VIII. Erneuerung der Kenntnis des alten Stoffes seit dem 18. Jahrhundert.

Der erste, der dafür tätig gewesen ist, daß wir wieder Geschmack und Interesse für unsere ältere Literatur bekommen haben, und der deshalb nicht vergessen werden darf, obgleich ihn seine jüngern Zeitgenossen (im allgemeinen unverdienter Weise) viel geschmäht und dadurch fast der Vergessenheit überliefert haben, ist Gottsched. Er hat 1752 dem Heldenbuch und dem Hürnen Seifrid gelehrte Beachtung geschenkt; vom Nibelungenliede weiß er noch nichts. Das lag damals noch für Gelehrte und Ungelehrte im Staube der alten Bibliotheken vergraben. Erst drei Jahre nach dieser ersten Betätigung Gottscheds auf dem Gebiete unserer alten Literatur entdeckte ein junger Mediziner, Namens Obereit, bei einem Besuche des Schlosses Hohenems in Vorarlberg 1755 am 29. Juni die von uns jetzt mit C bezeichnete Handschrift des Nibelungenliedes, und von diesem Augenblicke an ist das Gedicht neu belebt, denn durch Obereit ward Bodmer, der Führer der Schweizer im Streite wider Gottsched, bekannt mit der Handschrift und gab einen Teil von ihr heraus: 1757 ließ er den zweiten Teil des Liedes samt der Klage von einem zufälligen Punkte an, nämlich vom Wiedereinsetzen des Textes nach der letzten Lücke von C (Str. 1682 Holtzmann) an, abdrucken. Den fehlenden Eingang hat er durch eine eigene mittelhochdeutsche Reimerei ersetzt, die ihm natürlich mißglückt ist. Die Ausgabe trägt den Titel: „Chriemhilden Rache, und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte“. Viel Erfolg hat sie freilich nicht gehabt, obgleich Bodmer selbst noch für die erste neuhochdeutsche Bearbeitung gesorgt hat: im Jahre 1767, also zehn Jahre später, veröffentlichte er unter dem Titel „Die Rache[S. 124] der Schwester“ eine Übertragung des mittelhochdeutschen Textes seiner Ausgabe in deutsche, wenig glücklich gebaute Hexameter. Wenn auch damit nicht allzuviel für das Lied geschehen war, so war doch ein Schritt getan, auf dem weiter gebaut werden konnte; das Interesse war geweckt. Nach kaum einem Menschenalter ist ein jüngerer Gelehrter, ein Schüler Bodmers, Myller, in der Lage, nicht bloß das Nibelungenlied, und zwar vollständig, sondern eine größere Anzahl von Gedichten aus dem deutschen Mittelalter in einer Sammlung herausgeben zu können, auf die bereits hervorragende Personen subskribieren, und die sich sogar an die höchsten Stellen wendet: Myller erbat und erhielt noch 1780 von König Friedrich II. von Preußen die Erlaubnis, ihm das Sammelwerk zueignen zu dürfen. Im Jahre 1782 erschien daher als erstes Stück der Myllerschen Sammlung die erste vollständige Ausgabe: „Der Nibelungen Liet, ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert. Zum ersten Male aus der Handschrift ganz abgedruckt“. Myller legte Bodmers Ausgabe zugrunde und fügte den ersten Teil aus einer Bodmer gehörigen Abschrift hinzu; als Bodmer sich seinerzeit diese Ergänzung zu seinem Texte aus Hohenems verschaffte, war aber ein Irrtum untergelaufen: in Hohenems lagen ja zwei Handschriften, nämlich außer C, auf der Bodmers Ausgabe beruht, noch A; letztere wurde zufälligerweise zur Ergänzung benutzt, und so stellt sich die erste vollständige Nibelungen-Ausgabe in ähnlicher Art als Mischtext dar, wie es um 1300 mit der Gruppe Db und um 1450 mit der Bearbeitung k der Fall war. Daß die Handschriften C und A im Texte ziemlich weit voneinander abstehen, konnte man um 1780 noch nicht beurteilen. Das Werk war, wie gesagt, keinem Geringern gewidmet als Friedrich dem Großen, und ihm natürlich auch ein Exemplar übersandt worden. Dafür hat sich der König in einem höchst charakteristischen und eigentümlichen Briefe bedankt, aus dem hervorgeht, daß damals die Zeit des Verständnisses für unsere ältere Literatur noch nicht gekommen war, am allerwenigsten Friedrich dem Großen, der ja nicht einmal an der eben neuerblühten deutschen Literatur irgendwelchen Anteil nahm. Der Brief lautet:

Hochgelahrter, lieber getreuer.

Ihr urtheilt, viel zu vortheilhafft, von denen Gedichten, aus dem 12., 13. und 14. Seculo, deren Druck Ihr befördert[S. 125] habet, und zur Bereicherung der Teutschen Sprache so brauchbar haltet. Meiner Einsicht nach, sind solche, nicht einen Schuß Pulver, werth; und verdienten nicht aus dem Staube der Vergessenheit, gezogen zu werden. In meiner Bücher-Sammlung wenigstens, würde Ich, dergleichen elendes Zeug, nicht dulten; sondern herausschmeißen. Das Mir davon eingesandte Exemplar mag dahero sein Schicksal, in der dortigen großen Bibliothec, abwarten. Viele Nachfrage verspricht aber solchem nicht, Euer sonst gnädiger König

Potsdam, d. 22. Februar 1784. Frch.

Der Brief wird auf der Züricher Bibliothek unter Glas und Rahmen aufbewahrt. Er ist geschrieben nach Vollendung des ersten Bandes der Sammlung, der außer den Nibelungen noch die Eneit, den Parzival und den Armen Heinrich enthält, bezieht sich also nicht ausschließlich auf unser großes Epos (der König spricht ja auch von „denen Gedichten“); man hat deshalb neuerdings geglaubt, die Nibelungen von des Königs hartem Urteil entlasten zu dürfen. Allein das ist vergebliches Bemühen: sie gehören eben gleich als erstes mit zu „denen Gedichten“, und es wäre sehr merkwürdig, wenn Friedrich bei seiner, wenn auch einseitigen, doch offenbar ehrlichen Kenntnisnahme gerade am ersten Stücke vorübergegangen wäre. Vom Standpunkte des Königs Friedrich ist diese Mißachtung unsers Gedichts wohl zu verstehen, denn wir müssen erst von seinen Anschauungen hinweg über Goethe bis in die Romantik hinein, ehe wir wirklich Interesse und Geschmack für unsere alte Vergangenheit erwarten dürfen.

Wichtig für die weitere Entwicklung unserer Kenntnis des alten Liedes sind die Vorlesungen, die August Wilhelm Schlegel in den Jahren 1802 und 1803 in Berlin gehalten hat. Diese Vorlesungen sind zwar nicht gedruckt worden, allein es wohnte ihnen ein Mann bei, der dann sein ganzes Leben der Germanistik und in erster Linie dem Nibelungenliede gewidmet hat, Friedrich Heinrich von der Hagen. Er hat zuerst im Jahre 1807 den Versuch gemacht, eine Erneuung des Liedes zu schaffen, d. h. die alte Sprachform der neuhochdeutschen im äußern Gewande, der Orthographie, vielleicht auch in der Wortwahl, so weit anzunähern, daß man den alten Text zur Not mit Verständnis lesen[S. 126] konnte. Diese Erneuung ist nun freilich noch keine Übersetzung; ohne Wörterbuch kommt Hagen noch nicht aus; sie bedeutet aber einen gewaltigen Schritt vorwärts, auch insofern, als hier zum ersten Male die strophische Form der alten Dichtung erkannt war. 1810 ließ Hagen seine erste Ausgabe des alten Textes erscheinen; freilich bot sie (und ebenso die bald darauf geschaffene, eingangs erwähnte Zeunesche) noch die Myllersche Handschriftenmischung. Doch bald darauf erkannte Hagen den bisher obwaltenden Irrtum, und in der zweiten, 1816 erschienen Auflage seiner Ausgabe hat er die St. Galler Handschrift (B) zugrunde gelegt und so zum ersten Male einen authentischen Text dargeboten. In seinem langen, bis 1856 währenden Leben hat er am Liede immer weiter gearbeitet.

Die erste kritische Ausgabe unseres Gedichtes lieferte 1826 Karl Lachmann; er legte den von der Hohenems-Münchner Handschrift A gebotenen Text zugrunde, weil er ihn, als den kürzesten, auch für den ältesten hielt; alle übrigen Handschriften enthielten nach seiner Meinung nur Überarbeitungen, also B sollte auf Grund von A, C auf Grund von B entstanden sein usw. Mit seiner Anschauung vom Werte der überlieferten Texte verband Lachmann seine Theorie vom Ursprunge des Gedichtes, die er bereits 1816 in seiner Schrift „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ dargelegt hatte und 1836 unter dem Titel „Zu den Nibelungen und zur Klage: Anmerkungen“ im einzelnen ausführte. Er nahm an, daß der Text nichts weiter sei, als die Überarbeitung einer Sammlung von zwanzig an sich selbständigen Liedern, die im allgemeinen inhaltlich eins auf das andere folgten und, wenn nötig, durch eingelegte Zwischenstücke verbunden worden wären; auch glaubte er, diese Lieder noch in allen Einzelheiten wiederherstellen zu können. Er stützte sich bei seiner Arbeit auf das häufige Wechseln des Tones, das er allerdings, wie man zugestehen muß, mit großer Sicherheit herausempfunden hat, sowie auf das Vorhandensein mehrerer Widersprüche. Von letzteren sind zwei (der bei der Verwechslung von Treisenmûre und Zeizenmûre obwaltende und derjenige, der Dankwarts Lebensalter betrifft) bereits vorhin (S. 105 und 85) erörtert worden; ein dritter besteht darin, daß Günther in Str. 911 (Bartsch) die Jagd, auf der Siegfried ermordet werden soll, im Wasgenwalde ansetzt, während sie doch dann, von Worms aus gerechnet, jenseits des Rheines stattfindet; er erledigt sich[S. 127] nach unserer vorhin vorgetragenen Anschauung als einfacher Schreibfehler der Grundhandschrift der Not-Gruppe. — Ferner war Lachmann, als er sich dem Nibelungenliede zuwandte, beeinflußt von der Homerkritik Friedrich August Wolfs; er glaubte dessen für das griechische Altertum gültige Anschauungen auf das deutsche Mittelalter übertragen zu dürfen; daß dies nicht angängig ist, bedarf heute wohl kaum einer Widerlegung. Immerhin gewährt die Liedertheorie stellenweise die einzige Möglichkeit, Fragen, die der überlieferte Text dem gelehrten Kritiker stellt, zu lösen, und wir haben sie selbst, wenn auch in bescheidenem Umfange, bei der Untersuchung des Stoffes angewendet; es ist nur keineswegs angängig, eine Lösung auf dem Wege anzustreben, daß man nebeneinander liegende Stücke einfach wie mit einem Scherenschnitte voneinander trennt; übereinander liegen die Schichten, die die lange Entwicklung des Stoffes abgesetzt hat, nicht nebeneinander.

Bei der Abgrenzung der echten und unechten Teile im einzelnen hat sich Lachmann von der Vorstellung leiten lassen, daß jedes „echte“ Lied aus einer Anzahl von Strophen bestehe, die durch sieben teilbar sein müsse. Er hat sich darüber nicht geäußert; erst kurz nach seinem 1851 erfolgten Tode erkannte Jakob Grimm dies merkwürdige Verhältnis. Lachmanns unbedingte Anhänger versuchten auch die Geltung der Siebenzahl zu erhärten, doch ohne irgendwelche schlagenden Gründe.

Nachdem die Meinung, daß der echte Nibelungentext allein in der Handschrift A vorliege, ein Menschenalter hindurch unbedingt geherrscht hatte, traten im Jahre 1854 kurz nacheinander zwei Gelehrte mit der Ansicht hervor, daß der echte Text vielmehr durch die Hohenems-Laßbergische Handschrift C, als die vollständigste und inhaltlich am besten abgerundete von allen, repräsentiert werde, B aber und gar erst A verkürzende Bearbeitungen des in C vorliegenden Originales seien; es waren Adolf Holtzmann („Untersuchungen über das Nibelungenlied“) und Friedrich Zarncke („Zur Nibelungenfrage“); sie verwarfen natürlich auch die Liedertheorie und behaupteten einheitliche Konzeption des Gedichtes. Ihr Auftreten war das Zeichen zum Ausbruche eines heftigen, mit großer Hitze geführten Gelehrtenstreites; er ist begreiflich, denn während Lachmann von dem kürzesten und schlechtesten Texte ausgegangen war, verfielen Holtzmann und Zarncke in das entgegengesetzte Extrem, indem sie den längsten, zweifellos[S. 128] interpolierten Text zugrunde legten (auch in ihren, zuerst 1857, bez. 1856 erschienenen Ausgaben).

Einen vermittelnden Standpunkt nahm zuerst Karl Bartsch ein; nachdem er ihn bereits 1862 auf einer Philologenversammlung geltend gemacht hatte, legte er ihn im einzelnen dar in seinen 1865 erschienenen „Untersuchungen über das Nibelungenlied“. Nach seiner Meinung ist der Originaltext verloren; wir besitzen nur zwei zu Ende des 12. Jahrhunderts entstandene und im wesentlichen durch die Handschriften B und C repräsentierte Überarbeitungen desselben; diese Überarbeitungen sollen durch den Umstand veranlaßt sein, daß das Original in seiner Reimtechnik noch ziemlich unvollkommen gewesen sei; die fortgeschrittenere Kunst des ausgehenden 12. Jahrhunderts habe reinere Reime verlangt und dadurch zwei Männer, die voneinander nichts wußten, bewogen, das Original im wesentlichen reimbessernd zu überarbeiten.

Bartschs Theorie hat sich viel Anhänger erworben, besonders in der Anschauung, daß die Handschrift B zwar nicht das Original, wohl aber einen diesem sehr nahestehenden Text biete; dagegen hat die Meinung, daß Reimungenauigkeit die Ursache der doppelten Überarbeitung sei, fortgesetzt an Boden verloren, weil 1) die große Mehrzahl aller Reime beiden Bearbeitungen eigen ist, also aus dem Original stammt, aber auch ohne Tadel ist, und 2) Bartsch so verfährt, als ob jede Abweichung der beiden Texte voneinander lediglich durch ungenauen Reim des Originals veranlaßt sein könnte. In dieser Beziehung ist Bartschs Theorie durch Hermann Paul („Zur Nibelungenfrage“, 1876) wesentlich modifiziert worden; er gibt zwar zu, daß B und C Paralleltexte sind, die auf ein verlorenes Original zurückweisen, lehnt aber die Begründung der Abweichungen auf Reimungenauigkeiten des Originals ab.

Wesentlich gefördert, besonders in bezug auf die Bestimmung aller einzelnen Handschriften, ist neuerdings unsere Kenntnis worden durch die schon erwähnte Schrift von Wilhelm Braune „Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes“ (1900); auch ihm sind B und C im wesentlichen Paralleltexte, doch steht nach seiner Meinung B dem Original so nahe, daß es für dasselbe gelten kann; C dagegen ist für Braune eine allmählich entstehende planmäßige Überarbeitung: ihr Autor soll längere Zeit an ihr tätig gewesen sein, die erste Stufe seiner Arbeit in d und ihren nächsten Verwandten, die zweite desgleichen in I und die vollendete erst in[S. 129] C uns vorliegen; es ist die vorhin eingehend erörterte, schwierig zu beurteilende Handschriftengruppe Id, die Braune zu dieser immerhin seltsamen Anschauung veranlaßt hat. Wie diese Gruppe auch einzuordnen sein mag, jedenfalls steht heutzutage fest, daß B dem Originale des Gedichtes am nächsten steht, daß C stark überarbeitet ist, und daß A auf irgendwelchen selbständigen Wert keinerlei Anspruch machen kann; alles übrige mag immer noch nach subjektivem Empfinden beurteilt werden.

Es konnte an dieser Stelle nicht meine Aufgabe sein, alle Arbeiten zu erwähnen, die unsere Kenntnis von Nibelungenlied und Nibelungensage gefördert haben; nur die Marksteine der Entwicklung unserer Kenntnis sollten hervorgehoben werden, und das ist geschehen, soweit die wissenschaftliche Seite in Frage kommt; nicht geringer aber ist das Verdienst derjenigen, die in erster Linie dahin gewirkt haben, die alte Dichtung unserm Volke wieder näher zu bringen, der Übersetzer und der modernen Bearbeiter. Von jenen erwähne ich nur Karl Simrock, der seine Übersetzung bereits 1827 erscheinen ließ; heute (1906) liegt sie in 58. Auflage vor; sie ist diejenige, die sich am treuesten von allen dem Original anschmiegt, und deshalb besonders geeignet zur ersten Einführung in das Verständnis des alten Gedichtes. Daher habe ich sie 1909 für Meyers Klassiker-Ausgaben neu herausgegeben, sowie mit einer Einleitung und den Text Schritt für Schritt begleitenden Anmerkungen versehen.

[S. 130]

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