IX. Die wichtigsten modernen Bearbeitungen der Sage.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat eine ganze Reihe von Dichtern ihre Stoffe aus dem alten Liede und aus den verwandten Gebieten entnommen; in moderner, freier Weise sind sie unter Bewahrung ihrer dichterischen Selbständigkeit auf Grund der alten Sage dichterisch wirksam gewesen; sie alle hier aufzuzählen und durchzusprechen, wäre ganz unmöglich; nur die drei bedeutendsten, Richard Wagner, Friedrich Hebbel und Wilhelm Jordan, sollen erwähnt und gewürdigt werden. In der Reihenfolge wie sie eben genannt sind, haben sie ihre Texte verfaßt, aber ihre Wirkung hat sich in ganz anderer Folge geltend gemacht. Wagner war unter ihnen der erste, der sich als moderner Dichter des alten Stoffes bemächtigte. Er hat sein dramatisches Gedicht „der Ring des Nibelungen“ im Jahre 1853 vollendet, in der Zeit seines Aufenthaltes in Zürich, als er infolge seiner Beteiligung an der Dresdener Revolution in der Verbannung lebte. In Zürich stand er in Beziehung zu den Gelehrten der Universität, besonders dem Germanisten Ludwig Ettmüller; man erkennt aus der Art, wie Wagner den Stoff angreift, sehr deutlich den damaligen Stand der Wissenschaft, insbesondere der Sagenforschung. Wagner ist durchaus von ihm abhängig, ein Umstand, aus dem man Wagner natürlich keinen Vorwurf machen kann. Eher kann man ihm vorwerfen, daß er (obgleich er als Dichter das Recht dazu hat) gar so willkürlich mit dem Stoffe umspringt. Er hat die Erzählung auf der einen Seite nur bis Siegfrieds Tod durchgeführt, so daß der ganze grandiose zweite Teil vollständig wegfällt; auf der andern Seite hat er die Geschichte der Siegfriedsage, verführt durch die damalige Anschauung der Mythenforscher, in die Göttersage hinaufgehoben.

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Sein Werk besteht aus vier Teilen: Dem Vorspiel „Rheingold“ und den drei Teilen der Trilogie „Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. — Im „Rheingold“ schildert Wagner im Anschluß an die Darstellung der Edda, aber unter ganz freier Umgestaltung dieser Geschichte, die Herkunft des Ringes. Dieser Ring ist das wesentlichste Stück des Hortes, denn er kann den Hort immer neu gebären; solange der Ring existiert, wird der Hort nicht kleiner. „Der Ring des Nibelungen“ heißt Wagners Gedicht. Der Nibelunge, den der Titel meint, ist der ursprüngliche Besitzer des Rings. Im „Rheingold“ also wird erzählt, wie diesem ursprünglichen Besitzer, der ein Abbild des Zwerges Andvari der Edda ist, der Hort entrissen wird.

In der „Walküre“ wird entwickelt, wie die Walküre Brynhild dazu kommt, sich Wodans Willen zu widersetzen, so daß sie vom Gotte bestraft und in Schlaf versenkt wird; diese von uns als jüngste Fassung charakterisierte Form der Brynhild-Geschichte hat Wagner als Grundlage gewählt, weil der Gott hier tätig eingreift; Wagner geht von der Voraussetzung aus, daß die Beziehungen der Nibelungensage zu den Göttern alt seien; ja, er hat die Entwicklung der Nibelungengeschichte direkt als einen Teil der Entwicklung der Göttergeschichte hingestellt.

Im zweiten Hauptteile „Siegfried“ wird dann geschildert, wie der junge Siegfried aufwächst, den Drachen tötet und die Walküre befreit.

Im dritten Teile sehen wir ihn zunächst die Walküre verlassen und dann plötzlich in die Gewalt der Gegner verfallen, die dargestellt werden als echte Nibelungen, als Angehörige des ursprünglichen Besitzers des Ringes. „Götterdämmerung“ heißt dieser letzte Teil, weil mit dem Untergange Siegfrieds der Untergang der alten Götterwelt nach Wagners Auffassung besiegelt ist; unter „Götterdämmerung“ versteht man infolge eines seltsamen Irrtums die Eschatologie der Nordgermanen. Ursprünglich lautet das Wort, das man sich mit „Götterdämmerung“ wiederzugeben gewöhnt hat, ragna rok, d. i. Götterschicksal, also ein ganz passender Ausdruck für das, was man sich in der spätnordischen Zeit kurz vor Einführung des Christentums als Entwicklung der Götterwelt dachte; später mißverstand man ihn, weil man nicht mehr ragna rok las, sondern ragna rökkr, d. i. Götterverfinsterung; diesen an sich kaum verständlichen Ausdruck hat man im Deutschen mit „Götterdämmerung“ wiedergegeben;[S. 132] so hat dies Wort den Sinn von „Weltuntergang“ erlangt.

Was das Formale bei Wagner angeht, so hat er seine Dichtung in stabreimenden Versen abgefaßt, und zwar wechselt er nach Belieben, aber geleitet von einem bestimmten rhythmischen Gefühl zwischen zwei- und dreihebigen stabreimenden Versen ab. Daß er in der Behandlung der einmal gewählten Form glücklich gewesen ist, kann man nicht behaupten. Gewiß würde Wagners Dichtung schwerlich irgendwelchen Einfluß erlangt haben, wenn Wagner nur Dichter, nicht auch der große Komponist gewesen wäre. Aber die Komposition des Ringes ist erst mehr als 20 Jahre später bekannt geworden: zum ersten Male wurde sie in Baireuth im August 1876 vorgeführt. Mit dieser seiner so wirkungsvollen Komposition hat Wagner allerdings für die Wiederbelebung des Interesses an der alten Sage das Höchste beigetragen, durch sein großes Tonwerk hat er für sie wohl am allertiefsten und mächtigsten gewirkt. Um so mehr darf man bedauern, daß er, unbeschadet wundervoller Einzeldarstellung (besonders im Siegfried), dem Geiste der alten Sage so wenig gerecht geworden ist.

Der nächste, der sich an den alten Stoff gewagt hat, ist Hebbel. Er ließ im Jahre 1862 die große Dichtung „Die Nibelungen“ erscheinen, abermals ein Drama; es umfaßt ein Vorspiel „Der gehörnte Siegfried“ und zwei fünfaktige Trauerspiele „Siegfrieds Tod“ und „Kriemhilds Rache“. „Siegfrieds Tod“ entspricht im wesentlichen dem ersten, „Kriemhilds Rache“ im wesentlichen dem zweiten Teile unseres Nibelungenliedes. Im Vorspiel „Der gehörnte Siegfried“ wird nur geschildert, durchaus im Anschluß an unser Lied, wie Siegfried in Worms erscheint und aufgenommen wird. Der Titel „Der gehörnte Siegfried“ ist von Hebbel natürlich unter dem Einfluß des Volksbuches gewählt. Hebbels Form ist die seit den Zeiten unserer Klassiker im Drama übliche, der fünfhebige Blankvers. Inhaltlich schließt sich Hebbel so genau wie nur irgend möglich an unser Nibelungenlied an, und man kann nicht genug die Kunst bewundern, mit der er es versteht, diesen doch manchmal recht spröden Stoff aus dem Epischen ins Dramatische umzusetzen und damit notwendigerweise die vielen Anstöße, die sich bei der Betrachtung des Liedes aufdrängen, zu umgehen oder zu beseitigen. Mit virtuoser Kunst hat Hebbel das durchgeführt, und seine Arbeit[S. 133] dürfte unter den hier zu besprechenden bei weitem am besten gelungen sein. Vor allen Dingen ist er möglichst treu, nimmt den Stoff, wie er gegeben ist, und tut nicht allzuviel Eigenes hinzu. Das Hinzufügen neuer Gedanken soll damit natürlich nicht allgemein verurteilt werden, allein es bringt bei der Behandlung alter Stoffe doch die Gefahr mit sich, daß es von der Grundlage fühlbar absteht und den Eindruck von grellen Mißtönen hervorruft. Mit feiner Empfindung ist Hebbel daher im Hineinbringen neuer, eigener Gedanken sehr sparsam verfahren; eigentlich hat er nur zwei selbständige Zutaten gebracht: die eine besteht in der Art, wie er Brünhilt zur Zeit, da sie als Mädchen in Island lebt, auffaßt; ihr wird eine alte Magd, namens Fricka, an die Seite gestellt, die sie erzogen hat und gewissermaßen die alte Zeit, das alte Heidentum, repräsentiert; Brünhilts Person wird hauptsächlich durch das Hinzufügen dieser Fricka in eine übernatürliche, göttliche Sphäre hinaufgehoben. Die andre Zutat liegt in der am Schlusse der ganzen Dichtung erst deutlicher hervortretenden Auffassung Dietrichs von Bern. Auf welche Weise Dietrich an den Hof des Hunnenkönigs gekommen ist, läßt Hebbel einigermaßen im unklaren; er behauptet, Dietrich sei freiwillig, ohne durch irgendwelche äußern Umstände genötigt zu sein, an den Hof Etzels gekommen unter dem Einfluß gewisser übernatürlicher, mythischer Gewalten. Dietrich selbst erzählt einmal, wie er in einem Brunnen die Stimmen der Unterirdischen belauscht habe; damit wird sein Entschluß begründet, freiwillig in die Dienste eines andern Königs zu treten, obgleich er selbst ein König und dem erwählten Herrn mindestens ebenbürtig ist. Dietrich vertritt bei Hebbel die neue Zeit. Er verwaltet in der großen Tragödie ein göttliches Richteramt und spricht das Schlußwort:

Im Namen dessen, der am Kreuz erblich.

Dietrich ist also bei Hebbel der Vertreter des Christentums, wie andrerseits Brünhilt die Vertreterin des germanischen Heidentums ist. Diese beiden Pole stellt der Dichter einander gegenüber, und als Übergang und Verbindung beider denkt er sich die Ereignisse unseres Liedes.

Das ist im wesentlichen alles, was Hebbel aus Eigenem zu dem sonst treu bewahrten Inhalt des Liedes hinzugetan hat; man empfindet leicht, daß dies Wenige schon über das eigentliche[S. 134] innere Wesen der alten Sage hinausgeht; auch Hebbel ist in seinen Zutaten nicht glücklich gewesen, wenn er auch nicht so weit, wie vor ihm Wagner und nach ihm Jordan, von der alten Sage abgewichen ist. Hebbels Werk wird erst neuerdings anerkannt, doch noch lange nicht genug gewürdigt; sicher ist er derjenige, der einerseits den alten Stoff sich am innigsten zu eigen gemacht und andrerseits mit der größten dramatischen Kunst zur Darstellung gebracht hat. In der Zeit, da die „Nibelungen“ erschienen, stießen sie auf Unverstand und Übelwollen; es erschien eine (übrigens gar nicht so üble) Parodie des Hebbelschen Werkes unter dem Titel „Die Niegelungnen“, wenn ich nicht irre, aus der Feder des Humoristen Glasbrenner, der sich Brennglas nannte.[58] Immerhin — auch in der Verspottung liegt ein Maß von Anerkennung; Wertloses lohnt die Mühe des Parodierens nicht; und in diesem Sinne der (vielleicht unbeabsichtigten) Anerkennung können wir Glasbrenners Scherze wohl gelten lassen.

Der dritte namhafte moderne Bearbeiter unserer alten Sage ist Wilhelm Jordan. Er hat im Anschluß an Homer und unter dem bewußten Bestreben, ein deutscher Homer zu werden, die alte Sage behandelt; schon in der äußern Form seiner Dichtung „Die Nibelunge“ erkennt man dies Streben. Während Wagner und Hebbel Dramatiker sind, ist Jordan Epiker. Er gliedert seinen Stoff in zwei umfangreiche Epen, „Sigfridsage“ und „Hildebrands Heimkehr“ betitelt. Jedes dieser Epen umfaßt 24 Gesänge, genau nach dem Vorbilde der Einteilung Homers. Die gewählte Form ist ein freifließender Vers, stichisch wie der Hexameter des griechischen Vorbildes; mit großem Geschick hat Jordan nicht den für das deutsche Epos doch so fremdartig anmutenden, wenig geeigneten Hexameter gewählt, sondern den altgermanischen stabreimenden Vers nachzubilden gesucht.

Die Anlehnung an Homer ist, wie gesagt, bei Jordan bewußt; ist er doch sogar als Rhapsode, als wandernder Sänger in Deutschland und Amerika herumgezogen und hat seine eigenen Dichtungen vorgetragen. Und gerade sprachlich sind sie von wunderbarer Schönheit; wenig eignet sich so zum Vorlesen, wie Jordans „Nibelunge“ wegen der reinen Musik ihrer Sprache.

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Was den Inhalt angeht, so hat sich Jordan in der Sigfridsage im wesentlichen an den alten Stoff gehalten, und zwar in ziemlich menschlicher Auffassung der alten Erzählung. Insofern ist er also der alten Sage wohl gerecht geworden. Selbstverständlich behandelt er in dem Gedichte „Sigfridsage“ nur ihren ersten Teil. Den zweiten hat er als Episode in sein zweites Epos, „Hildebrands Heimkehr“, verwiesen; in diesem hat er sich freilich hinreißen lassen, sehr viel aus Eigenem hinzuzutun; der ganze Rahmen von „Hildebrands Heimkehr“ ist Jordansches Eigentum, die alte Sage ist ganz frei behandelt, sogar mit Ausblicken auf modernste Geschichte, und so geht denn „Hildebrands Heimkehr“ weit über den Inhalt unserer Nibelungensage hinaus. — Die Dichtungen Jordans sind erschienen: „Sigfridsage“ 1867 und 68, „Hildebrands Heimkehr“ 1874.

In der Art, wie Jordan den altgermanischen Vers auf die heutige Sprachform anwendet, beweist er großes formales Geschick: jeder Vers hat bei ihm vier Hebungen, die durch ein- bis zweisilbige Senkungen getrennt sind, und ist in der Mitte durch einen Einschnitt gegliedert. Der Stabreim verbindet (in der Regel) mindestens je eine Hebung vor und nach dem Einschnitt miteinander; doch weicht Jordan vom Gesetz des altgermanischen Verses insofern ab, als er nicht mehr die dritte Hebung (d. i. die erste der zweiten Vershälfte) unter allen Umständen mit Stabreim versieht, für den Schmuck des Verses also nicht mehr maßgebend sein läßt; zu dieser Abweichung berechtigt Jordan die Entwicklung unserer Sprache: altgermanische Syntax stellt bei Verbindung zweier Nomina das höher betonte unbedingt voran; eben dies aber mußte und muß den Stabreim tragen, soll er hörbar sein; wir ordnen heute die Wortfolge in der Regel umgekehrt, stellen also z. B. auch ein wenig wichtiges Adjektiv vor das zugehörige Substantiv; davon ist die notwendige Folge, daß bei ungezwungenem Bau stabreimender Verse viel eher die vierte Hebung wichtig wird als die dritte. Um einen Begriff von Jordans Weise zu geben, setze ich den Eingang des ersten Gesanges der „Sigfridsage“ hierher:

Zu süßem Gesang, unsterbliche Sage,

Laß mich nun dein Mund sein voll uralter Mären

Und leg’ auf die Lippen das Lied von Sigfrid,

Dem herrlichen Helden mit furchtlosem Herzen,

Der den Hüter des Hortes den Lintwurm erlegte,

[S. 136]

Durch die flammende Flur auf flüchtigem Rosse

Den Brautritt vollbrachte und Brunhild erweckte,

Die der zürnende Gott im Zaubergarten

Zu schlafen verdammt und mit Dornen umschlossen.

Von diesen neun Versen sind drei (3., 6., 7.) dreistäbig mit nach alter Weise herrschender dritter Hebung, drei (1., 2., 4.) dreistäbig mit herrschender vierter Hebung. Zwei (8., 9.) haben doppelten Stabreim, insofern als in ihnen die erste Hebung mit der dritten (bzw. vierten), die zweite mit der vierten (bzw. dritten) gebunden ist; solch doppelter Stabreim kommt auch in der alten Zeit vor, doch immer so, daß gleichhochbetonte Silben gleichen Anlaut aufweisen; der Stabreim der minder betonten erscheint als etwas Nebensächliches und Zufälliges; nach diesem Gesichtspunkte müßte Jordan zunächst in Vers 8 die zweite Hebung mit der dritten, in Vers 9 die erste Hebung mit der dritten gebunden haben; die Verse sind also falsch gebaut, ihr Reim würde bei richtigem Vortrage ohne jede Wirkung sein. Falsch gebaut ist zweifellos auch Vers 5, dessen beide Hälften nur in sich reimen, also auseinander klaffen.

Wagner, Hebbel und Jordan sind die bedeutendsten modernen Bearbeiter der Nibelungensage; von ihnen steht, was die glücklichste Auffassung der alten Sage, das tiefste Eindringen in ihren Geist angeht, zweifellos Hebbel an erster, Wagner an letzter Stelle. Allein gerade Wagner ist es natürlich, der am meisten dazu beigetragen hat, das Interesse am heimischen Altertum in weitesten Kreisen zu erwecken: durch die wunderbare musikalische Komposition seines „Ringes“, die er zum ersten Male im August 1876 dem deutschen Volke und der ganzen Kulturwelt darbot, hat er so gewaltig für die Kenntnis der alten Sage gewirkt, daß jeder Freund derselben ihm größten Dank schuldig ist.

[S. 137]

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