz.«

Das junge Mädchen war aufgesprungen, fixierte ihn einen Moment und erwiderte gravitätisch seine Verbeugung. Erkelenz hielt den Atem an, als er sie dicht vor sich sah. Aber das war ja – gewiß, dieselbe graziöse Figur, dasselbe schmale Köpfchen mit den großen braunen Augen und der Fülle braunen Haares – das war ja Frau v. Stein, Zug um Zug war sie es, das konnte nicht Mutter und Tochter, es mußten Schwestern sein.

»Buona sera, Signore,« knickste sie. »Weshalb haben Sie mir meine Mama so lange zurückgehalten?«

»Wie Sie Ihrer Mutter gleichen,« erwiderte er nur.

»Wenn das wahr ist, so sind wir gute Freunde,« lachte sie. »Ein besseres Kompliment konnten Sie mir nicht machen, als daß ich meiner schönen Mama ähnlich sei. Ah,« rief sie ausgelassen, »ich bin so stolz auf meine schöne Mama, so stolz!« Und damit warf sie sich stürmisch an die Brust der Mutter und küßte sie unbekümmert um den Zuschauer wie eine Geliebte.

»Aber, Ada,« wehrte Frau v. Stein errötend, »was soll der Herr Baumeister denken?«

»Was er will, Mama, was er will!« und sie schloß ihr den Mund mit Küssen. »Ich habe ja meine schöne Mama so lange nicht gehabt. Ist sie nicht schön, Herr Baumeister? Und so lieb, so lieb. Ich werde zeitlebens eine alte Jungfer bleiben, denn meine junge Mama wird mich bei allen Bewerbern in den Schatten stellen.«

»Höre auf, du Unband!« rief Frau v. Stein und erhob sich schnell. »Lernt man das im Kloster?«

»Ach, Mama, im Kloster – –. Da hatte ich nur immer eine Sehnsucht, eine Sehnsucht – –.«

Frau v. Stein zog das wilde, blühende Mädchen an sich.

»Wahrhaftig,« sagte sie leise, »sie gleicht mir. Auch darin. Aber ihre Sehnsucht soll gestillt werden. So wahr mir Gott helfe, in einem wollen wir uns unterscheiden.«

Das Abendessen wurde heute in dem kleinen Salon serviert. Es war ein angeregtes Mahl, und das Mündchen der jungen Dame wurde nicht müde, zu fragen und zu plaudern. Als das Auge der Mutter den jungen Baumeister streifte, bemerkte sie, daß er das sonnige Geschöpf noch immer wie eine Erscheinung anstarrte. Da stand sie leise auf und trat ans Fenster.

»Aber was hast du mit dem Fuß, Mama?«

»Ihre Frau Mutter hat einen kleinen Schreck in den Bergen bestanden,« erwiderte Erkelenz.

Doch schon war Ada neben der Mutter niedergekniet und streichelte den Fuß.

»Du hast ihn vertreten?«

»Es ist nichts, Kind.«

»Und du gehst noch hier herum? Schnell zu Bett, hörst du, du mußt dich sofort niederlegen.«

»Aber Kind, es ist ja ohne jede Bedeutung. Der Schreck war das schlimmste. Herr Erkelenz war mein Ritter.«

»Daß Sie das nicht wieder tun,« stieß sie zornig hervor. »Ich dulde es nicht!«

»Ada, Ada!«

»Nein, ich dulde es nicht!« und sie stampfte nachdrücklich mit dem Fuß auf.

Der junge Baumeister stand vor der kleinen, zürnenden Eifersucht wie ein gescholtener Schulknabe mit gesenktem Kopf.

»Ich verspreche, es nicht wieder zu tun, mein Fräulein. Aber in diesem Falle –«

»Ach was,« zürnte sie, »Sie hätten mich rufen sollen.« Dann lachte sie über ihre eigene Dummheit und hielt ihm die Hand hin. »Weil Sie sich so ritterlich betragen haben.«

Er küßte ihr gehorsam die Fingerspitzen.

»Und jetzt müssen Sie uns verlassen. Ich werde eine Kompresse machen. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Er gehorchte auf der Stelle, wünschte den Damen eine gute Nacht und zog sich zurück.

Droben aber im kleinen Salon hielt Frau v. Stein das Gesichtchen ihrer Tochter, das dem ihren so ähnlich war, zwischen beide Hände gepreßt und schaute lange in die jungen Augen hinein. Am dunkelblauen Firmament glänzte ein Stern auf, dann wurden es viele, und mit einem Male leuchtete der ganze Himmel. Sie aber sah nur immer ihr reines, schönes, fröhliches Kind, um das sie sich so wenig gesorgt hatte und von dem sie sich trotzdem geliebt wußte bis zur kindischen Eifersucht. Als ob ein Alb von ihr gewichen sei, so frei und glücklich schaute sie auf die Unschuld in ihren Armen, und während sie ihr die Locken aus der Stirne strich, murmelte sie: »Mein zweiter Frühling. – Sollte ich ihn nun doch gefunden haben – –?«

Frau v. Stein hatte für den Aufenthalt in Florenz noch eine Woche zugegeben. Ada jagte in den Museen umher, die ihr während ihres Klosterlebens fremd geblieben waren, und konnte nicht genug bekommen von den Werken der unsterblichen Meister. Erkelenz war ihr getreuer Begleiter, auch dann, wenn Frau v. Stein zu Hause zu bleiben wünschte.

»Mit Ihrer Frau Mama ist eine große Veränderung vor sich gegangen,« sagte er eines Tages.

»Inwiefern?« inquirierte sie sofort. »Ist sie nicht mehr so lieb und schön?«

»Sie ist es noch mehr geworden,« schloß er.

Das war sie zufrieden, und sie spielten trotz der Heiligkeit des Ortes in einer alten Kirche Verstecken. Nur die Galerie im Palazzo Pitti durften sie nicht besichtigen. »Wir holen es nach,« hatte Frau v. Stein auf eine verwunderte Frage erwidert, »wenn wir von Rom zurückkommen. Wir müssen uns Zeit gönnen.«

Am Tage vor der Abreise stand Ada vor der Mutter. Das Wort wollte ihr nicht recht aus der Kehle.

»Darf er mitreisen?« stieß sie endlich hervor.

»Wer?« lächelte die Mutter wehmütig.

Sie wies mit der Hand nach der Tür. »Er steht draußen.«

»So ruf’ ihn, mein Kind.«

»Mama, Mama!«

Sie fühlte den jungen, lebenswarmen Körper ihres Kindes an ihrer Brust, den Tränenstrom ihres Kindes auf ihren Wangen und die heißen Küsse auf ihrem Munde.

»Ich wußte es, Ada, und sieh, ich freue mich ja so unaussprechlich mit dir. Er ist gut und unschuldig wie du. Aber so rufe ihn doch herein. Oder wollt ihr mich nun als überflüssig fortschicken?«

»Nie, nie, Mama,« sprudelte es unter Lachen und Weinen hervor. »Eher sterb’ ich, bevor ich dich verlasse.« Und nun war sie an der Türe und zog den jungen, feuerroten Baumeister herein und wiederholte: »Nie, nie! Du mußt es ihr auch schwören, Karl, daß du sie nie verlassen wirst, oder ich kann dich nicht lieb haben.«

Die schöne Frau zog ihre beiden Kinder an sich.

»Ich weiß, ihr werdet euch nie verlassen, und deshalb auch mich nicht.« – – –

Am Nachmittage ging Frau v. Stein allein die Straße entlang über den Ponte Vecchio und die Anhöhe zum Palazzo Pitti hinauf. Sie suchte den Saal des Saturnus auf und stand lange, die Hände gefaltet, vor dem Bilde der Madonna della Sedia, die, ihr Kind an der Brust, aus glückestrunkenen Mutteraugen selbstvergessen in die Ferne träumt.

»Gottesmutter,« sagte sie leise, »eine Mutter kommt dir danken. Jetzt verstehe ich dich. Des Weibes zweiter Frühling ist das Kind – – –.«

Share on Twitter Share on Facebook