Incipit vita nova.

In meinem Leben ist wie im Leben der meisten Menschen ein Punkt der Wandlung in’s Besondere, ein Ort der Schrecken, der Finsternisse, des Verirrt- und Alleinseins, ein Tag unerhörter Betäubung und Leere, aus dessen Abend neue Sterne am Himmel und neue Augen in uns hervorgehen.

Da ging ich frierend unter den Trümmern meiner Jugendwelt, über zerbrochene Gedanken und gliederzuckende, verzerrte Träume, und was ich anschaute, fiel in Staub und hörte auf zu leben. Freunde gingen an mir vorbei, welche zu kennen ich mich schämte, Gedanken sahen mich an, die ich vorgestern gedacht hatte, und waren so entfernt und fremd geworden, als wären sie hundertjährig und nie mein Eigentum gewesen. Alles wich von mir weg, ich war bald von einer ungeheuren Leere und Windstille umgeben. Ich hatte nichts Nahes mehr, keine Lieblinge, keine Nachbarschaft, und mein Leben stieg in mir als ein schüttelnder Ekel empor. Als wäre jedes Mass überfüllt, jeder Altar entheiligt, jede Süssigkeit verekelt, jede Höhe überklommen. Als wäre jeder Schimmer einer Reinheit verfinstert und schon jede Ahnung einer Schönheit verzerrt und mit Füssen getreten. Ich hatte nichts mehr, mich danach zu sehnen, nichts mehr anzubeten und zu hassen. Alles was Heiliges, Ungeschändetes und Versöhnendes noch in mir war, hatte Blick und Stimme verloren. Alle Wächter meines Lebens waren eingeschlummert. Alle Brücken waren abgebrochen und alle Fernen ihrer Bläue beraubt.

Als alles Lockende und Liebenswerte mir so verschwunden war und ich wie ein Schiffbrüchiger des Geistes erschöpft und unaussprechlich beraubt und arm zum Bewusstsein meines Elendes erwachte, da senkte ich das Auge, erhob mich mit schweren Gliedern und wanderte aus allen Gewöhnungen meiner Vergangenheit wie ein Gerichteter, der bei Nacht seine Wohnung verlässt, ohne Abschied zu nehmen und ohne die Thüren hinter sich zu verschliessen.

Wer hat je der Einsamkeit auf den Boden geschaut? Wer kann sagen, dass er das Land der Entsagung kenne? Meinen Blicken schwindelte, als ich mich über den Abgrund bückte, sie fielen ohne ein Ende zu finden. Ich wanderte durch das Land der Entsagung, bis meine Kniee vor Müdigkeit brachen, und noch lag die Strasse in unverminderter Ewigkeit vor meinem Schritt. Eine stille, traurige Nacht wölbte sich tröstend und schläfernd über mir. Schlummer und Traum kamen zu mir wie Freunde zu einem Heimkehrenden, und lösten eine tödliche Last wie ein Reisebündel von meinen Schultern.

Bist du schon schiffbrüchig gewesen und sahest Land und einen Schwimmer sich dir nähern? Bist du schon todkrank gewesen und thatest genesend den ersten Trunk frischer Gartenluft und spürtest das süsse Wallen des sich erneuernden Blutes? Wie diesen Erretteten und diesen Genesenen, so überflutete mich ein Wirbel von Dankbarkeit, Ruhe, Licht und Wohlsein, als ich in jener Nacht erkannte, dass unerforschliche Wesen sich freundlich zu mir neigten.

Der Himmel hatte ein anderes Ansehen als jemals zuvor. Die Stellung und Wiederkehr der Gestirne trat mit meinem innersten Leben in einen vorbestimmten Freundesbund und das Ewige verknüpfte etwas in mir deutlich und wohlthätig mit seinen Gesetzen. Ich fühlte in meinem aus der Wüste aufgerichteten Leben einen goldenen Grund gelegt, eine Kraft und ein Gesetz, nach welchem, wie ich mit herrlichem Erstaunen empfand, künftig alles Alte und Neue in mir sich in edlen Krystallformen ordnen und mit allen Dingen und Wundern der Welt wohlthätige Bündnisse schliessen müsste.

Incipit vita nova. Ich bin ein Neuer geworden, mir selber noch ein Wunder, ruhend zugleich und thätig, empfangend und schenkend, ein Besitzer von Gütern, deren werteste ich vielleicht noch nicht kenne.

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