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Das kurze Sommersemester neigte sich dem Ende zu. Und während die Früchte zu schwellen begannen, waren die Rosen aufgesprungen, hüllten sich die Akazien in blütenweiße Brautgewänder, prangten die Bauerngärten im schweren Duft der Sommerblumen, blühte unablässig die Heide. Nie war es Klaus Kreuzer, wenn er durch die Landschaft schritt, so aufgefallen wie in diesem Jahr, dies Früchtereifen inmitten unaufhörlichen Blühens.

›Jahr für Jahr gibt uns die Natur dies Zeichen,‹ dachte er und ließ den Blick auf der wechselreichen Landschaft ruhen, ›und nur wir Menschen haben verlernt, es zu sehen und zu begreifen.‹

Und er las sein letztes Kolleg vor den Ferien, und es klang wie ein Hymnus auf den Menschheitsfrühling, und die Hörer gingen still hinaus und sammelten sich erst draußen auf dem langen, grauen Korridor und brachten ihrem Lehrer und Glücksweiser, als er durch ihre Reihen schritt, in stürmischen Zurufen das Echo seiner Rede wieder.

So kam er zu Marianne und fand sie mit den strengen Zügen der Frau, der die Jugend verronnen war unter dem einen Wunsche, über sie hinauszugelangen.

»Lieber Freund, ich habe heute morgen auf der Ausfahrt die Frau des Ministers getroffen. Ich will gestehen, es geschah nicht unabsichtlich, und wir machten unsere Spazierfahrt miteinander. Es ist eine Frau, die Ziele hat.«

»Es wäre besser, der Mann hätte sie.«

»Mann und Frau sind eins, sollen es überall sein und sind es auch hier. Exzellenz sagten mir, daß der Minister einen starken und berechtigten Mißmut über dein Zaudern nicht unterdrücken könne, da er sich von dir als dem ersehnten Mitarbeiter, von deiner eindringlichen Kenntnis der gesamten Materie und deiner überzeugenden Beredsamkeit eine beschleunigte Annahme seiner Schul- und Universitätsvorlage verspräche. Exzellenz waren überdies so liebenswürdig, mich für die Ferien auf ihr ostpreußisches Gut einzuladen.«

»Da gratuliere ich. Denn das war wohl längst dein Wunsch. Im übrigen kann von Zaudern gar keine Rede sein.«

»Es freut mich, daß die Vernunft einmal wieder in dir gesiegt hat.«

»Ob es in deinen Augen vernünftig ist, weiß ich nicht, denn es ist Gefühlssache, und dies Gebiet ist von dir immer etwas stiefmütterlich behandelt worden. Mir aber sagt mein Gefühl, daß es viel wichtiger ist, als immer neue Schulvorlagen zu entwerfen: Männer zu haben, die den Geist ihrer Lehrermission richtig erfassen, die sich nicht an das alleinseligmachende Schema und die Bewältigung des Unterrichtsgegenstandes klammern, sondern die der Jugend geben, was der Jugend ist, die Freude am Leben und damit die Freude an der Arbeit, die ihnen die Schönheiten des Lebens erschließt. Diese Männer sind rar geworden im lieben Vaterland, das heute unter alt und jung so viele Streber züchtet, und diesen Rargewordenen möchte ich helfen, sich wieder zu ergänzen und die Mehrheit zu gewinnen, damit es wieder eine Lust ist, zu leben.«

Marianne saß am Fenster und zog die Sticknadel durch ein Stück bunten Seidenzeugs. Kaum, daß sie von der schillernden Arbeit aufschaute.

»Du widersprichst dir selbst,« sagte sie kühl, »und ich nehme es nur als eine schöne Rednergeste. Wer mit fünfundvierzig Jahren durch sein Streben und nur durch sein Streben –«

»O bitte, verkleinere deinen Wert nicht. Durch dein Streben wohl zumeist.«

»– wer durch sein Streben so schnell zu einer so hohen Stellung kam, der hat wohl keinen Grund, den Frondeur zu spielen. Was im übrigen meine Mitarbeit angeht,« und nun legte sie ihre Stickerei zur Seite, »so darf ich wohl auf etwas mehr Dankbarkeit Anspruch erheben, denn ich habe dir durch die Festigkeit meines Charakters dein Glück geschaffen, das du in blauen Nebeln hättest verschwimmen lassen, wenn ich nicht mein ganzes Leben dafür eingesetzt hätte.«

Und er schüttelte den Kopf und sagte langsam: »Ich weiß heute oft nicht, ob du ein Recht dazu hattest, mein Leben nach deinem zu modeln, ob überhaupt ein Mensch ein solches Recht auf seinen Mitmenschen hat. Wer kann voraussagen, wie sich der andere in freier Luft auswächst? Ich wäre vielleicht ein Dichter geworden, und bin ein Professor geworden. Mein Glück? Menschenglück sieht doch ein klein wenig anders aus, als dir es vorschwebt.«

»Ach –,« machte sie gedehnt und erhob sich, »dann bist du wohl auch mit der Lebensführung deines Sohnes Walter einverstanden?«

»Walters? – Wie kommst du auf Walter?«

»Also du weißt nichts, bekümmerst dich um nichts; und das stellt deiner Pädagogik, die du soeben so schön vortrugst, das beste Zeugnis aus. Nun, ich habe es anders gemacht und in beständigem Briefwechsel mit meiner Freundin in Marburg, der Frau des derzeitigen Dekans, gestanden und seit kurzem erbauliche Dinge gehört. In den Kollegs sieht man den Jungen schon längst nicht mehr, aber seine erste Mensur geschlagen hat er schon, bevor das erste Semester zu Ende war, und mit jungen Mädchen unternimmt er weite Fahrten ins Lahntal und in die Wälder, macht Schulden und läßt sich wohl gar von seiner geliebten Tante Traud in seinem Lebenswandel bestärken.«

»Das ist nicht wahr!«

»Bitte, brause hier nicht auf. Wenn es anders wäre, hätte Traud Werder uns Mitteilung über den Jungen gemacht. Nichts davon ist erfolgt. Lobesbriefe sind gekommen. Das ist eine Moral, die ich nicht billige.«

»Traud Werder würde uns nichts verschweigen. Sie weiß, daß ich an dem Jungen hänge.«

»Fahr hin. Es wird dir gut tun, wieder einmal festzustellen, daß der Blick deiner Frau weiter reicht als deine schönen Phantasien. Da ich in den nächsten Tagen reise, so würde ich es für angebracht halten, du nähmst den Jungen mit dir in den Sommerurlaub und in strenge Zucht. Das Leben ist kein Rosenpflücken.«

Und Klaus Kreuzer dachte nur: ›Traud – das kann nicht wahr sein …‹

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