VII

Ich erhielt eine Karte, auf welcher nichts weiter stand als dies: Du mußt nicht immer alles auf einmal sagen wollen. Aus deiner Handschrift schließe ich wohl nicht mit Unrecht auf dich als Urheber und antworte dir, daß das schwer zu vermeiden ist, wenn man vom All spricht. Die Leute, die immer nur von Einzelheiten reden, haben es leicht. Ich weiß, wie das ganze Mammut aussehen muß; wenn es mit der Zusammensetzung der einzelnen Knochen hapert, so hilf mir oder nimm es nicht so wichtig. Darin hast du freilich recht, daß es uns nicht eilt: die herbstlichen Nächte sind lang, und meinen König schläfert nicht.

An Gott wolle jeder glauben, sagte Luther, auch die Heiden taten es; aber das wollten sie nicht glauben, daß Gott sich um die Menschen bekümmere. Da der Denkende auf eine letzte Ursache aller Erscheinungen stößt, so ist er an Gott zu glauben sogar gezwungen, wie es in der Bibel heißt: Die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott. Ein solcher Epikureer bist du vermutlich auch, wie Luther diejenigen nannte, die den fleischgewordenen Gott ablehnten. Daß Gott Mensch wird, ist im Grunde kein anderes Problem, als daß das Sein überhaupt wird; und so müßte der, welcher glaubt, daß Gott sich in der unbewußten Natur offenbart, auch glauben können, daß er Mensch wird. Wie dem aber auch sei, das Wunder der Menschwerdung Gottes ist uns das Wunderbarste, und schon alte Kirchenlehrer meinten, es müsse heißen verbum caro facta est, nicht factum est, da das Werden sich nur auf das Fleisch, nicht auf das Wort beziehen könne.

Ich habe dir kürzlich davon erzählt, daß der reifende Geist der Griechen allmählich anfing, die Welt als Einheit zu erfassen, und im Maße, wie er das tat, erlosch der Glaube an die persönlichen Götter. Schon ziemlich früh taucht die Idee des Einen Gottes auf: so rief man zum Beispiel bei Gebeten sämtliche Götter an und war sehr besorgt, keinen auszulassen; oder man setzte mehreren Hauptgöttern einen gemeinsamen Altar, ja man schmolz alle Götter schon in den einen Namen des Pantheos zusammen. Paulus fand in Athen, wie er in seiner wundervollen Rede sagt, einen Altar, auf dem geschrieben stand: Dem unbekannten Gotte. „Nun verkündige ich euch denselbigen, dem ihr unwissend Gottesdienst tut“, sagte er zu den Griechen. Es erscheint zuerst sonderbar, daß der griechische Geist so weit kam, zu erkennen, daß Ein Gott sei, der da wirke alles in allem, daß aber dieser Eine Gott trotz aller Beschwörungen nicht erschien, sondern der Unbekannte blieb. Es hatten sich einst unzählige Augenblicksgötter zu persönlichen Göttern verdichtet; man sollte meinen, einer derselben, Zeus etwa oder Apollo, hätte nun seinerseits alle andern besiegen und als der gesuchte Eine Gott hervortreten können. Das ging indessen deshalb nicht, weil dies nicht Augenblicksgötter, Begriffsgötter, sondern persönliche Götter waren, und das Persönliche ist unteilbar, kann nicht in einer anderen Person aufgehen. Es mußte ein anderer, Mächtigerer kommen, um die Olympier vom Throne zu stoßen. Jehova hätte das nicht sein können, der nur ein persönlicher Gott mehr in der Götterrepublik war, und dasselbe war mit jedem andern Gotte irgendeines andern Volkes der Fall. Man kann sagen, die Idee des einen, unendlichen, allumfassenden Gottes sei zu ungeheuer gewesen, um im menschlichen Geiste Person zu werden. Das Unlösbare wurde gelöst durch ein Wunder: die Idee personifizierte sich nicht im menschlichen Geiste, sondern sie erschien im Fleisch als Jesus Christus. In dem Gottmenschen konnten alle Göttervorstellungen aufgehen.

Was geschah, kann man auch so ausdrücken: Der menschliche Geist war zu der Erkenntnis gereift, daß das Herz der Menschheit zugleich das Herz Gottes ist; daß die Menschheit, die die ganze Natur vertritt und ihrerseits durch Christus vertreten wird, Gott verwirklicht. Nachdem der menschliche Geist lange Zeit Götter hervorgebracht hatte, tat er nun den ungeheuren, den letzten Schritt in seiner Entwickelung, sich selbst als Gott zu erkennen. Diese Wahrheit wurde als frohe Botschaft verkündet und erfüllte die Verkündiger selbst mit überirdischer Seligkeit. Dies, daß Gott Mensch geworden, daß ein Mensch Gott war. Daß aber tatsächlich gerade diese Lehre so viel Widerstreben findet, hat meiner Ansicht nach folgende Gründe, die Luther ohne weiteres und ganz richtig teuflisch nennen würde, da es Gründe der Selbst-Sucht sind. Wäre Gott irgendein weltlicher Fürst gewesen, so wäre das eine Göttlichkeit gewesen, nach der man hätte streben können; aber Christus bekehrte die Sünder und heilte Kranke und erweckte die Toten; das sind Gaben, die nur die Gnade verleihen kann. Ferner: jeder Mensch, wenigstens jeder Mann, hat und muß die Neigung haben, sich selbst als Gott zu setzen; es ist ihm deshalb unerträglich, daß ein Mensch schon Gott ist, und daß er selbst Gott nur sein kann, soweit er sich mit diesem Gottmenschen eins macht. Das bloße Dasein Christi, falls man ihn als Gott anerkennt, macht von vornherein jeden selbstischen Entwurf des Gottseins zur Lüge, zum Irrtum; aus diesem Grunde fühlen sich viele Männer instinktiv im Widerspruch zu Christus.

Dazu kommt etwas anderes. Der menschliche Geist nimmt die Welt anfangs in Einzelbildern auf, die sich allmählich zu persönlichen Göttern verdichten. Diese Götter wohnen nicht im Fleisch auf der Erde, sondern im menschlichen Geiste, welche unsichtbare Wohnung die Menschen selbst als Olymp, Walhalla, Himmel bezeichnen. Daß Götter nicht im Fleisch auf Erden, sondern im Himmel sind, hat sich dem menschlichen Bewußtsein als Tatsache eingeprägt; die meisten Menschen sind sich durchaus nicht bewußt, daß dieser Himmel ihr eigener Geist ist, sondern verlegen ihn an irgendeinen unauffindbaren, außerirdischen und sogar außerweltlichen Ort. Sie suchen ihn auf den Sternen und über den Sternen; daß „der geheimnisvolle Weg nach innen führt“, darauf kommen die wenigsten, noch wenigere aber können es fassen, daß der Weg auch nach außen geht, daß die im Himmel Heimischen im Fleisch auf Erden wandeln sollen. Der Mensch begreift nicht, daß das Unsichtbare mitten im Sichtbaren, daß das Sichtbare ein Ausdruck des Unsichtbaren ist. Daß Ideen Marmor werden, begreift jeder; daß Ideen Fleisch werden, erlebt man täglich um sich her und glaubt es doch nicht. Daß Kinder geboren werden, sagt Luther, sei ein größeres Wunder, als daß Adam aus einem Erdenkloß erschaffen sei.

Bevor ich auf das Persönlichwerden Gottes eingehe, möchte ich dir meinen Begriff der Person auseinandersetzen. Dabei kommt mir das ausgezeichnete Werk von Usener, das ich schon anführte, sehr zustatten; es bestätigt meine Auffassung durch Tatsachen, wie ich es mir nicht besser wünschen konnte. Ich sprach dir schon von den sogenannten Augenblicksgöttern kindlicher Völker, die dadurch entstehen, daß der Mensch die einzelnen Eindrücke, die das im Sichtbaren wirkende unsichtbare Nicht-Ich ihm macht, als Dämon erfaßt und benennt. Solange durch diese Namen die Idee noch durchscheint, bleiben sie unpersönliche Idee. Denke dir zum Beispiel, es gäbe Augenblicksgötter, die Arbeitsamkeit oder Überfluß hießen: es ist einleuchtend, daß sie uns niemals persönliche Götter werden könnten. Erst wenn im Laufe der Zeit das Wort durch allerlei Wandlungen, die es durchgemacht hat, unkenntlich geworden ist, so daß seine Bedeutung nicht mehr durchschimmert, kann es Eigenname werden, den ein einzelnes Ding für sich hat: dies Ding ist dann eine Person. Wenn du dich für Beispiele aus der Mythologie interessierst, verweise ich dich auf den schon genannten Usener. Übrigens erinnere ich dich an die unwillkürliche Abneigung, die man gegen Eigennamen hat, die etwas bedeuten, und an die Vorliebe für Namen fremder Sprache, bei denen die Bedeutung ganz ausgeschlossen ist. Die Namen Benvenuto, Desiderata, Reine haben Reiz für uns: Willkommen, Erwünschte, Königin wären unmöglich. Auch bei Geschlechtsnamen ziehen wir die bedeutungslosen den durchsichtigen wie Hinkefuß, Butterfaß, Rosenzweig usw. vor, wenn auch sehr viel gebrauchte Namen der Art mit der Zeit einen Klang für sich bekommen, der die Bedeutung übertönt. Der Name macht zur Person, vielmehr indem ein Ding einen Namen für sich bekommt, ist es auch ein Ding für sich, eine Person. Das Tier bekommt nur als Familie, Gattung, Art Namen, denn es ist keine Person; nur Tieren, die wir uns persönlich aneignen, geben wir auch einen Eigennamen. Die Substanz tritt, wenn der Eigenname oder die Person geworden ist, hinter dem Namen und der Person zurück; man kann auch sagen, der Eigenname oder die Person bindet die Idee. Wenn wir Flora oder Pomona sagen, so stellen wir uns zuerst Blumen oder Obst vor, sagen wir Diana oder Hermes, so stehen bestimmte persönliche Gestalten vor uns, die Ideen, die ihnen eigentlich den Ursprung gaben, deren Verdichtung sie sind, werden nun durch die Person vertreten.

Diesem Vorgang der Verdichtung der Substanz im Geiste entsprechen genau ebensolche Vorgänge in der Wirklichkeit: nobis res sociae verbis et verba rebus, d. h. die Dinge sind den Worten gesellt und die Worte den Dingen. Denke bitte an die Theorie von der Entstehung der Gestirne: die Substanz, nenne sie nun Äther oder Urweltsnebel, verdichtet sich an einigen Punkten, es bilden sich Kerne, Mittelpunkte, um die herum die Substanz sich drehend schwingt, es entstehen runde Körper, um die herum durch Erstarrung der Substanz eine Kruste sich bildet; sie gehören nun nicht mehr der allgemeinen Substanz an, sondern sind Personen, Dinge für sich, Sterne mit Namen. Auch den Prozeß der Bildung der persönlichen Götter nennt Usener einen Erstarrungsprozeß. Jede Personbildung, geschehe sie im Geiste oder in der Wirklichkeit, ist eine Verdichtung und Erstarrung lebendiger Substanz. Die von der All-Substanz abgesonderte Substanz aber muß allmählich versiegen, woraus folgt, daß jede Person vergehen, sterben muß. Die Absonderung, also die Sünde, die der Person das Leben gibt, verurteilt sie zugleich zum Tode. Man hat so viel Tod in sich, wie man persönliches Leben in sich hat. Wie erschütternd klar wird von diesem Gesichtspunkt aus der Name der Bibel, das Testament: Gott, das ewige Wesen, verkündet, daß es Person werden und als solche sterben muß.

Es ist nun selbstverständlich, daß im Laufe der Entwickelung einer Idee ein Augenblick kommen muß, wo der Kern, die verdichtete Kraft, das selbstbewußte Ich des Menschen, gerade so viel lebendige Substanz gebunden hat, daß Selbst und Substanz miteinander im Gleichgewicht sind. Dies ist offenbar der Höhepunkt der Person; im selben Augenblick, wo er erreicht ist, beginnt der Kern sich aufzulösen, er kann die Substanz nicht mehr binden, sie wird frei, und der Rückfall der Person an das All fängt an. Nimmst du die Menschheit als Person, so ist Christus der Höhepunkt der Menschheit; könntest du die Welt als Person nehmen, was du aber nicht kannst, da sie unendlich ist, das heißt nie erstarren und sterben kann, so wäre die Menschheit ihr Höhepunkt. Vielleicht darf man sagen, da die Welt unendlich ist, ist auch ihr Höhepunkt, die Menschheit, unendlich, woraus dann wieder folgte, daß auch Christus unendlich wäre, was er ja auch ist. Der Mythus drückte den Vorgang der Persönlichkeitsbildung so aus, daß er erzählt, Gott habe Adam seinen Odem eingeblasen; es ist das Teil göttliche Kraft, das der Mensch für sich bekommt, um damit auf seine Art göttlich zu werden. Es ist wie ein Wettbewerb um die Gottheit: ein jeder soll, mit dem Pfunde wuchernd, das er bekommen hat, einen Entwurf mit seinem Gepräge, seine Welt, vorlegen. Dabei aber entsteht ein Widerstreit: die Substanz hat die Neigung, Gott zu spiegeln, sie ist das Weib im Menschen, das Ich will sich selbst darstellen, das ist sein Wesen und seine Aufgabe. Die Heilige Schrift nennt diese Ich-Sucht teuflisch, und sie ist es ja auch, insofern sie eine Absonderung und die Ursache des Todes ist; aber, wie schon öfters gesagt, ist diese Sünde zugleich die Ursache des Lebens und von Gott gewollt, also in gewissem Sinne göttlich. Man kann diesen Widerstreit gut verfolgen, wenn man die Christusbilder in der Malerei betrachtet. Heutzutage gibt es Maler, die schlechtweg ihr Selbstbildnis als Christus ausgeben. Kein Maler der Vergangenheit hat das getan: wir sehen da immer ein Ringen der göttlichen und persönlichen Idee, und in einzelnen Fällen ist eine Verschmelzung gelungen, die der Vollkommenheit nahekommt. Wenn ein Ich von möglichst starker Eigenart, d. h. das sich von möglichst vielen Menschen unterscheidet, so viel göttliche Substanz bindet, umfaßt, daß möglichst viele Menschen sich darin wiedererkennen, so nennen wir eine solche Person ein Genie. Ein Genie ist ein Mensch, der zugleich unendlich viel will und unendlich viel kann. Das Wesen des Ich ist unendliches Wollen, das Wesen Gottes ist unendliches Können. „Ein guter Maler“, sagt Dürer, „ist inwendig voller Figur, und obs möglich wäre, daß er ewiglich lebte, so hätte er aus den inneren Ideen allweg etwas Neues durch das Werk auszugießen.“ Sein Ich bindet Ideen, prägt sie und macht sie dadurch zu seinem Werk.

Eine Person entsteht also dadurch, daß göttliche Kraft und Substanz durch eine selbstbewußte Einzelkraft gebunden und ihr zu eigen gemacht wird. Auch in den Tieren ist göttliche Kraft; aber das einzelne Tier kann sie nicht an sich binden, sondern es wird durch sie gebunden, sie geht durch das Tier hindurch.

Man kann sich vorstellen, ein Vater gäbe jedem seiner Kinder eine Handvoll Wachs oder Lehm zum Spielen. Einige von den Kindern wünschten ihr Teil von dem der andern zu unterscheiden und drückten ihm deshalb ein Zeichen auf, woran sie es wiedererkennten. Durch dies Gepräge erst wäre das Geschenk ihr Besitz, ihr Eigen geworden, mit ihnen zu einer Einheit verschmolzen. Wendest du das auf das menschliche Selbst und die göttliche Kraft an, die der Mensch in seinem Innern hat, so mußte vorhergehen, daß er die Kraft im Gegensatz zu seinem Selbst fühlte. Das Ich und die Kraft müssen zuvor sich voneinander entfernt haben und einander als zwei gegenüberstehen, wenn das Ich die Kraft soll prägen und binden können. Dieser Vorgang der inneren Trennung und Wiedergewinnung war in Christus vollendet.

Insofern sagt Luther, daß kein Heide so böse sein kann wie ein Christ, „denn es hat die Meinung mit uns, daß uns der Teufel viel feinder ist und härter zusetzt denn sonst Unchristen und Heiden. Darum läßt er sich nicht daran genügen, daß wir sind wie die anderen Heiden, geizig, neidisch, untreu, sondern er will uns viel kräftiger machen denn die Heiden. Gottes Wort mag wohl wehren und davor behüten, aber wenn ein Christ anhebt zu geizen, so wird er zehnmal geiziger und ärger denn ein Türke oder Heide. Wo kommt es her? Vom Teufel. Der ist auf uns so erbittert: wenn er aus einem Christen zehn Teufel machen könnte, so tät ers.“

An der inneren Spaltung, an dem rebellischen Ich, das sein eigener Gott sein will, ist der Christ zu erkennen. Erst der Christ ist wirklich ein Herr, einer für sich; wenn er sich dann vor Gott, dem Herrn der Welt, beugt, kann er selbst zum Herrn der Welt werden.

„Und blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach,

Und da er sahe, daß er ihn nicht übermochte, rührete er das Gelenk seiner Hüfte an, und das Gelenk seiner Hüfte ward über dem Ringen mit ihm verrenkt.

Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.

Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob.

Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen.“

Nichts ist so verkehrt, als unter einem Christen sich ein selbstloses, nicht selbst denkendes und selbst wollendes Geschöpf vorzustellen. Es ist natürlich keine Sünde, ein schwaches Selbst zu haben, das von Gott verschlungen wird; ein eigenwilliges aber ohnmächtiges Selbst, das sich Gott vergeblich widersetzt, ist jämmerlich; nur bei einem starken Selbst ist die Möglichkeit, Gott ebenbürtig, wenn auch nie Gott selbst zu sein. „Einer, der selig werden will, soll also gesinnt sein, als sei kein Mensch sonst auf Erden denn er allein, und daß aller Trost und Zusagung Gottes hin und wieder in der Heiligen Schrift ihn allein angehe.“

Stell dir nun bitte vor, das Gepräge, welches das Kind seinem Wachs aufdrückte, enthalte eine ätzende Säure, die allmählich das Wachs aufzehre. Es muß dahin kommen, daß das Gepräge, also die Persönlichkeit, die Substanz überwiegt; während sie anfangs eine Auszeichnung war, wird sie zur Maske, die das Schwinden der Kraft verdeckt. Indessen kann sie das nur eine Zeitlang: der Augenblick muß kommen, wo das Wachs vollständig verzehrt ist und damit auch das Gepräge, dessen Träger es war, sich auflöst: der Mensch stirbt. Es ist das ätzende Gepräge, das die Kraft zerstörte; das Selbstsein bedingt den Tod, ja, je mehr Persönlichkeit, desto mehr Tod hat der Mensch in sich. Luther hebt einmal hervor, daß ein Kind von sieben Jahren noch ganz ohne Todesfurcht sterbe; erst mit der Persönlichkeit entsteht und wächst das Bewußtsein und der Haß des Todes.

Jeder Mensch hat in seinem Leben einen Höhepunkt oder eine Blütezeit, jede Familie hat die ihrige, jedes Volk die seinige; man kann ebensogut sagen, daß jeder Mensch seine geniale Zeit, jede Familie ihr Genie, jedes Volk seine genialen Menschen hat. Es versteht sich von selbst, daß jede Spitze immer nur in bezug auf andere hoch ist, und daß der Höhepunkt eines Menschen oder einer Familie an sich betrachtet ziemlich niedrig sein kann. Je mehr er sich dem göttlichen Richtepunkte nähert, desto mehr ist man berechtigt, von Genialität zu sprechen. Laß uns bitte irgendein Genie, sagen wir Beethoven, im Verhältnis zu seiner Familie untersuchen.

Für uns ist es kein Zweifel, daß Beethoven die Spitze, der Höhepunkt seiner Familie war; er war nicht das Ergebnis seiner Familie, sondern sie war da, damit er sich in ihr entwickelte. Er war eine Idee, ein Urbild, vor dem Erscheinen seiner Familie da; in ihr entwickelte sich das Urbild in Zeit und Raum. Nehmen wir an, daß die Idee Beethoven in einem winzigsten Keim gefangen, in das irdische Leben gesenkt wurde. Wäre uns die Geschichte der Familie genau bekannt, so würden wir die Idee Beethoven schon in ihren Anfängen auftauchen sehen; die große Gestalt, die wir kennen und verehren, würde uns näher und näher rücken, so wie der Wanderer, der durch einen Nebel auf uns zukommt, immer größer und kenntlicher wird. Wie nun das Bild sich verwirklicht, aus der Vergangenheit in die Gegenwart schreitet, rollt es das auf, was vor ihm war, was es hervorgebracht zu haben scheint, und nimmt es mit sich. Es ist ein Gesetz organischer Entwickelung, daß jede höhere Entwickelungsstufe die frühere, einfachere mitnimmt, so daß durch die höchste alle früheren gebunden sind und zu ihr gehören; das vollendete Urbild verdichtet alle Stufen, durch die es hindurchgegangen ist, in seiner Person. Die Vorfahren Beethovens sind in ihm enthalten, er vertritt sie vor der Welt und vor Gott; es mag interessant für uns sein, die Geschichte seiner Vorfahren kennen zu lernen und zu sehen, wie sie ihm desto ähnlicher werden, je näher sie ihm zeitlich sind; aber wir können sicher sein, daß wir nichts in ihnen finden werden, was nicht in ihm Gestalt geworden wäre. Verdankt er das Persönliche, das, was ihn von der übrigen Menschheit unterscheidet, seinen männlichen Vorfahren, so hat er das Göttliche, das, was ihn mit der Menschheit verbindet, von seiner Mutter; wir können auch sagen, er hat es durch seine passive, weibliche Seite, welcher Gott oder die Idee sich mitteilt. Seine göttlichen Ideen stehen mit seinem leidenschaftlich sich selbst wollenden Ich im steten Kampfe; aber wenigstens vorübergehend kann es sie binden, daß sie mit ihm eins werden. Das Genie ist androgyn, männlich und weiblich zugleich, wenn auch im allgemeinen als Mann erscheinend, weil dem Manne vorzugsweise die bindende Kraft des Selbstbewußtseins eigen ist.

Im Höhepunkt eines Menschen bzw. einer Familie sind nicht nur die vergangenen, sondern auch die zukünftigen Stufen seines Lebens gegenwärtig geworden, das heißt: nach dem Höhepunkte kann nichts Höheres und nichts Neues mehr kommen, sonst wäre es nicht der Höhepunkt gewesen. Nach dem Höhepunkt muß die Abwärtsbewegung, nach der stärksten Bindung und Verdichtung muß die Auflösung kommen. Es ist bekannt, daß der geniale Mensch sich körperlich nicht fortpflanzt, oder daß seine Nachkommen nicht fortpflanzungsfähig sind; die Familie erlischt mit ihm, weil ihre Kraft sich in ihm erschöpft hat, weil ihr persönlicher Mittelpunkt die göttliche Substanz nicht mehr binden kann. Es wäre auch widersinnig, wenn sie noch fortlebte, nachdem sie durch ihn endgültig vertreten ist, nachdem ihr letztes Wort gesagt ist. Etwaige Töchter können in anderen Familien aufgehen, bringen aber nicht mehr die lebendige Persönlichkeit ihrer Vorfahren, sondern höchstens ihre Maske mit. Alles, was nach dem Genie der Familie kommt, gleicht von innen erkaltenden Sternen mit undurchdringlicher Kruste oder den „Erlenmädchen hinten hohl“ des Andersenschen Märchens. Diese Verfassung, wo die nicht mehr gebundene Substanz entweicht und an die Stelle der kraftvollen Persönlichkeit die Maske tritt, nennt man Dekadenz.

So wie Beethoven sich in seiner Familie entwickelte, so entwickelte Christus sich in der Menschheit. Christus ist das Genie, die Spitze der Menschheit; Luther nennt ihn deutlich das Haupt, zu welchem die Menschheit hinzugehört als der Körper. Deutlich spricht auch die Bezeichnung der Bibel: des Menschen Sohn; er ist aus der Menschheit hervorgegangen als ihr Erbe, ihr Vertreter, ihr Ziel. So wie Beethoven sich durch seine persönlich-göttliche Seite von seinen Vorfahren unterscheidet, unterscheidet sich Christus von der gesamten Menschheit dadurch, daß er Mensch und Gott ist: sein von allen verschiedenes, alle vertretendes Selbst bindet das All, die Idee der Ideen. In dem größten menschlichen Genie ist doch immer nur ein Teil der Menschheit vertreten, das größte menschliche Genie ist doch nur auf Augenblicke und teilweise mit Gott eins; Christus vertrat die ganze Menschheit und war ganz und gar mit Gott eins. Christus umfaßt zugleich alles menschliche Wollen und alles göttliche Vermögen; wer eine Formulierung wünscht, kann sagen: Christus ist die ganze durch einen Mittelpunkt gebundene menschliche und göttliche Kraft.

Mir scheint es wichtig, zu betonen, daß die Menschheit nicht deshalb Gott ist, weil Gott sich in ihr entwickelt hat; in diesen Irrtum verfallen nämlich die Menschen gern. Christus verhält sich so zur Menschheit, wie der Mensch zur Tierheit: das Bild des Menschen ging durch die Tierheit hindurch, die Tierheit entwickelte sich auf den Menschen hin, im Menschen sind alle Stufen der Tierheit enthalten; aber er ist doch kein Tier, sondern durch sein Menschsein wesentlich von der Tierheit unterschieden, wie Christus durch seine Übermenschlichkeit, durch seine Gottheit von der Menschheit. Den Menschen kann man ein Übertier, das Tier eine Überpflanze nennen; aber ich erwähne das nur nebenbei, es ist überflüssig, es weiter zu verfolgen. Mir kommt es darauf an, zu zeigen, daß die Heilige Schrift und Luther Christus als die Spitze, den Höhepunkt, das Genie der Menschheit auffassen, den Übermenschen oder den Gottmenschen.

Findest du nicht, daß sich auf diesem Punkte ein unendlicher Ausblick öffnet? Auf alle diejenigen, die, nachdem der Übermensch schon da war, Übermensch außer ihm sein wollen und deshalb in Wahnsinn verfallen müssen, das heißt eigentlich schon wahnsinnig sind?

Vielleicht sagst du, es öffne sich auf diesem Punkte kein unendlicher Ausblick, vielmehr schließe sich alles zu, und es gäbe nur noch Rückblick.

In gewisser Hinsicht ist das wahr. Zunächst betrifft das das jüdische Volk, in welchem Christus sich entwickelt hat. Die Juden sind das Volk der Dekadenz κατ ὲξοχην, und sie tragen die Dekadenz in alle Familien, mit denen sie sich verbinden. Bedenke aber bitte, daß unter Dekadenz durchaus nicht schlechthin etwas Schlechtes oder Minderwertiges zu verstehen ist; nur müssen die Dekadenten nicht etwas für sich, etwas neben dem Genie oder gegen das Genie sein wollen, das ihnen vorausging. Die Juden zum Beispiel müssen an Christus glauben, ihr Schicksal ist, in der Zerstreuung zu leben, in andern Völkern aufzugehen.

Es ist, nebenbei bemerkt, ein sonderbarer Irrtum, daß Menschen und Völker so gern aus einer großen Vergangenheit auf eine große Zukunft schließen. Es ist sogar verdächtig, wenn wir anfangen, viel von dieser Vergangenheit zu reden. „Denn das sollt ihr wissen“, sagt Luther, „Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen; aber hin ist hin, sie haben nun nichts. Paulus brachte ihn in Griechenland: hin ist hin; nun haben sie den Türken. Rom und lateinisch Land haben ihn auch gehabt: hin ist hin, sie haben nun den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, daß ihr ihn ewig haben werdet.“

Man bemerkt das Altern der Völker, wie der Einzelnen, an einem Abnehmen der Produktivität und an der Zunahme der Kultur. Kultur kann man den Zustand nennen, wo die innere Kraft als schöne Maske nach außen tritt. Es möge jedes kultivierte Volk auf seine Kultur und seine Vergangenheit stolz sein, jedes barbarische auf seine Kraft und seine Zukunft.

In weiteren Grenzen ist die ganze Menschheit nach Christus dekadent, das heißt zeitlich nach dem Höhepunkt kommend. Aus der Auffassung Christi als der Spitze der Menschheit erklärt sich, daß Luther den Jüngsten Tag oder das Ende der Welt für bevorstehend hielt; nach den historischen Kenntnissen seiner Zeit konnte er die vor Christi Geburt verflossene Geschichte ganz wohl auf etwa 1500 Jahre ansetzen. Indessen muß man sich doch Christus nicht als Endpunkt einer Linie, sondern als Spitze und Mitte vorstellen; es gibt dann allerdings ein fortwährendes Von-ihm-Zurücksinken, aber gleichzeitig ein fortwährendes Zu-ihm-Hinstreben.

Einen wesentlichen Unterschied zwischen der vorchristlichen und nachchristlichen Menschheit gibt es: sie hatte dadurch, daß Christus sich noch in ihr entwickelte, die göttliche Kraft; wir haben sie verloren, wenn wir sie aber durch den Glauben zurückgewinnen, können wir sie prägen.

Die vorchristliche Menschheit war einheitlicher, harmonischer, da es für sie nur eine Welt gab, die sichtbare. Wir fühlen uns als Bürger der sichtbaren und der unsichtbaren Welt; gelingt es uns aber, diese beiden Welten zusammenzufassen, so ist unsere Welt reicher und unser Selbst stärker und inniger. Die vorchristliche Menschheit ging magnetisch auf ihr Ziel zu, im Können unbegrenzt, da Gott in ihr wirkte; wir haben ein grenzenloses Wollen und sind dadurch entkräftet und ziellos, wenn wir nicht durch den Glauben das Unsichtbare mit dem Sichtbaren vereinigen. Ich kann auch sagen: die vorchristliche Menschheit hatte die Gestaltungskraft der Natur, wir haben die Leuchtkraft des Geistes und die Bindekraft des Herzens. Das allerverkehrteste ist, wenn der nachchristliche Mensch antik sein will; nur der Christ kann, auf einem ganz anderen Wege, dem antiken Menschen gleichkommen. Man hat viel vom Einfluß Italiens und der Antike auf Goethe gesprochen; mir scheint, sie haben überwiegend hemmend auf ihn gewirkt, weil er sich nicht sicher genug in seiner christlichen Kraft fühlte. Luthers und Dürers Verhältnis zur Antike und zu Italien war viel organischer und fruchtbarer, gerade weil sie durch den Gegensatz sich ihrer Eigenart desto mehr bewußt wurden; ihr eigenes Wesen erfuhr keine Hemmung, sondern eine Erweiterung. Nur die Kraft der Persönlichkeit im Verein mit der Trunkenheit des Glaubens kann das antike Erfülltsein vom Gotte ersetzen. Wenn Toga und Maske nicht ein leidenschaftliches Herz, ein „im süßen Wahnsinn rollendes Auge“ verhüllen, so erhalten wir nicht den Eindruck strenger Glut, geformten Lebens, sondern hohler Feierlichkeit.

Gerade durch das, was der antike Mensch vor uns voraus hatte, durch die Einheitlichkeit, bleibt er auch hinter uns zurück: das Auseinandertreten der beiden Pole, des Menschlichen und Göttlichen, des Selbstbewußtseins und des Gottbewußtseins, diese Zerrissenheit und Spannung, macht erst die Überwindung der Spannung durch das Genie möglich. Das persönliche Genie gibt es erst seit Christus, dem Genie der Menschheit, und es wird immer ihm dem Wesen nach gleich sein, wenn auch nicht nach der Person.

Wunderbar finde ich, im Grunde freilich ganz selbstverständlich, daß zu Christus Zeit auch Satan Fleisch wurde, nämlich in den römischen Kaisern. Wohlverstanden kann Satan nur in der Vielheit erscheinen, da er ja nichts Wesentliches ist; er kann nicht selbst in einem einzigen Menschen sich verkörpern. In der Vielheit jedoch mußte er zu der Zeit am mächtigsten sein, wo Gott Fleisch wurde; denn am größten Gegensatz entzündet sich das reichste Leben. Diese Blütezeit der Menschheit wiederholte sich, als in Italien das Altertum, in Deutschland das Christentum neu auflebte. Auf beiden Seiten waren gewaltige, satanische und göttliche Persönlichkeiten. Renaissance und Reformation stehen in einem unzertrennlichen Zusammenhange; aber er besteht nicht etwa darin, daß Luther und Deutschland überhaupt durch die Unsittlichkeit des römischen Lebens zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Reform gebracht wären. Es ist ein unterirdischer Zusammenhang zwischen Italien und Deutschland, wenigstens gab es einen solchen, und es wäre meiner Ansicht nach ein schlechtes Zeichen für beide Völker, wenn dies Band zerrisse.

Share on Twitter Share on Facebook