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Waren Stunden vergangen, seitdem das Lied verklungen war?

So waren sie wie Minuten gewesen, von denen der Sekundenschlag mehr zählte als eine Stunde.

Kreuzer ging zum Fenster und zog die schwere Leinengardine zurück. Ein dunkelblaues Dämmern füllte Nähe und Weite, ein letztes Verhüllen des Morgenwunders. Und eine Nachtigall schlug vom blühenden Hang hinauf. Das hatte er seit Jahren nicht mehr erlebt.

Er stand und horchte. Und vernahm, wie die Jugendfreunde hinter ihn traten. Da griff er, ohne sich nach ihnen umzuwenden, nach ihren Händen. »Kinder – das ist zum Glücklichwerden!«

»Alter Pirat – du hast dein Teil geborgen.«

»Ja, ja … Und ihr?«

»Da es bedeutend schlimmer hätte kommen können, haben wir also – das große Los gezogen.«

»Sprecht ernsthaft.«

»Noch ernsthafter? Eine blühende Pfarrei, eine fröhliche Landpraxis – beim heiligen Veit von Staffelstein, wir sind doch keine Duckmäusernaturen?!«

Halt. Das Wort hatte er schon gehört. Wann? Heute? Gestern? Ganz gleich. Es war ein Wort im Alltagsgewand und voll innerer Köstlichkeiten. Und – Traud hatte es gesagt. Natürlich …

»Unsere jungen Leute sind wohl schon heim? Wollen wir Überlebenden – ja, was wollen wir Überlebenden?«

Seine Augen suchten das blaue Gewoge des dämmernden Tages zu durchdringen.

»Den Morgen begrüßen, Kreuzer!«

»Marburg zeigen, wir leben noch! Wir werfen uns wie Antäos an der Mutter Brust, neue Lebenskräfte einzusaugen, wenn uns ein Schicksal trifft.«

»Hierher, Fax, Bowle hierher ans Fenster – als festlich hoher Gruß, dem Morgen zugebracht!!«

»Still,« sagte Kreuzer, »der Morgen will mit uns sprechen.«

Die Gläser in den Händen, saßen sie stumm beieinander und blickten in die blauen, flatternden Schleier. Immer inbrünstiger wurde das Lied der Nachtigall. Und nun kam eine Woge frischen Blütenduftes.

Die Sonne …

Von den Hängen flatterten die Schleier los, über die Lahnwiesen strichen sie hin in eiliger Flucht, die Bergkette schüttelte sie von den Häuptern, daß sie zu silbernem Tau zerstiebten. Bilder taten sich auf in stiller, schwelgender Frühlingspracht, in stiller, drängender Liebe, in lebenzeugender Sonne.

Da lag Marburg, die alte, liebe Stadt, und war nur schöner geworden. –

»Versteht ihr?« fragte Klaus Kreuzer.

Die anderen nickten.

»Das will uns sagen,« fuhr Klaus Kreuzer fort, »ich bin ein Gleichnis und will in euer Leben hinein und euch aufrufen, wenn ihr vergeßt, was euch not tut. Euer Leben mag älter, aber es darf nur schöner werden. Nein – mehr noch. Es gibt keine Zeit, wenn ihr es nicht wollt. Seht her und macht sie nach: die tägliche Auferstehung. Habt nur den Mut zum Glücke …«

Er brach ab und starrte hinaus. Was würden die guten Kerle davon wissen … Kaum ihre Atemzüge hörte er.

Und in die tiefe Stille klang die Stimme des Landarztes, und über seinem Gesichte lag ein merkwürdiger Hauch, der es verschönte und vergeistigte. Und in die tiefe Stille hinein sagte er nur: »Es braucht kein Geist aus dem Grabe und kein Professor aus Berlin zu kommen, um uns das zu verkünden.«

Und der lange Ritter fügte hinzu, und seine Blicke tranken den Morgen: »Siehst du, deshalb sind wir hier.«

Da war es Kreuzer, als griffe ein Neid an sein Herz.

So viel war er geworden und so wenig die anderen, und doch wußte er nichts zu erwidern.

»Klaus,« bat die schmeichelnde Knabenstimme Lindners, »komme öfter herüber von Berlin. Wirklich, du solltest es tun. Der Lorbeer läuft dir nicht weg, aber die Rosen, Klaus. Und du bist doch erst fünfundvierzig.«

Das packte ihn, daß der Neid sein Herz losließ, daß der Hochmut die Segel strich, daß nichts mehr in seinem Blute war als eine grimmige Sehnsucht.

»Ich komme, Kinder, ihr habt mein Wort darauf. Das mit dem Lorbeer und den Rosen, Lindner, das war gut gesagt. Nur ein reiner Tor konnte das Wort prägen, dem keine Wissenschaft beikommt. Her mit den Gläsern. Angestoßen. Guten Morgen, du Frühlingsmorgen!«

»Nach Hause jetzt.«

»Um drei Uhr Fäßchenpartie nach der Schwedenschanze.«

»Burschen heraus!«

Zu zweit untergefaßt, traten sie in den blinkenden Morgen hinein, gingen sie die krummen Gassen hinab, verweilten sie vor diesem Haus, vor jenem Platz, standen sie sich lachend Red' und Antwort, riefen sie sich Mädchennamen zu und die Namen der Gegner, die sie auf der Mensur bestanden hatten, die Namen der Philister, die sie gemartert, und die Namen der herbeigestürmten Häscher, die sie nicht minder gemartert hatten.

»Weißt du noch, Klaus? Hier saustest du barhaupt und hemdärmelig die Straße hinunter, ein Bündel unterm Arm, und wir schrien aus dem Fenster hinter dir her, bis alle Philister aufgeregt in den Fenstern lagen und mitschrien, und die Stadtschergen erschienen und wie besessen die Verfolgung aufnahmen. Das ging wie die wilde Jagd den Schloßberg hinunter und um die Elisabethenkirche herum und zurück zur Universität, und die ganze Studentenschaft war auf den Beinen. Und plötzlich bogst du um und ranntest gegen den atemlosen Polizeimann, der die Hand nach dir streckte, und sagtest: ›Pardon, mein Herr, wissen Sie hier in der Nähe nicht einen billigen Schneider? Ich habe hier einen Rock zu flicken!‹

»Wie Lots Weib stand der Mann, und es folgte eine Tobsucht. ›Mensch, weshalb laufen Sie denn, als ob Sie gestohlen hätten? Sie – Mensch!‹ Und verwundert erwidertest du: ›Mein Herr, weil ich es nicht für anständig halte, in Hemdärmeln langsam über die Straße zu gehen!‹ Verneigtest dich und warst im Schwarm der Buntmützen verschwunden.«

»O Academia!«

»Kinder, Kinder!«

Und die Erlebnisse wuchsen aus dem Boden und trugen die edle Patina der Verklärung, und die Geschichten folgten sich.

»Hier geht mein Weg,« sagte Klaus Kreuzer. »Ich habe euch versehentlich durch die halbe Stadt begleitet und muß nun wieder den Berg hinauf. Schlaft wohl!«

»Wo wohnst du, Kreuzer? Nicht bei uns im Hotel?«

»Ich wohne bei Frau Werder.«

»Frau – Werder? Haben wir nicht einen Werder in der Couleur? Natürlich! Werder, der Amoroso. Wo ist er geblieben, der heißblütige Kerl?«

»Verstorben. Und seine Witwe ist die Cousine meiner Frau. Deshalb wohne ich dort. Und mein Junge hat Marburger Quartier dort bezogen.«

»So, so. Auf Wiedersehen, Kreuzer.«

»Auf Wiedersehen, ihr.«

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