6

Im purpurnen Abendschein lag Marburg. Und die Luft war so voll vom Jubilieren der Vögel, daß die Menschen in ihrer lauten Lustigkeit innehielten, stiller wurden und endlich schweigsam. Die purpurne Glut aber griff nach der dunkelblauen Decke, die der Himmel ihr hinhielt, und verbarg ihr letztes Sonnenglück vor den Augen der Menschen.

Ein tiefer Atemzug von der Erde zitterte hinter ihr her.

»Wo bist du, Klaus?«

»Neben dir!«

»Fackeln an! Antreten zum Zuge! Es wird der Harmonie wegen und lediglich der Harmonie wegen gebeten, daß nur harmonisch gestimmte Paare – Wie? – Seelenkunde bei Fackelbeleuchtung? Ich habe hier die Mamas zu vertreten und bitt' mir aus: Mäulchen werden nur gespitzt zum schönen Lied. Silentium! Schönes Lied steigt! ›Wenn wir durch die Straßen ziehen! …‹«

Und der flotte Chargierte, eine weißhaarige Professorengattin am Arm, setzte sich, kräftig intonierend, an die Spitze des Zuges.

Wenn wir durch die Straßen ziehen, recht wie Bursch' in Saus und Braus,
Schauen Augen, blau und graue, schwarz und braun aus manchem Haus.
Und ich lass' die Blicke schweifen, nach den Fenstern hin und her,
Fast, als wollt' ich eine suchen, die mir die Allerliebste wär'.

Die Fackeln blitzten durch den Wald, und die Augen blitzten hinüber und herüber, und junge Schultern suchten aneinander Halt beim Abstieg zur Stadt, als könnten sie so noch einen Herzschlag lang den Zauber bannen, der sie alle befallen hatte im Frühlingswald.

Durch die Straßen der Stadt ging es fackelschwingend und liedersingend, und Klaus Kreuzer und Traud Werder schritten inmitten der großen Schar und waren still und ganz allein mit sich und freuten sich, als sie es fühlten und einer es dem anderen immer wieder mit einem Druck des Armes sagen mußte. Die Fenster der Häuser waren voll von nickenden und lachenden Mädchenköpfen, und vor den Haustüren erhoben sich die Philister von den Bänken und zogen die Mützen und setzten sie ärgerlich wieder auf, wenn ihnen ein Spitzname auf die würdige Glatze geflogen kam im Überschwang des Jugendübermutes.

Und Traud Werder trat an einer Seitenstraße unbemerkt aus der Reihe heraus und Klaus Kreuzer mit ihr, und sie ließen den brausenden Schwarm an sich vorbei und atmeten tief auf. Dann standen sie vor Traud Werders Haus, und sie schloß auf, wandte sich in der offenen Tür nach ihm um und reichte ihm die Hand.

»Gute Nacht, Klaus. Nun habe ich mir so viel Schönes mitgebracht, daß ich nicht mehr allein bin.«

Er trat zu ihr in den Hausflur. »Du willst mich fortschicken?«

»Nein,« sagte sie, »ich will mich selber nur fortschicken, Klaus, damit wir nicht ins Verschwenden geraten.«

»Traud – wir sind ja so reich – –«

Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und schüttelte den Kopf. »Nichts, nichts haben wir auf Vorrat gesammelt. Verstehst du das, Klaus? Nichts miteinander an Sehnsucht, die Zinsen bringen soll, an diesem steten und immer stärker werdenden Zusammenbegehren, das die kleinste Erfüllung zu einem Sonntag macht, nichts als diesen einen allerersten Frühlingstag, der alles zum Blühen gebracht hat. Klaus, ein rechter Gärtner, der seinen Garten lieb hat, nimmt nicht die Blüten. Klaus, der freut sich täglich an dem Früchtereifen und auf die reiche Ernte. Willst du mich nicht verstehen? Sieh, du lieber Mann, ich möchte dir mehr sein als eine Episode, ich möchte dein Garten sein.«

Er blickte an ihr vorüber. Irgendwohin in den dunkeln Gang. »Also ich soll warten und werben. Das ist es.«

Und neben ihm sagte sie in die Dunkelheit hinein mit ruhiger Stimme: »Ich gehöre dir.«

Da beugte er sich hastig nieder, ergriff ihre Hände und küßte sie und küßte jede einzelne. »Gute Nacht, Traud. Ich danke dir. Gute Nacht, und auf morgen und all die Tage.« Und er wollte schnell an ihr vorbei.

Da kehrte ihr mit einem Schlage all ihre Fröhlichkeit zurück, und sie ergriff ihn bei den Schultern, rüttelte ihn ein wenig und lachte ihm in die Augen. »Was, das ist alles? Und nun soll ich hier sitzen und meine geküßten Hände besehen, während du dort oben in eurem Hause Lieder singst und den Becher schwingst und mit deinen Kumpanen in alten Abenteuern schwelgst? O nein, Herr Professor, das ist mir zu wenig, und wenn ich für den Handkuß aus besonderen Gründen auch sehr dankbar bin, Bevorzugungen dulde ich nun einmal nicht, und hier, hier der Mund, will auch sein Privatissimum haben.«

»Genug? Du –! Bevorzugungen dulde ich nicht. Diese lieben Augen – dieser liebe Hals –«

Sie knickste so tief, daß sie unter seinem Arm entschlüpfte. »Gute Nacht – alter Pirat!« Und er hörte ihre Stiefelchen die Treppe hinaufklappern. Und draußen umfing ihn die Frühlingsnacht, daß er sie mit Händen hätte greifen mögen, und in ihm läuteten Glocken und sangen jubilierende Chöre Auferstehungslieder: »Wieder jung geworden – wieder so jung geworden!«

Und bis in die späte Nacht hinein saß er zwischen den Freunden von einst und den Gedanken von heut, und kein Neid kam mehr an sein Herz heran, weil es voll war vom Köstlichsten der Erde, voll von Erwartungen. Mit dem Sohn ging er heim und hörte lächelnd seinen Schwärmereien zu, die er nie in dem streng erzogenen Jungen zu finden geglaubt hätte, und unterbrach ihn nicht ein einziges Mal.

»Aber das Schönste war, Papa, daß du gekommen bist.«

»Weshalb denn, Walter?«

»Weißt du, weil ich dich so jung gesehen habe, und das hat mich dir soviel näher gebracht. Ich könnte dir jetzt immer alles sagen und würde mich nur noch vor dir schämen, aber mich nicht mehr vor dir fürchten. Wir – zwei Männer.«

An diesem Abend küßte Klaus Kreuzer seinen Jungen zur Guten Nacht: »Wir – zwei Männer …«

Share on Twitter Share on Facebook