XII

Als ich dieser Tage in Schopenhauer blätterte, fand ich, daß er als körperliche Grundlage des Genies ein stark entwickeltes Gehirn betrachtet; indessen, fügte er hinzu, mache weder das allein noch auch ein feines Nervensystem das Genie vollständig, sondern es müsse ein leidenschaftliches Temperament dazukommen, körperlich sich darstellend als ungewöhnliche Energie des Herzens und folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem Kopfe hin. „Denn hiedurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene Turgeszenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine Wände drückt, daher es aus jeder durch Verletzung entstandenen Öffnung in diesen hervorquillt; zweitens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens das Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen Hebung und Senkung bei jedem Atemzuge noch verschiedene Bewegung, welche in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage der vier Zerebralarterien besteht, und deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muß, wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerläßliche Bedingung seiner Tätigkeit ist. Dieser ist eben daher auch eine kleine Statur und besonders ein kurzer Hals günstig, weil auf dem kürzern Wege das Blut mit mehr Energie zum Gehirn gelangt; deshalb sind die großen Geister selten von großem Körper.“

Du erinnerst dich vielleicht, daß Luther mit Paulus den Menschen als eine Dreieinigkeit von Geist, Seele und Leib darstellt, und daß ich dich bat, dir diese Dreieinigkeit als eine Kugel vorzustellen, deren innerste Sphäre der Geist sei. Der körperliche Ausdruck des Geistes ist das Herz, so daß du Geist für Herz setzen kannst, und da Geist Gott ist, könntest du auch Gott für Herz setzen, mit der selbstverständlichen Einschränkung, daß deshalb Gott und das einzelne Herz sich nicht decken. Das Herz ist wie eine Bucht, in die das Meer einströmt, und die das in ihr gesammelte Meer einem bestimmten Lande zuteilt. Man kann dabei an das in der Gebärmutter wachsende Kind denken, und wie das mütterliche Blut in es hineinfließt. Wenn du dir vorstellst, daß man, dieser Übertragung folgend, das Blut vom Kind zur Mutter zurück und immer weiter zurück bis zu einer angenommenen Urmutter verfolgen kann, so gibt das ein Bild von der Verknüpfung des einzelnen mit der Unendlichkeit durch das Herzblut.

Daß nach der Auffassung der Bibel und Luthers Gott durch das Herz mit dem Menschen verbunden ist, habe ich schon mehrmals erwähnt; du dachtest dabei aber wohl nicht an das körperliche Herz und nahmst es mehr für einen bildlichen Ausdruck. „Die Liebe Gottes“, heißt es in den Römerbriefen, „ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben ist.“ Die Wiedergeburt bestehe darin, sagt Luther, daß man ein neues Herz und neuen Mut gewinne. Niemals werden die göttlichen Dinge in Verbindung mit der Seele, dem Sitz der menschlichen Vernunft, gebracht, nur insofern, als die Seele vom Geist erleuchtet werden kann. Ich betone das deshalb, weil die meisten Menschen jetzt, wenn sie von Geist sprechen, einen Menschen geistvoll nennen, dabei an etwas Abstraktes, Begriffliches, Anstrengendes denken, eine dunkle Vorstellung von Blaustrümpfen und Gelehrten haben. In Wirklichkeit hat aber der Geist nichts mit dem Kopf zu tun, sondern er offenbart sich dem Herzen, unserem unwillkürlichen Organ, das nicht von uns abhängt, von dem vielmehr wir abhängen. Die geistvollste Frau war jedenfalls Maria, die Mutter des Herrn, ohne Schulbildung, aber voll Liebe, voll Phantasie, voll Heiterkeit, voll von Einfällen, durch welche die Wahrheit hindurchstrahlte. „Des Heiligen Geistes Amt ist nicht Bücher schreiben noch Gesetze machen“, heißt es bei Luther, „sondern daß er ein solcher Geist ist, der in das Herz schreibt und schafft einen neuen Mut.“

Alle genialen Menschen haben dieselbe Ansicht geäußert. „Der Kopf faßt kein Kunstprodukt als nur in Gesellschaft mit dem Herzen. Der Betrachtende muß sich produktiv verhalten, wenn er an irgendeiner Produktion teilnehmen will.“ Dieser Ausspruch ist von Goethe; ich glaube, es ist überflüssig, andere aufzuzählen. Alles Begriffliche, Abstrakte kommt aus dem Kopfe; die Gedanken, die aus dem Herzen kommen, sind daran zu erkennen, daß sie nicht abstrakt, sondern sinnlich, bildlich sind. Das Herz denkt in Bildern; man kann auch sagen, es träumt. Bei Gelegenheit seines Kampfes gegen die Bilderstürmer bemerkte Luther, wenn von einem Kruzifix gesprochen werde, so entwerfe sich in seinem Herzen das Bild eines gekreuzigten Mannes, ob er wolle oder nicht. Wenn Goethe sagt: „Große Gedanken und ein reines Herz, das ist's, was wir uns von Gott erbitten sollten“, so meint er sicherlich eben solche Gedanken, die aus dem Herzen kommen, Ideen oder Urbilder, göttliche, nicht Menschengedanken.

Durch die Welt, die Gott sich erschuf, wie wir mythisch sagten, geht die Spaltung in aktive Kraft und passiven Stoff, in zeugende Männlichkeit und empfangende Weiblichkeit. Das Aktive, an sich positiv, verhält sich gegensätzlich zu Gott, zu der Kraft, aus der es abgeleitet ist; das Passive, an sich negativ, wird positiv durch die göttliche Kraft, wenn es sich ihr hingibt. Sowohl das Fortpflanzungsorgan wie das Gehirn sind in eine aktive und eine passive Hälfte geteilt; das Herz dagegen ist ganz und gar aktiv seiner Welt gegenüber als ihr Gott; nur Gott gegenüber, dem Meere, das es speist, ist es passiv.

Auch das Herz hat seine Geschichte und sein Schicksal; das Sein wird. Die einzelligen Geschöpfe, aus welchen wir erwachsen, Urzelle jedes einzelnen organischen Wesens und zugleich Urzelle der ganzen unendlichen Reihe, bestehen aus Protoplasma, der sogenannten lebendigen Substanz, in welcher ein Kern zu unterscheiden ist. Dieser Kern ist nicht das Herz, sondern die Keimzelle, das Fortpflanzungsorgan, die körperliche Darstellung des tierischen Selbst; es ist, soweit es mehr aktiv als passiv ist, die Hemmung, die Gott sich gesetzt hat, der Teufel. Das Herz mit dem Blutumlauf ist angedeutet durch eine Anzahl von Hohlräumen, die sich zusammenziehen und die uns die Kraft im Stoffe zeigen. Allmählich erst sammelt sich das eine, monarchische Herz, das Aristoteles das punctum saliens und das Tier im Tiere nannte. Dieser Ausdruck, der ganz falsch wäre, wenn er das ganze Wesen des Herzens erschöpfen sollte, ist aus dem richtigen Gefühl entstanden, daß das Herz ein Lebendiges, Aktives in dem gleichfalls lebendigen Körper ist. Richtiger wäre es, die Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane Tiere im Menschen zu nennen. Wir sind Mineral, soweit wir Skelett sind, wir sind Pflanzen, soweit wir atmen und wachsen, wir sind Tiere, soweit wir uns ernähren und fortpflanzen, Menschen, soweit wir denken, Götter, soweit wir liebend und schaffend dies alles zugleich sind. Die Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane, früher als das Gehirn entwickelt, sind die alten titanischen Götter, die das neue Regiment nach furchtbarem Kampf entthronte. So sagt die heidnische Mythologie; wir können sagen, es seien die Organe, durch welche Gottvater im Stoff bildet. Durch das Gehirn bildet er im Geiste; aber er wirkt in diesen Organen nicht unmittelbar, sondern mittelbar durch das Herz. Die plastischen Organe sind die Mittelpunkte des Tieres, das Gehirn ist der Mittelpunkt des Menschen, das Herz der göttliche Mittelpunkt. Geschlecht und Gehirn sind die Brennpunkte der Ellipse, das Herz ist der Mittelpunkt des Kreises, welcher aber, als die vollkommene Form, nicht Erscheinung werden kann und soll.

Das Herz, dies wundervolle Organ, allgegenwärtig, allwissend und allmächtig in seiner Welt, erhält sie ganz, ist immer tätig und gebend, auch dann noch tätig, wenn es vom Körper losgelöst ist. Den Körper überall mit dem Netz seiner Adern berührend, ist es doch nicht durch ihn gefesselt; es regiert sich durch seine eigenen Nerven, selbstgenügsam, der Himmel, die Heimat Gottes.

Das Herz ist der Gott im Menschen: est deus in nobis, agitante calescimus illo. Allein die Herrscherstellung des Herzens ist, wie schon gesagt, nur theoretisch: der Himmel ist nicht ohne Erde wirklich, Gott nicht ohne die Welt, das Herz nicht ohne den Körper, auf den es wirkt, und den es erhält, indem es von ihm erhalten wird.

Die natürliche Einheit ist im Kinde vorhanden, dessen Herz kleiner ist als das des Erwachsenen, aber den aktiven Widerstand im Brennpunkte des Körpers und Gehirns noch nicht zu überwinden hat. Mit dem zunehmenden Widerstande entwickelt sich das Herz, das im reifen Mannesalter seine höchste Kraft erreicht hat; später nimmt es wieder ab, aber da im gleichen Maße die Aktivität der Geschlechtsorgane abnimmt, stellt sich ein ähnliches Verhältnis her wie im Kindesalter. Ebenso ist das Herz der Frau schwächer als das des Mannes, hat aber weniger Widerstände zu besiegen, aus welchem Grunde die Frau harmonischer ist als der Mann, nicht so zerrissen, aber andererseits nicht so genial.

Vergegenwärtige dir bitte den Menschen durch folgenden Grundriß:

Diagramm

Hier wird deutlich, daß die Aktivitäten die Brennpunkte sein müssen, damit Funken überspringen können und der ganze Organismus lebt. Ferner siehst du, daß, wenn die Aktivität des Geschlechts überhandnähme, das Herz vollständig durch das Geschlecht gebunden wäre: ein tierähnlicher Zustand. Das Herz muß deshalb, im Verein mit dem Gehirn, der Aktivität des Geschlechtes Herr werden, wohlverstanden aber ohne sie ganz zu töten; denn geschähe das, so wäre das Herz ganz auf das Gehirn beschränkt. Das Gehirn hat die Neigung, das Herz ganz für sich in Beschlag zu nehmen, es vom Körper abzusondern. Der nachchristliche Mensch, dessen Gehirn eine größere Aktivität hat als der vorchristliche, ist immer in Gefahr, seinen eigenen Körper zu töten, indem er ihn vom Herzen absondert. Er entgeht dieser Gefahr nur durch Bewegung, welche den Blutstrom aus dem Herzen auf den ganzen Körper verteilt. Man hat in neuester Zeit das Übel bemerkt und ihm durch allerhand gymnastische Übungen abhelfen wollen; aber das ist nur eine künstliche Aushilfe, durch die der Zweck niemals erreicht werden, die vielmehr schaden kann, da sie den Organismus von außen in eine Tätigkeit versetzt, der die innere Kraft nicht entspricht. Die Bewegung muß zugleich eine innere sein, nur eine aus dem Herzen entspringende Tätigkeit, ein Überwinden innerer und äußerer Widerstände kann das Herz üben und kräftigen. Tätigkeit, die Seele des Menschen, macht das Herz so stark, daß es die inneren Widerstände überwindet, ohne sie zu töten. „Seid getrost“, spricht der Herr, „ich habe diese Welt überwunden.“ Niemals hat Christus gesagt, er wolle die Welt töten, er, der die Ehebrecherin beschützte, weil sie viel geliebt hatte; das Herz muß stärker als die Welt sein, das ist das Geheimnis des Sieges. Das Herz, um die Einheit in der Ellipse herzustellen, muß stärker sein als ihre Brennpunkte. Mit Christus, der das Selbstbewußtsein vollendete, der sich selbst als Gott, als Geist erkannte, war die Aktivität des Gehirns so stark geworden, daß die kindliche Einheit des Kreises auf immer zerstört war. Zugleich indessen brachte er die Erlösung, indem er durch persönliches Handeln, durch eine stärkere Bewegung des Herzens, die Einheit als Dreieinigkeit wiederherstellte. Er gebot den Menschen zu handeln und zu glauben, beides zugleich, da eins ohne das andere nicht sein kann. Wer persönlich handelt, muß glauben, da er sonst die Last der Verantwortung nicht ertragen könnte. Als der Mensch aufhörte gläubig zu sein und dafür moralisch wurde, die Verantwortung auf sich selbst lud, hörte er auch auf zu handeln. Dadurch sonderte er die Sinnlichkeit von dem durch das Gehirn usurpierten Herzen ab und zerfiel in zwei Hälften, einen entgeisteten, also leblosen Körper und ein entkörpertes, verteufeltes Herz, die sich unversöhnt gegenüberstehen. Nur Menschen von solcher Verfassung können sich einbilden, daß sie den zürnenden Gott durch bloße Gymnastik mit der entfremdeten Welt versöhnen können.

Das Herz an sich ist jenseit von Gut und Böse, wie es jenseit von Zeit und Raum ist; es ist an sich blind. Sehend und wissend wird es dadurch, daß es in Berührung mit unendlich vielen anderen Herzen gerät, die es als ebenso viele göttliche Ausstrahlungen begreifen lernt, und die es dadurch zur Einsicht seines eigenen Wesens führen. Durch die Berührung und den Kampf mit der Außenwelt also, mit dem Nicht-Ich, kann das Herz umgekehrt werden; das Wasser der Bucht ebbt durch den Anprall von außen in das Meer zurück, das es verschlingt und aus sich selbst erneuert mit der Flut wieder ins Land wirft. Die Berührung mit der Außenwelt wird durch die Sinnesorgane vermittelt; sie haben die Aufgabe, das Ich, den persönlichen Gott, von dem Dasein anderer persönlicher Götter zu überzeugen und durch sie und sich hindurch von dem Dasein des All-Gottes, der einen Strahlenquelle. Die erste Aufgabe des Herzens ist, sich seiner Göttlichkeit bewußt zu werden; die zweite, sie über die anderer zu vergessen.

Sehr aktive, also sehr teuflische Herzen, wenn du den Ausdruck nicht mißverstehen willst, müssen ihrer Natur nach zunächst das Nicht-Ich heftig zurückstoßen, weil sie sich das Gefühl der Einzigkeit nicht beeinträchtigen lassen wollen; andererseits sind gerade diese die wahrhaft religiösen Herzen und durch ihre Energie zu Vertretern Gottes auf Erden berufen; sie sträuben sich gerade deswegen so sehr, das Nicht-Ich aufzunehmen, weil sie ahnen, daß sie sich ihm opfern werden.

Man hat nicht mit Unrecht die Entstehung der Liebe im höchsten Sinne, auf lateinisch caritas oder dilectio, an die Mutterliebe geknüpft; die Geschlechtsorgane, durch welche die Menschheit sich von Gott absonderte, führen auch wieder zu Gott zurück. Nicht für sich allein, denn zunächst ist die Mutterliebe ein selbstisches Gefühl und kann sogar als solches abstoßend wirken, wenn es das Herz nicht gegen alle Schwachen und Hilflosen öffnet und sie zu eigenen Kindern macht. In der Heiligen Schrift heißt es, daß die Gnade durch das Wort bewirkt werde; das Wort nämlich öffnet das Herz und verbindet Menschen mit Menschen, den einzelnen mit vielen.

In Gemeinschaft mit den Geschlechtsorganen verwirklicht das Herz seine Ideen körperlich, in Gemeinschaft mit dem Gehirn geistig. Beider bedarf das Herz, um seinen Verkehr mit der Außenwelt herzustellen; ohne das Gehirn würde das Herz nicht zu sich selbst kommen, würde die Welt ein Chaos bleiben, während sie ohne die Sinnlichkeit ein Begriff würde.

Sind die plastischen Organe die ältesten, so ist das Gehirn, das erkennende Organ, das jüngste; nach der Schrift geht der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn aus. Das Gehirn begleitet das Herz wie der Sänger den Helden, der durch die Verklärung des Wortes seine Taten verewigt und der Welt zu eigen macht. Besinnst du dich auf die schöne Stelle in der Odyssee, wo Odysseus, da der Sänger von seinen Irrfahrten singt, das Gesicht im Mantel verbirgt und weint? So erzittert unser Herz, wenn ihm erinnernd bewußt wird, was es getan und erlitten hat. Aus dem Herzen strömt der Geist, im Gehirn wird er befestigt; es ist wie eine photographische Platte, auf welche das Licht Bilder malt. Die Urbilder dazu sind im Herzen, dem seligen Hain, wo reine Gestalten auf Asphodeloswiesen wandeln; Leben bekommen sie aber erst draußen im Lichte der Sonne, nachdem sie das Blut der Tat getrunken haben. Was ist Wahrheit? Das Leben, das die Wahrheit verwirklicht. Wahrheit ist eine lebendige Seele, ein Mensch in Fleisch und Blut.

Nun aber ist das Gehirn nicht nur begleitend, dienend, weiblich, sondern auch männlich und willkürlich; die Sonne erleuchtet nicht nur, sondern verbrennt auch. Der körperliche Ausdruck des willkürlichen Gehirns wird in der Großhirnrinde gesucht; ich bin, wie du dir denken kannst, nicht imstande, darüber zu urteilen, ob es sich so verhält, mir kommt es nur darauf an, daß diese willkürliche Kraft da ist. Von hier geht die schwerste Versuchung des Menschen aus, die des Teufels in seiner Majestät, die nur die hochentwickelte Menschheit betrifft; hier ist der Luzifer, der sich an Gottes Stelle setzen, das Wort des Herzens verdrängen und durch sein eigenes ersetzen will. Durch die Gnade des Herzens in seine Zauber eingeweiht, kann Luzifer sich in einen Engel des Lichts verstellen, mit den von seinem Herrn erlernten Sprüchen bannt er ihn und zaubert auf eigene Hand. Nachdem er seine Gottähnlichkeit entdeckt hat, meint er, die Welt, in der bisher das Herz herrschte, und die ihm sündig und mängelvoll erscheint, dadurch vollkommen machen zu können, daß er die Moral einführt, und er beginnt damit, die Trägheit, Sinnlichkeit und Herrschsucht, den dummen und den bösen Teufel, zu unterdrücken. Er hemmt die Hemmung, die Gott sich gesetzt hatte, um mit ihr das Leben zu erzeugen.

Aristoteles hat die Ähnlichkeit zwischen dem Herzen mit seinen Adern und dem Gehirn mit seinen Nerven bemerkt und allerlei Schlüsse daraus gezogen, auf die es mir hier nicht ankommt. Aber die Ähnlichkeit muß auffallen, wenn man eine bildliche Darstellung des Herzens und Blutkreislaufes und des Gehirns und Nervensystems vor Augen hat; es sieht fast so aus, als ob das Gehirn der Schatten des Herzens wäre. Es scheint, daß das Herz das Gehirn durch die Schilddrüse, wie die Geschlechtsorgane durch die Geschlechtsdrüse beherrscht, deren Tätigkeit sich gleichsam in den betreffenden Organen spiegelt. Wie schlagend ist von diesem Gesichtspunkt aus der Ausdruck Luthers, der Teufel sei der Affe Gottes, natürlich nur auf das willkürliche Gehirn zu beziehen.

Man hat früher gemeint, das Herz hänge vom Zentralnervensystem im Gehirn ab; indessen ist es festgestellt, daß das Gehirn nur einen regelnden Einfluß auf das Herz ausüben kann, nämlich einen hemmenden und beschleunigenden. Der nervus vagus und der nervus depressor sind hemmende Nerven; ausgezeichnet weist der Name depressor auf die Depressionen hin, die durch die Hemmung des Lebensstromes entstehen. Sowie aus dem leuchtenden Luzifer ein verbrennender wird, sowie das Gehirn befehlen, das Herz in die Zwangsjacke der Moral stecken und dadurch seine Kraft unterbinden will, wird sein Einfluß schädlich. Der Sieg des Teufels ist körperlich dadurch ausgedrückt, daß das Blut entweder in der Region der Geschlechtsorgane oder im Gehirn sich sammelt und diese Organe erhitzt, anstatt daß es immer zum Herzen, der Quelle, zurückkehrt und den ganzen Körper durchblutet, beseelt, zu einer Einheit macht.

Das Eigenmächtigwerden des Gehirns, die neue und furchtbarste Hemmung, die dem Herzen erwächst, machte sich schon vor Christus bemerkbar. Das antike Drama hatte den Riesenkampf zwischen Göttern und Menschen zum Gegenstande, der immer mit dem grausamen Siege der Götter endete. Besonders merkwürdig scheinen mir die Bakchen des Euripides zu sein, wo sich so deutlich das trunken schöpferische Herz und der zweifelnd kritisierende Gedanke gegenüberstehen. Christus, der Gottmensch, verband Herz und Kopf in seiner Person zur Einheit. Er überwindet den Teufel durch die aus dem Herzen entspringende Tat, die den einzelnen mit den vielen verbindet. Da das Christentum die Erkenntnis gebracht hatte, daß Gott in der Menschheit, nicht außer ihr ist, verlegte das nachchristliche Drama den Kampf zwischen Herz und Kopf, Gott und Mensch, in das Innere des Menschen. Vieles und Schönes ist darüber in Schillers Wallenstein gesagt: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne“, „Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme“, besonders aber die Worte Wallensteins: „Recht stets behält das Schicksal; denn das Herz in uns ist sein gebietrischer Vollzieher.“ Nun siegt nicht mehr das grausame Herz über den zerissenen Rebellen sondern durch den Überschuß seiner Kraft, die Seele, schmilzt das geniale Herz die Entzweiten gewaltig zusammen.

Man hat in unserer Zeit eine ungemein interessante Tatsache festgestellt, daß nämlich die lebendige Substanz, das einzellige Lebewesen, die Amöbe, unsterblich ist. Sie vermehrt sich durch Teilung, und diese Teilung kann ins Unendliche fortgesetzt werden, ohne daß ein Teilwesen verginge. Allerdings tritt auch hier ein Punkt des Alterns oder der Depression ein, wo die Stoffwechselprodukte nicht mehr ausgeschieden werden können; aber dieser tote Punkt kann durch Herstellung günstiger Bedingungen überwunden werden. Sie bestehen darin, daß der alternden Substanz durch Kopulation oder durch einen sonstigen neuen chemischen oder mechanischen Reiz neues Leben zugeführt wird. Die Kopulation, die Verschmelzung mit einem anderen Lebewesen, wirkt verjüngend, wenn sie vorgenommen wird, bevor die Erscheinung des Alterns den Organismus ergriffen hat. Ich hätte a priori vorausgesetzt, daß für die lebendige Substanz, für das einzellige Wesen, dieselben Grundgesetze gelten wie für den Menschen, wie für die Familie und das Volk; es ist nur um so eindrucksvoller, wenn die Tatsachen dies bestätigen. Das einzellige Wesen hat wie der Mensch sein gefährliches Alter, wo er aus eigener Kraft nicht weiterleben kann, wo ihm Kraft aus dem Nicht-Ich zuströmen kann. Wölfflin sagt von Dürer, daß er mit dem 50. Lebensjahr in seine letzte größte Epoche tritt, die bedingt ist durch die Erfrischung seiner großen Reise; und er setzt diese Verjüngung derjenigen gleich, die Rubens durch seine Heirat mit einer zweiten jungen, geliebten Frau zuteil wurde. Eine Kopulation, geistig oder körperlich, oder sonst ein starker, neuer Reiz, müssen es tun, ein Zuströmen göttlicher Kraft in das ermüdete oder erstarrte Herz.

Das Herz nämlich ist dasjenige Organ, welches den Menschen regiert: wir leben vom Herzen aus und sterben vom Herzen aus. Sei es, daß wir aus Altersschwäche oder an einer Krankheit oder woran immer sterben, das Versagen des überlasteten Herzens ist es immer, das den Tod herbeiführt. Daß die Nervenzellen, welche der Herztätigkeit vorstehen, sterben, ist die Folge von einer Vergiftung durch die Schlacken des Stoffwechsels, welche nicht ausgestoßen werden können: wir sterben an Ermüdung des Herzens, die durch Selbstvergiftung entsteht. Der doppelten Aufgabe, den Körper zu ernähren und zu entgiften, seine Hemmungen zu überwinden, kann nur ein starkes Herz genügen: es handelt sich also im gefährlichen Alter, wie bei jeder Stockung des Lebens, um eine Anregung, eine Verstärkung des Herzens. Es gibt eine Anekdote von Luthers Frau; sie habe, als Luther einmal in eine schwere Melancholie verfallen sei, Trauerkleider angelegt und auf die erschrockene Frage des Heimkehrenden, ob eines der Kinder gestorben sei, geantwortet, der Herrgott sei tot, um ihn trage sie Trauer. Derselbe Instinkt leitete Charlotte Stieglitz, die sich bekanntlich das Leben nahm, um ihren Mann durch den Schmerz über den Verlust schaffenskräftig zu machen. Das Opfer war vergebens gebracht, Herr Stieglitz hatte offenbar überhaupt kein Herz oder keins für seine Gattin. Überhaupt können Willkür und Absicht nicht helfen, nur verderben: sie verdrängen ja gerade das Herz, dem Raum gemacht werden soll. Die Gott liebt, leitet er selbst zur rechten Zeit zur rechten Stelle. Wie könnte Einsicht den richtigen Zeitpunkt herausfinden, auf den alles ankommt? Ist dieser versäumt, so zerdrückt die einströmende Kraft den mürben Organismus und tötet anstatt zu beleben.

Hier zeigt sich nun, warum es für Völker notwendig ist, Großstaaten zu werden. Das Leben beruht auf der Möglichkeit von Gegenwirkungen. Der abgeschlossene Kleinstaat kann das gefährliche Alter nicht überwinden: das enge verkalkte Herz erlaubt das Zuströmen fremder Kraft nicht, und es wird zuletzt in seiner Kruste verkümmern müssen. Ich las neulich, daß die Tiere, die auf Inseln leben, die Tendenz haben, zu verzwergen. Absonderung ist Sünde; im Kampf mit Gegensätzen, in der Verbindung mit dem Ganzen liegt das Leben.

Diese Verkümmerung und Verzwergung erfahren alle Personen, Stände, Familien, Staaten, die sich absondern und dadurch das Einströmen fremder Kraft unmöglich machen. Der Adel hat seine Blütezeit, solange er sich seines Adels kaum recht bewußt ist; sowie er sich abschließt, verwelkt er im gleichen Maße, wie sein Selbstbewußtsein, seine Selbstvergötterung steigt.

Man kann den Vorgang der Absonderung nach erreichter Blüte und der dann eintretenden Verkümmerung am besten an der Geschichte Spaniens studieren; ich widerstehe der Verführung, darauf einzugehen, um dich nicht zu langweilen. Die Schweiz, die durch Sünde, nämlich durch Absonderung von Deutschland, entstanden ist, hatte den Vorzug des Gegensatzes von Stadt und Land und des Gegensatzes der drei Nationen; diese Gegensätze haben sie so lange lebendig erhalten. Mehr und mehr machen sich jetzt gewisse Symptome beginnender Selbstvergötterung bemerkbar und andererseits ein verhaltenes Bedürfnis nach Erfrischung. Weniger glücklich ist Holland daran, seit es von dem gegensätzlichen Belgien getrennt ist. Auf diese Trennung folgte zuerst für beide Länder eine schnelle, wundervolle Blüte; nachher wäre wohl Vereinigung Belgiens mit Frankreich und Hollands mit Deutschland förderlicher gewesen. Die Lage der kleinen Inselstaaten zwischen großen Ländern, die durch sie die gegenseitige Reibung abschwächen wollen, ist immer bedenklich. Aber nicht nur Holland und die Schweiz, ganz Europa befindet sich augenscheinlich im gefährlichen Alter und strebt leidenschaftlich nach Erweiterung und Aufnahme neuer Kraft. Wenn einmal alle Nationen der Erde einen Einheitsstaat bilden, ist der Jüngste Tag gekommen, weil dann keine Kopulation mehr möglich ist.

Der Einheitsstaat ist der moderne Staat. Als ich eben von der Notwendigkeit des Anschlusses kleiner Staaten an den Großstaat sprach, dachte ich nicht an moderne Verhältnisse. Der moderne Staat, weil er nicht von innen wächst, sondern von außen zusammengesetzt wird, ist seiner Art nach grenzenlos; was natürlich wächst, nach einem inneren Urbilde sich gestaltet, ist begrenzt. Die modernen Staaten müssen sich gegenseitig verschlingen, weil sie ihrem Wesen nach unendlich sind, und der Augenblick muß kommen, wo die Erde ihnen zu klein wird. Der natürliche Staat, der aus der Familie und natürlich sich bildenden Gruppen herauswächst, der germanisch-romanisch-slawische, christliche Staat des Mittelalters, erweiterte sich nicht nur, sondern zog sich auch zusammen, wie das gesunde Herz tut. Jede Zelle seines Körpers war durchblutet, selbsttätig. Unsere alten Kaiser nannten sich zwar allzeit Mehrer des Reichs, aber sie vermehrten, indem sie Lebendiges an Lebendiges angliederten. Sie waren wie weise, sorglose, gläubige Väter, die ihre Kinder wild aufwachsen lassen und nur zuweilen strafend dazwischenfahren, wenn jene es allzu bunt machen. Einem solchen Staat wird die Zeit nie zu lang, der Raum nie zu eng, weil er sich immer aus sich selbst erneuern kann. Der bloß denkende Mensch hat bald die ganze Welt durchmessen, dem tätigen Mann kann sein Dorf zur Welt werden.

Ich glaube, es müßte sich feststellen lassen, daß die Nervenzellen der Westeuropäer mit Stoffwechselprodukten überladen sind, und zwar namentlich diejenigen Nervenzellen, die der Herztätigkeit vorstehen. Daher schreibt sich der Mangel an Genie bei überwiegendem Verstande. Es ist wahr, daß wir unabhängig von der Natur, das heißt von Gott, werden; unsere Lebensweise wird besser geregelt, und unsere Lebensdauer verlängert sich; aber was hülfe uns selbst die Ewigkeit ohne Leben? Gott hat sich das Herz vorbehalten: er will, daß wir es ihm opfern, und gibt es uns verjüngt zurück. Die dem Herrn vertrauen, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren wie Adler. Es gehört allerdings zum Gottvertrauen, daß man Gott kein Ziel setzt. Man kann sehr vorsichtig leben, Kampf, Erregung, Schmerz vermeiden und damit auch das Sterben hinausschieben; aber das ist dann schon das Für-sich-selbst-sorgen-wollen, das Luther so sehr verdammt, ein Symptom des Alterns. Gott gibt nur Leben und Tod, beides gemeinsam, der Mensch gibt Ordnung und lange Dauer oder, wenn man so will, langes Leben; aber was für ein Leben! Wer weiß, was Leben heißt, findet den Preis des Todes nicht zu hoch, obwohl er den Tod am glühendsten haßt.

Engherzigkeit ist das Merkmal der westeuropäischen Völker. Das volle Herz beflügelt, und da sie das nicht haben, kriechen sie an der Erde, auch wenn sie mit Schiffen die Luft durchfliegen. Alles, was ihr tut, sagt der Apostel Paulus, das tut von Herzen, als dem Herrn, und nicht den Menschen. Aus der Fülle des Herzens leben ist das Geheimnis des Genies; ein volles Herz ist die Voraussetzung dazu.

Erinnere dich bitte, daß Luther lehrt, der Glaube komme durchs Gehör vermittelst der Predigt des Wortes. „Mit dem Wort nimmt Gott die Herzen.“ Das Gehör ist der Weg, der das Wort zum Herzen leitet; wer musikempfindlich ist, weiß ohne weiteres, daß das Ohr im Herzen mündet. In göttlichen Worten, in Dichter- oder Zauberworten, ist das Herz der Menschheit gebunden, es ist also selbstverständlich, daß das einzelne Herz mit ihnen verbunden sein muß. Alle Dichterworte der Menschheit sind das Geistesmeer, das die Herzen speist, und Ohr und Mund sind die Mündungen des Meeres. „Ich glaube, darum rede ich“, heißt es in der Bibel. Das Gehör nimmt gläubig auf, und liebend gibt der Mund es weiter. Da der Geist sich den Körper baut, und da Ohr und Mund Aus- und Eingang des Herzens sind, werden Ohr und Mund durch ihre Gestalt und Bewegung uns die Art des Herzens am unmittelbarsten verraten.

Dem Ohr muß man ansehen können, ob es mehr weltliches oder mehr göttliches Wort auffängt oder beides. In der Tat kann es nicht schwer sein, den Typus der schönen weiblichen, den der männlich-weltlichen und den beides vereinenden festzustellen, innerhalb welcher es natürlich eine unendliche Menge persönlicher Abweichungen gibt. Man liebt die Ohrmuschel rosig, das heißt, daß das Herz sich schon in der Pforte spiegelt; das findet man kaum außer bei Kindern und Frauen. Das entartete Ohr zeigt das Zurückfallen in die Tierheit an, die Unfähigkeit, das Wort von Gott überhaupt noch zu vernehmen.

Entsprechend dieser Einteilung gibt es verschieden Münder, verschiedene Ränder des Rubinkelches, den wir Herz nennen. Einen Mund kannte ich einmal, den ich am allerliebsten ansah, wenn er, was sein Besitzer mit Vorliebe tat, frivole, unanständige oder gottlose Geschichten erzählte. Ich hörte nur halb nach dem Inhalt der Worte hin und betrachtete verzaubert den Mund, der sich mit unbeschreiblicher Anmut wie ein Quellwasser spielend und zwitschernd bewegte. Er war wie von Asbest und blieb vollkommen lauter, während die schmutzigen Geschichten über ihn hinströmten, daß es mir wie ein Wunder zu sehen war. Wenn er mit einem gewissen Triumph Gott lästerte, mußte ich an einen mutwilligen kleinen Engel denken, der sich vorgenommen hat, während des Lobgesanges einen entsetzlichen Fluch auszustoßen; aber weil er im Himmel und dicht bei Gott ist, kommt immer nur das Heilig, Heilig von seinen Lippen, die so abscheuliche Worte ausstoßen. Dies ist der Kindermund, der jenseit von Gut und Böse ist. Es springen Perlen und Edelsteine von ihm, was immer er auch sagt; denn ihm unbewußt ist er ein Brunnen Gottes. Der Mund, den ich dir eben beschrieb, gleicht dem Shakespeares, wie ich auf einer Abbildung seiner Totenmaske sah.

Dann gibt es den Mund, der gekämpft hat, bis er vermochte, die Tiefe des Herzens auszusprechen, und dann den, der überhaupt nicht mehr aus dem Herzen sprechen kann. Vielleicht ist es ein Papageienmund, der nachplappert, oder er ist zu stolz, das zu tun, und schweigt. Vielleicht ist dann der unterirdische Gang vom Herzen zum Munde nur verschüttet und kann durchbrochen werden. Ist aber die Verbindung auf immer abgebrochen, so entsteht der Habsburger Mund, ein Brunnen, aus dem kein lebendiges Wasser mehr fließt. Er klafft auseinander, wie der Mund der Toten tut. Über die Progenie, die Erscheinung, daß die Zähne des Unterkiefers die des Oberkiefers in frontaler Richtung überragen, sind wertvolle Studien gemacht worden, und man hat bereits bemerkt, daß diese Erscheinung stets mit gewissen anderen Merkmalen zusammenhängt, und geahnt, daß sie alle auf eine biologische Ursache zurückzuführen sind. Gerade im Anschluß an das Habsburger Gesicht ist man schon darauf gekommen, in diesen Erscheinungen Degenerationsmerkmale zu sehen, und wenn man sich gewundert hat, daß auch hervorragende Individuen diese Merkmale führen, und deshalb die Auffassung ablehnen zu müssen meinte, so scheint mir das nur zu beweisen, daß man sich über den Begriff der Entartung noch nicht ganz klar ist. Mit dem Abnormen beginnt ja erst die Möglichkeit der Größe; allerdings nur die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit. Es sind viele berufen, aber wenige sind auserwählt.

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