IV

Du willst mir augenscheinlich dartun, daß du wirklich kein Herz habest, indem du mit vernichtender Übergehung meines gefühlsbetonten Briefschlusses tadelst, ich schriebe chaotisch, was du am allerwenigsten vertragen könnest. Vollständige Dunkelheit sei weniger schädlich als Zwielicht voll undeutlich auftauchender Gestalten. Ich behandle, sagst du, Gott, Teufel und ähnliche Phänomene als selbstverständliche Voraussetzung; das sei wohl in religösen Zeiten unter religiösen Menschen erlaubt, welchen diese Namen etwas Bekanntes bezeichneten, jetzt seien sie aber leer und ich hantierte damit herum wie jene listigen Betrüger mit des Kaisers neuen Kleidern. Ich sollte dir einmal schreiben, wie wenn du ein in der Wildnis aufgelesenes, zwar sehr gescheites, aber ganz unwissendes Botokudenkind wärest. Du wissest, daß Gott sich nicht vorrechnen lasse wie ein Exempel, ich solle auch nicht von ihm sprechen, wie einer von seinem Freund, dem Geheimen Kommerzienrat Soundso, spreche; aber auf einen klaren, verständlichen Ausdruck müsse etwas Seiendes sich bringen lassen, wenn auch nicht auf einen erschöpfenden.

Ich werde gehorsam versuchen, den König mit dem gescheiten Botokudenkinde zu verschmelzen und meinen Vortrag danach einzurichten. Die Verbindung ist auch gar nicht so paradox, wie es zuerst scheint. Das Kind sagt zu seiner Mutter: Gib mir die Sterne! Philipp III. befahl Spinola: Nimm Breda! Ich, der König. Du schreibst: Erkläre mir Gott! Es soll mich nicht abschrecken, daß Spinola, wenn eine dunkle historische Erinnerung mich nicht trügt, am Gram über die Ungnade seines Königs gestorben ist.

Die Völker haben nicht damit angefangen, an einen Gott zu glauben; denn der kindliche Geist nimmt die Welt nicht als Ganzes, sondern in Einzeleindrücken auf. Man weiß von einer ganzen Reihe von Völkern, daß sie, auf den ersten Stufen der Entwickelung befindlich, alles als Gott verehrten, was ihnen vorkam, was sie als außer sich seiend auffaßten: nicht nur Bäume, Wiesen, Tiere, Sterne, sondern auch Ereignisse, Vorgänge, Erwünschtes, Gefürchtetes. Alles, was sie von sich selbst und anderen Menschen unterschieden, war ihnen Gott, so daß es ihnen so viel Götter gab, wie sie Eindrücke empfingen. Sie nannten diese Götter zunächst Dämonen, und sie sind als Heilige, Engel und Teufel auch in der christlichen Kirche erhalten geblieben. In der Wissenschaft hat man sie sehr gut Augenblicksgötter genannt; es sind also Eindrücke von Einzelkräften.

Der menschliche Geist hat nun die Eigenart, daß er die Eindrücke von Einzelkräften fortwährend verdichtet, genau so, wie die Kräfte selbst sich verdichten. Wie der rotierende Urnebel sich zu festen Kernen, den Gestirnen, verdichtet, so verdichten sich im menschlichen Geiste die Augenblicksgötter allmählich zu sogenannten Sondergöttern, diese allmählich zu persönlichen Göttern. So ist zum Beispiel dem kindlichen Menschen jede Sonne, im Augenblick wo sie ihm aufgeht, etwas Glückbringendes oder Verderbendrohendes; erst später erfand er etwa die die Saat hervorlockende Frühlingssonne als eine besondere Gottheit, und viele Veränderungen müssen erst in seinem Geiste vorgehen, bevor sich die Kraft der Sonne überhaupt in den persönlichen Gott Apollo verwandelt. Willst du ausführlichere Belehrung darüber haben, so empfehle ich dir ein vorzügliches Werk von Usener mit dem Titel: Götternamen. Aus unzähligen Augenblicksbildern entsteht ein Bild, und aus Myriaden von Augenblicksgöttern entstehen Sondergötter und endlich persönliche Götter.

Die vergleichende Sprachwissenschaft und Mythologie gibt darüber Auskunft, wie die uns bekannten griechischen Götter die alten Augenblicksgötter an sich gezogen, sich untergeordnet und verschlungen haben, obwohl sie zum Teil, auf dem Lande, in dem noch unentwickelt gebliebenen menschlichen Geiste, ein verborgenes Dasein weiter fristeten. Ihrerseits werden die persönlichen Götter nach und nach wiederum verschlungen von dem einen Gott; der menschliche Geist wird allmählich fähig, die Welt als Ganzes aufzufassen, er erhebt sich zu der Einsicht, daß es vielerlei Kräfte gibt, daß aber nur ein Geist ist, der da wirket alles in allem.

Der menschliche Geist erfaßt also zuerst lauter Einzeleindrücke, die sich immer mehr verdichten, bis er zuletzt die Idee der einen unendlichen Welt und des einen unendlichen Gottes erfaßt; er geht von der Vielheit zur Einheit, und zwar im selben Maße, wie er sich selbst immer mehr als Einheit erfaßt. Solange sein eigenes Ich eine Reihe von Einzelempfindungen für ihn ist, ist ihm die Welt eine Reihe von Einzeleindrücken; wie sein Selbst sich verdichtet, verdichtet sich ihm die Welt und in ihr Gott.

Jeder Mensch, der sich seines Ich, seines Selbst, bewußt ist, ist sich eines Nicht-Ich bewußt; denn er erfährt sein Ich ja erst, indem er es vom Nicht-Ich unterscheidet, und dies Nicht-Ich nennt er, soweit es nicht seinesgleichen ist und soweit er sich davon abhängig fühlt, Gott. Ich möchte den Satz aufstellen: Es gibt nichts außer der göttlichen Kraft und der durch das Ich zugleich beschränkten und geprägten Kraft. Luther sagte: Denn außer der Kreatur gibt es nichts, denn die einige, einfältige Gottheit selbst. Als zu sich, zu seinem Selbst gehörig empfindet der Mensch alles, was von ihm abhängt, als zu Gott gehörig alles, was nicht von seiner Willkür abhängt, wovon im Gegenteil er abhängt.

Es ist natürlich, daß gerade der noch unkultivierte Mensch sich in der Gewalt von Naturkräften fühlt; aber auch im Menschen selbst wirken Kräfte, die nicht von seinem Willen abhängen: sein Leben und Sterben, sein Lieben und Hassen, seine Schaffenskraft und sein Unvermögen. „Das Gemüt ist dem Menschen sein Dämon“, hat schon Heraklit gesagt. Alle menschlichen Kräfte, die nicht von seinem Willen abhängen, empfand der Mensch ebensogut als göttlich wie die außer ihm herrschenden. Man hat sie neuerdings wohl das Unbewußte genannt oder darunter mitbegriffen; das, was ich meine, sollte man richtiger das Unwillkürliche nennen, das, was in uns wirkend doch nicht von unserem Willen abhängt. Allerdings entsteht das, was von uns unabhängig in uns gewirkt wird, nach antikem Sprachgebrauch das Dämonische, ohne unser Wissen; erst das vollendete Ergebnis, sei es Idee, Gefühl, Gestalt, tritt in unser Bewußtsein, und insofern kann man vom Unbewußten sprechen. Alles das, was uns nicht erst als fertiges Ergebnis ins Bewußtsein tritt, sondern was wir selbst machen, gehört in das Gebiet des Selbstbewußtseins. Stellt man Selbstbewußtes und Unbewußtes einander gegenüber, so sollte man im Sinn haben, daß im Unbewußten das Bewußtsein des Nicht-Ich für das Ich eintritt, daß man also ebensogut von Allbewußtsein oder Gottbewußtsein sprechen kann. Volkstümlich ist der Unterschied stets empfunden worden und ganz richtig als Unterschied von Kopf und Herz bezeichnet; nur führt dieser Ausdruck leicht zu dem Mißverständnis, als handle es sich um einen Unterschied von Gefühl und Gedanke, was durchaus falsch ist, da auch Gedanken aus dem Herzen kommen: wir nennen sie Ideen oder Einfälle. Wir sind Menschen, soweit wir Kopf, wir sind Gott und Teufel, soweit wir Herz sind. Gewöhnlich sind wir nur bald das eine, bald das andere, ein Durcheinander von beidem; unser Ziel ist, Gottmensch zu sein, das heißt, die gesamte göttliche und die gesamte menschliche Kraft in einer Person harmonisch zusammenzufassen.

Der bequemeren Übersicht halber setze ich dir ein Schema her, wobei ich davon ausgehe, daß die göttlich-menschliche Kraft sich bildend, handelnd und denkend äußert.

Herz Kopf
Gott Mensch
Müssen Wollen
Bilden oder wachsen lassen Machen
Taten tun Überlegt handeln
Ideen haben Denken

Wenn du einmal für den im Menschen sich offenbarenden Gott das Dämonische setzest, welchen Wortes Bedeutung dir ja wohl ohnehin klar war, so werden dir viele Aussprüche aus der Bibel und von Luther sofort viel verständlicher sein und helleres Licht ausstrahlen. Nehmen wir den Spruch: Wenn wir auch sündigen, so sind wir doch die Deinen und wissen, daß du groß bist. Das heißt: Wir sündigen, unsere Leidenschaft reißt uns hin, wir bereuen es, aber unsere Reue macht uns nicht kraftlos und mutlos. Denn gerade daß wir taten, was wir mußten, beweist uns, daß wir Kraft haben; diese Kraft wird uns wieder emporheben und uns große oder gute Taten tun lassen.

Wenn Luther sagt: Der Anfang aller Sünde ist, von Gott weichen und ihm nicht trauen, so heißt das: wer sich nicht auf sein Herz, nur auf seinen Kopf verlassen kann, der hat keinen inneren Frieden, keine Sicherheit und keine Kraft.

Wenn Luther sagt, der Glaube verschlinge die Sünde sofort auch ohne Reue, so heißt das wie oben: dämonische Menschen werden sündigen, aber auch schaffen.

Wie befremdet zunächst das Wort: „Was Gott nicht geboten hat, das ist verdammt.“ Und es heißt doch nur, was jedem unmittelbar einleuchtet: Wer Ideen und Gefühle hat, so stark, daß sie ihm zum Führer und Wegweiser werden, der ist selig. Quo dii vocant eundum ist eine alte Devise, die ich als Kind einmal las und mir zum Motto wählte, ohne ihren Sinn so logisch zu verstehen, wie ich jetzt tue.

„Ein Christ soll pochen nicht auf sich, noch auf Menschen, noch auf den Mammon, sondern auf Gott!“ Das heißt: Wir sollen uns nicht auf irgendeine weltliche Macht, noch auf die Gedanken, Überlegungen, Absichten verlassen, die von uns selbst oder anderen ausgehen, sondern auf die göttliche Stimme in uns, auf unser Gefühl und Gewissen. „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, werden ausgereutet“, Matth. 15, das heißt: Nicht das Machwerk, sondern das Kunstwerk, das Gewordene, Gewachsene, nicht die moralische Handlung, sondern die Tat aus dem Herzen lebt und zeugt Leben.

Ist es nicht eigentümlich, daß es wahrscheinlich viele Menschen gibt, die der Meinung sind, der Spruch bedeute, daß jeder Mensch verworfen sei, der nicht jeden Sonntag zur Kirche gehe, der nicht zu gegebener Zeit bete und dergleichen; und daß sein wahrer Sinn ungefähr auf das Gegenteil hinausläuft?

Am schrecklichsten zürnt Gott, sagt Luther einmal, wenn er schweigt, nach seiner Drohung bei Jeremias: „Mein Geist wird nicht mehr Richter sein auf Erden.“ Dann tritt an die Stelle lebendigen Wachstums abschnurrende Mechanik. Es ist merkwürdig, daß ein Jahrhundert nach Luther der seltsame Hang die Menschen ergriff, das Perpetuum mobile zu erfinden. Die heimliche Lust am Automatischen und zugleich das Grauen davor gibt den Werken E. T. A. Hoffmanns ihren grotesken Charakter, die Ahnung des Verhängnisses seiner Zeit, mit der er zu seiner eigenen Verzweiflung selbst verwachsen war.

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