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Da trat er mit seinem Sohn in den Kneipsaal ein, und er sah strahlenden Auges über die Masse der Buntmützen hin, die die mächtige hufeisenförmige Tafel dicht bekränzt hielten, und als er den Sohn an der Fuchsenecke untergebracht wußte, schritt er hinüber zur Tischecke der alten Herren, spähte in den bärtigen Gesichtern nach den Gefährten der Jugend, schüttelte kräftig alle die Hände, die sich ihm entgegenstreckten, und fiel aus voller Kehle in den Kantus ein:

»Gaudeamus igitur,
Juvenes dum sumus!«

»Cantus ex est. Schmollis cantoribus!«

»Fiducit!«

»Kreuzer, alter Pirat, tauchen endlich deine Segel wieder auf der Lahn auf? Gegrüßet seist du …«

»Prost, langer Ritter. Ich suche dein Bäffchen und deinen Talar.«

»Hab' beides meiner Hausehre zum Aufbügeln dagelassen. Dieweil, juchhei – dieweil – juchhei – der Herr Pastor zu Nutz und Frumm der Dorfgemeinde eine kleine Aufbügelung in Marburg vor sich gehen läßt.«

»Ich komme dir einen Halben, Pirat. Nichts zu flicken für einen hilfsbedürftigen Landarzt?«

Kreuzer blickte in das starke, gerötete Gesicht. »Der Stimme nach – der Melodik der Stimme nach – ist mir, als hörte ich Deutschlands Eiche im Wipfelrauschen. Baum?«

»Zu dienen, Herr Geheimrat. Ich bin der Baum. Aber gestatte, daß ich die Umarmung mit dir bildlich vollziehe. Ich stehe nicht gern auf, wenn ich sitze.«

»Hast du endlich das Zipperlein?«

»Bitte – bitte – diese herrlichen Gliedmaßen gehören dem Wohl des Volkes. Deshalb schone ich sie. Und wenn du die Farbe meines Antlitzes zu einem ärgerlichen Vergleich mißbrauchen möchtest, so sage ich dir: Wind und Wetter haben sie mir angeschmeichelt, und sie ist ehrenvoll auf der Landstraße verdient.«

Und eine zarte Stimme sprach: »Er opfert sich auf, unser lieber Baum. Da ist ein Mann in seinem Klientel, den er von der Schädlichlichkeit geistiger Getränke überzeugen muß, und es ist der Dorfwirt und nicht unter die Erde zu bringen. Ganz erschöpft von den endlosen Debatten sehe ich oft zur Nachtzeit unseren braven Baum in den Wagen steigen.«

»Du aber, mein braver Lindner, steigst jetzt in die Kanne. So ist's recht, mein guter Junge. Ich will dich lehren, neidverzerrt im Pastorat auf der Lauer zu liegen, während ich mich bemühe, dir die faulen Begräbnissporteln abzuknöpfen. Ah, du meldest dich reumütig mit der neuen Blume? Prosit, da trinke ich mit.«

»Lindner, der reine Tor? Und Pfarrherr wie der lange Ritter? Fühlst du dich wohl auf dem Land?«

Der Pfarrherr mit dem bärtigen Knabengesicht reichte dem Professor die Hand.

»Ob ich mich wohl fühle? Kann sich der Mensch anders als wohl fühlen, wenn er die Verbindung mit der Natur nicht verliert? Und der lange Ritter – und der dicke Baum – sind das nicht auch ein paar Stücklein Natur? Wir sitzen dicht beieinander, und wenn wir einen Kreis bilden, haben wir die Jugend mitten darin eingefangen. Nämlich« – und er flüsterte geheimnisvoll – »die Jugend ist nämlich das beste Stück Natur.«

Der Fax rannte, gläserbeladen, um die Tische herum. Das braune Bier schäumte über den Rand.

»Silentium!«

Der erste Chargierte stand straff aufgerichtet. Die Narben auf seiner Wetterseite leuchteten. Mit heller, klingender Stimme sprach er in das Schweigen hinein. Er begrüßte die alten Herren, er begrüßte Aktive, Inaktive und Verkehrsgäste, er begrüßte die neu angemeldeten Füchse. Es war eine Rede, wie sie seit Jahren zum Semesteranfang gehalten wurde, und doch wirkte sie frisch und neu, weil sie immer wieder aus einem frischen Munde kam und neue Begeisterung den Atem befeuerte. »Wir singen das Lied: Stoßt an, Marburg soll leben! Die Musik spielt den ersten Vers vor. Silentium … das Lied steigt.«

»Stoßt an! Marburg soll leben! hurra hoch!
Die Philister sind uns gewogen meist,
Sie ahnen im Burschen, was Freiheit heißt.
Frei ist der Bursch, frei ist der Bursch!«

Aus jungen Kehlen brauste das Lied zur Saaldecke, und die Bässe der alten Herren malten so kräftig den Untergrund, daß die starr ins Kommersbuch blickenden Keilfüchse Mut faßten, sich aus ihrer Unsicherheit heraustasteten, die tragende Woge des Gesanges erreichten und plötzlich verwegen im Meer der Töne herumschwammen. Der dicke Baum lag, die Hände über den schweren Leib gefaltet, zurückgelehnt im Sessel und sang auswendig. Der lange Ritter hielt das Liederbuch mit der Linken und schlug mit der Rechten den Takt auf seines Konfraters Lindner Knien. Der lächelte beim Singen selig, als sähe er den Himmel offen. Und Professor Kreuzer schaute ringsum in die Augen der alten Freunde und des jungen Nachwuchses, fand nur leuchtendes Licht in den Augen hüben und drüben, fühlte, wie es ihm selber heiß in die Blicke stieg, sah Buntmützen und Dreifarbenbänder, die Vergangenheit Wiederkehr halten, die törichte, seligmachende, frühlingsdurchduftete, griff mit der Hand in die Luft, als müßte er sie halten, fest, fest …

»Stoßt an! Frauenlieb lebe! hurra hoch!
Wer des Weibes weiblichen Sinn nicht ehrt,
Der hält auch Freiheit und Freund nicht wert,
Frei ist der Bursch!«

Frei, frei, frei! Stoßt an! Vaterland! Manneskraft! Freies Wort! Kühne Tat! Stoßt an – Burschenwohl lebe! Frei ist der Bursch.

Und drunten Marburg zu Füßen, und droben das Schloß, und ringsherum die ganze weite Welt mit ihren nie aufzuzählenden Frühlingswundern, die dennoch nur den glücklich machen, der sich nimmer des Zählens begibt.

»Bis die Welt vergeht am jüngsten Tag,
Seid treu, ihr Burschen, und singt es nach:
Frei ist der Bursch!«

Treu? War er dem Burschenschwur treu geblieben? Ah, welche knabenhaften Gedanken.

Was weiß der junge Mensch, der hier trinkt und singt, vom Leben? Seine Hoffnungen schickt er auf Rosenwolken hinaus und nennt sie die ›unumgänglichen Forderungen‹. Und der erste, der sie im Leben umgeht, ist er selber, und der Pfründe wegen, der Ehe wegen, all der gebieterischen Dinge wegen, die nicht in Marburgs Mauern liegen, lernt er um in der Algebra des Lebens. Treu!

Und – dennoch!

Stunden haben, die wie das Vergessen sind – bis auf die Stunde.

Nichts wissen, als daß man noch da ist in schwärmender Tafelrunde.

Daß man die schwere Süße um sich spürt der Erwartungen.

Der Erwartungen, die wie nie auszuzählende Frühlingswunder sind und doch nur den glücklich machen, der sich nimmer des Zählens begibt.

Das kam über Klaus Kreuzer, daß seine Stirn sich zusammenzog und aus seiner Brust ein langer, stoßender Atemzug ging. Das kam über ihn, daß seine Lippen sich zu einem harten Strich zusammenpreßten.

»Pirat! Wen willst du vor die Klinge? Laß sie pfeifen auf Hieb und Stich und gottselige Abfuhr! Ach, und stoß an, Bruderherz, da wir doch so jung zusammen sind.«

»Dein Wohlsein, Baum. Was? Rest? Wie kann man so trinken!«

»Ist das eine Konsultation?«

»Ich wünsche dich nicht bloßzustellen.«

»Also du fassest das Glas hier unten – hebst es hinten hoch – siehst du – vorn läuft es von selber.«

Der vergnügte Landarzt hatte sein Glas geleert. »Ja – was ich noch sagen wollte – und für ärztliche Bemühungen bekäme ich einen Taler.«

»Halsabschneider!«

»Drückeberger. Kenn' ich. Nur heraus mit dem dicken Silberling. Das wäre also der Bowlenfonds.«

Der junge Walter Kreuzer stand, die Mütze in der Linken, am Tische der alten Herren. Der schwere Landarzt blieb behaglich im Sessel liegen und wandte kaum den Kopf. »Was wünschest du, mein Sohn?«

»Gestatte, alter Herr, daß ich mich vorstelle.«

»Wie heißest du?«

»Walter Kreuzer, Sohn des alten Herrn Klaus Kreuzer.«

Der Doktor streckte ihm die Hand entgegen. »Was? Zwei Kreuzerlein? Willkommen in der Couleur. Auf daß du lange lebest, eine Zierde unserer Farben wie dein Vater. Prosit, Fuchs. Und bleib alleweil mein Freund.«

Und er summte, während er das Glas gegen das Licht hob: »Was nützen mich die Kreuzerlein – wenn ich gestorben bin.«

Der Fuchs hatte sich den alten Herren Pastor Ritter und Pastor Lindner vorgestellt. Das Tonnenmützchen saß dem fröhlichen Ritter weit im Nacken. Den Arm schlang er um die Taille des jungen Mannes.

»Nun – nun? Wie heißt die Parole, Fuchs? Philologie? Nimm Öl aus dem Krüglein deines Vaters. Medizin? Der große Medizinmann Baum fährt dich auf die Praxis, daß du deine Knöchlein besser spürst als die der Patienten. Theologie? Komm zu mir und halte bei mir die Probepredigt, auf daß ein jähes Erwachen in die alten Weiber fahre. Nur nicht Juristerei.«

»Weshalb nicht Jus, alter Herr?«

»Dieweil die Advokaten siebenspännig in die Hölle fahren.«

Und begütigend sprach die zarte Stimme Pastor Lindners: »Es ist seine liebenswürdige Marotte. Er hätte selber gern Jus studiert, und nun tröstet er sich mit einem Kraftsprüchlein.«

»In die Kanne, lieber Lindner. So – geschenkt. Nun wird dein Zeigefinger wohl nicht mehr höchst unchristlich in alten Wunden wühlen. Du trinkst auf mein Spezielles? O, du Seele von einem Menschen.«

Und wieder rauschten Geigen, Bässe und Flöten von der Musikantentribüne durch den Saal, sang es aus jungen und alten Kehlen in die hinabsteigende Frühlingsnacht, irgendeinem Frühlingsmorgen entgegen, der in der Zukunft lag, der sich aus der Vergangenheit aufgemacht hatte, irgendeinem, der den Duft der Jugend trug.

Das Präsidium war an die alten Herren übergegangen. Der lange Ritter hielt es in starken Händen. Scheffel regierte die Stunde, und der Rodensteiner brauste durch den Odenwald: »Raus da, raus aus dem Haus da, o Horn und Zorn und Sporn!« Der dicke Baum stand würdevoll vor dem Präsidentensessel, und er gebot das Lied an die Lindenwirtin, den ewigen Jugendgruß an Ännchen von Godesberg, am Rheine, am Rheine! Und nun hatte der reine Tor, hatte der bärtige Knabe Lindner die Kommandogewalt.

»Ich stehe hier nur,« sagte die zarte Stimme, »als ein Vorläufer. Wir haben ihn unter uns, den wir schon liebten, als wir jung waren wie ihr, und unsere Liebe ist mit ihm gegangen von der Fuchsentafel und über die Mensurböden und durch die Burschenzeit ins Leben hinein. Er war die Sonne unserer Jugend und der beste Student, den Marburgs Mauern, Marburgs Töchter, ja Marburgs Häscher je gesehen. Wer kann die Sonne fangen? Es fing ihn keiner, noch sein Lachen, und sich und seine Lebensfreude trug er hinaus in die Welt, gab sie der Menschheit. So wurde er der Stolz unseres Mannesalters, mehr als das, er wurde uns die lebendige Versicherung, daß auch wir recht getan hatten, das Gottesgeschenk der Jugend zu genießen, sehen wir ihn doch heute auf hoher Höhe, gefeiert von der Wissenschaft, stürmisch geliebt von seinen Jüngern. Silentium! Wir reiben einen Salamander auf unseren alten Herrn Geheimen Regierungsrat Professor Doktor Klaus Kreuzer.«

Der Donner der Gläser auf den Tischplatten war verklungen. Still saß der Professor auf seinem Platze. Mit geweiteten Augen schaute er über die Buntmützen hin, als sähe er Menschen und Dinge in den Saal strömen, die nicht mehr waren. Sprach der bärtige Mann am Präsidententisch wirklich von ihm? Hatte es das gegeben? Soviel Sonne –? Soviel Sonne? Und log der bärtige Mann mit dem glücklichen Knabengesicht nicht? Jetzt, jetzt, da er von dem Gewordenen, der Gegenwart sprach? Nein, nein, nur er selber hatte gelogen, sich selbst belogen. Und nun donnerte die Huldigung in sein Ohr hinein. Und sein Blick kehrte aus der Weite zurück und sah wieder feste Linien, sah junge Gestalten, sah junge, lachende, fragende, schwärmerische Augen auf sich gerichtet. – Da riß es ihn auf.

Noch hörte er Lindners Stimme. »Ich übergebe das Präsidium –«

Da stand er am Platz des Präsidenten, an dem er – fünfundzwanzig Jahre waren es bald – so oft gestanden hatte.

»Ich danke euch. Ihr habt mir eine Ehrung dargebracht, und das ist ein Geschenk. Da bedarf es einer Gegengabe. Wollt ihr sie haben? Nun, dann nehmt von mir das Gelöbnis, daß ich jung bleiben will, wie ich es einmal war, wie ihr es heute seid. Jung sein, jung bleiben! Und wenn die Welt voll Teufel wär'! Nur diese eine Tugend gibt's. So wünsche ich uns alle tugendhaft zu sehen bis ans Ende, und nicht anders. Ach, was wißt ihr, wie ihr den Burschensang und -klang braucht im Leben! Gott gab ihn uns zum Ausgleich. Gott gab ihn uns, damit wir im Jagen und Drängen zur Besinnung kommen, wenn er uns plötzlich – irgendwoher – im Ohre ertönt. Daß wir vergleichen, prüfen, wägen und – zu leicht befinden. Daß wir beschämt innehalten. Wenn's not tut: das Steuer herumwerfen. An Bord nehmen, was hinter uns her schwimmt mit verlangenden Armen. Es ist der Kriegsschatz, ohne den wir verloren sind gegen den schlimmsten Feind, gegen die schlimmste Sünde: Die Blasiertheit. Nur diese Sünde gibt's, und keine andere. Ein blasierter Mensch ist ein Bankerotteur, der sich seiner Daseinsberechtigung begab, als er die Gaben Gottes nicht mehr zu erfassen vermochte. Laßt es euch gesagt sein, ihr Burschen und Füchse: Die Schönheiten der Welt sind keine Fuchsfallen, und der Herrgott liegt nicht auf einer Wolke auf der Lauer und späht durchs Fernglas, zu sehen, wer von den armen Menschlein ihm ins Eisen gehe. Es ist seine Vatergüte, die uns die kurze Erdenspanne mit seinen Sonnen und Sternen bestreut. Greift sie auf, und ihr könnt nicht altern. Nützet den Tag, und ihr behaltet eure hellen Augen und euer klingendes Lachen. Nur wer den Kuß der Jugend auf seinen Lippen spürt, ist noch im Sterben glücklich zu schätzen. Das ist der Weisheit letzter Schluß. Trinkt Rest darauf, Leute!«

›Professor Kreuzer – Geheimer Regierungsrat – Mariannens Gatte –‹ schoß es ihm durch den Kopf.

Er lachte.

Um ihn herum stürmte der Beifall, die Begeisterung, die erschlossene Seligkeit junger Gemüter.

Er lachte.

Das aber war ein anderes Lachen.

»Wir singen das Heckenrosenlied. Silentium! Musikanten, den ersten Vers! Silentium – das Lied steigt.«

»Es war ein Knab' gezogen wohl in die Welt hinaus,
War ihm sein Lieb auch gewogen, das Glück, das Glück blieb aus.
Und er wanderte weit
Zur Sommerzeit,
Wenn am Walde – die Heckenrosen blühn.

Das Mägdlein barg sein Klagen daheim im Kämmerlein.
Sie durft' es ja niemanden sagen, und hoffte jahraus, jahrein.
Schaut' über die Heid'
Zur Sommerzeit,
Wenn am Walde – die Heckenrosen blühn.

Ein Reiter kam geflogen, weit flattert sein Mantel im Wind.
Sag', bist du mir noch gewogen, herzallerliebstes Kind?
Da lachten sie beid'
Zur Sommerzeit,
Wenn am Walde – die Heckenrosen blühn.

Und er hielt sie in den Armen, ihr Herz vor Wonne schlug.
Hat auch die Welt kein Erbarmen, die Liebe ist stark genug.
Und da küßten sich beid'
Zur Sommerzeit,
Wenn am Walde, am Walde, die Heckenrosen blühn.« –

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