XIII

In den Tischreden sagt Luther: „Menschen sind dreierlei Art. Die ersten sind der große Haufe, der sicher dahinlebt, ohne Gewissen, erkennet seine verderbte Art und Natur nicht, fühlet Gottes Zorn nicht wider die Sünde, fraget nicht darnach. Der andere Haufe ist derer, die durchs Gesetz erschreckt sind, fühlen Gottes Zorn und fliehen vor ihm, kämpfen und ringen mit Verzweiflung wie Saul. Der dritte Haufe ist derer, die ihre Sünde und Gottes Zorn erkennen und fühlen, daß sie in Sünden empfangen und geboren und derhalben ewig verdammt und verloren müßten sein, hören aber die Predigt des Evangelii, daß Gott die Sünde vergibt aus Gnaden um Christus willen, der für uns dem Vater dafür genug getan hat, nehmens an und glaubens, werden also gerecht und selig vor Gott. Darnach beweisen sie ihren Glauben auch mit allerlei guten Werken als Früchten, die Gott befohlen hat. Die andern zween Haufen gehen dahin.“

Der große Haufe sind die Normalen oder die Weltmenschen, die, welche Nietzsche die Vielzuvielen nannte; aus diesem größten Haufen wird ein anderer berufen, der von der Norm abweicht, also abnorm ist und die Möglichkeit hat, über den großen Haufen hinauszuwachsen, der aber auch Gefahr läuft, unter ihn hinabzusinken. Von diesem sind einige auserwählt, das zu erreichen, wozu sie berufen sind, Früchte zu tragen, die allen übrigen Leben geben: es sind die Schaffenden oder die Genialen; der Stamm γεν bedeutet ja Zeugen, Schaffen. Paulus nennt sie die Auserwählten, Luther auch schlechtweg Christen; man kann sie in der Sprache der Heiligen Schrift auch Gottmenschen oder Geistmenschen nennen.

Man kann auch sagen: die Normalen sind diejenigen, deren Mittelpunkt die Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane sind. Der zweite Haufe sind diejenigen, die angefangen haben, auf ihr Gewissen, die Stimme ihres Herzens, zu hören und nun zwischen der Welt und dem Reich Gottes schwanken. Die Geistmenschen sind diejenigen, die aus dem Herzen leben, und zwar so, daß das Herz einen Überschuß über das Gehirn hat.

Es hat mir großen Eindruck gemacht, zu sehen, wie durchaus aristokratisch das Christentum ist. Man hat so viel von dem Volksmann Luther, von dem demokratischen, ja wohl kommunistischen Prinzip des Christentums gehört, daß der Blick sich erst freie Bahn machen muß für die Wahrheit; so wenigstens ging es mir. Allerdings ist Luther jedenfalls selbst von der naiven Annahme ausgegangen, alle Menschen seien in der Hauptsache so wie er; jeder Schaffende tut das, sonst würden ihm Mut und Lust fehlen, sein Herz reden zu lassen. Erst allmählich kam er zu der Einsicht, daß, wie er sich ausdrückte, Christi Regiment nicht über alle Menschen geht, sondern der Christen allezeit am wenigsten sind. „Und kehre dich nicht an die Menge und gemeinen Brauch“, sagte er dann, „denn es sind wenig Christen auf Erden, da zweifle du nicht an, dazu so ist Gottes Wort etwas anderes denn gemeiner Brauch.“ Er erinnerte an Tertullians Worte, daß Christus nicht gesagt habe, ich bin die Gewohnheit, sondern ich bin die Wahrheit. Während ihn anfangs der allgemein gegen ihn erhobene Vorwurf, daß er als Einzelner der großen katholischen Kirche gegenüber recht haben wolle, die so lange bestehe und in der so viele gelehrte und weise Männer gelehrt hätten, sagte er nun: „Fürwahr eine köstliche Ursache, die man nimmt von der Größe und Menge wider das klare und lautere Gottes Wort.“ So kam er zu derselben Erkenntnis, die Goethe den Seufzer erpreßte: „Ach, da ich irrte, hatt ich viel Gespielen, Da ich dich kenne, bin ich fast allein.“ Unter die „Frevelartikel“, vor denen man sich hüten müsse, zählte Luther die, daß jeder Mensch den Heiligen Geist habe, daß jeglicher Mensch glaube, daß jegliche Seele das ewige Leben haben werde.

Es ist merkwürdig, daß man bei den meisten Menschen anstößt, wenn man von einem großen Manne sagt, er sei abnorm oder degeneriert, gerade so, als ob es normal wäre, genial zu sein. Jeder große Mann ist von der Art abgewichen, also entartet; allerdings ist er über die Art emporgestiegen, und es wäre insofern richtiger, zu sagen, er sei überartig. Legt man indessen den Maßstab des normalen Menschen an ihn, so muß man ihn als krank bezeichnen; vor der Welt ist er minderwertig, weil er weniger tüchtig ist, Geld zu verdienen und normale Kinder zu erzeugen.

Die normalen Menschen werden wissenschaftlich erklärt als diejenigen, die am besten geeignet sind, sich und die Art zu erhalten. Sie sind noch ungebrochen; ihr Bewußtsein ist noch nicht zum Selbst- und Gottbewußtsein entwickelt, nur ein blinder Instinkt, der sie ähnlich den Tieren zu den erwähnten Zwecken leitet. Unempfänglich für geistige Genüsse, wollen sie nichts anderes, als was für ihr Gedeihen und ihre Fortpflanzung dienlich ist, und darin erschöpft sich ihr Leben. „Sie haben ihren Lohn dahin“, sagt Christus, und Luther: „Sie gehen dahin.“ Anders ausgedrückt: Sie stellen eine frühe Entwickelungsstufe dar, die von einer höheren aufgerollt, mitgenommen und vertreten wird.

Von diesem großen Haufen sondern sich diejenigen Individuen ab, die nicht mehr vorwiegend tüchtig zu ihrer Erhaltung und zur Erhaltung ihrer Art sind. Ihr Selbst- und Gottbewußtsein hat sich so weit entwickelt, daß sie eine innere Sonderung und zugleich eine Sonderung von der Welt fühlen. Sie haben nun zwei Seelen in sich, eine göttliche und eine tierische, in der Bibel gewöhnlich Geist und Fleisch genannt; sie haben vom Apfel der Erkenntnis gegessen und unterscheiden Gut und Böse. Die Kluft zwischen Wollen und Vollbringen, die so im Menschen entstanden ist und ihn eigentlich in zwei Stücke reißt, macht ihn für seine nächstliegenden Aufgaben untüchtig; er wendet seine Kraft auf, die Kluft zu überbrücken oder zu maskieren. Der Welt, dem großen Haufen gegenüber ist er der Schwächere geworden und haßt und fürchtet ihn; zugleich verachtet er ihn, weil er ihn an Einsicht und jenseit der Welt liegenden Möglichkeiten überragt. Es hat sich ihm innerhalb der Welt der Erscheinung das Reich des Unsichtbaren aufgetan, das Reich des Geistes oder Gottes, und er ist reicher um die Anwartschaft darauf, ärmer um die feste, gesicherte Stellung in der Welt. Zu diesen Zerrissenen, Gesonderten ist Christus gekommen, um sie wieder ganz zu machen, indem er sie lehrt, auf die Welt zu verzichten, um im Reiche des Geistes zu herrschen und von dort aus die Welt zu überwinden. Nicht die Sünder sind gemeint, die gegen das Gesetz gesündigt haben und weltlicher Strafe verfallen, sondern die, welche das Sündenbewußtsein haben und sich nach Erlösung sehnen, nach Erlösung von der Welt durch den Geist. Daß Luther als Vertreter des zweiten Haufens Saul nennt, den königlichen Erstling der Melancholischen, zeigt seine Meinung klar. Es sind die Interessanten; das Wort kommt nämlich von „zwischen Sein“, zwischen dem unbewußten und bewußten Sein, die im Übergang Begriffenen, um welche Gott und der Teufel sich streiten. Selbstverständlich sind alle Menschen werdend; aber es kann auch ein Übergewicht nach unten oder nach oben geben, während bei diesen sich noch nichts entschieden hat. Ihre Aufgabe ist, von der sichtbaren Welt eine Brücke zur unsichtbaren zu schlagen, nicht um die sichtbare zu verlassen, sondern um beide Welten zu verbinden. Die Verbindung ist Religion; das Wort kommt von ligare, binden. Um den Vorgang möglichst zu verdeutlichen, möchte ich den Sprung hinüber und das zur Welt zurückgeworfene Band unterscheiden. Der Sprung von der sicheren Küste der Welt ins Unsichtbare ist der Glaube; handelt es sich dann um die Überwindung der Welt von dem gewonnenen Himmel aus, der neuen Heimat des Inneren, so ist zwar nicht die Kraft selbst geändert, aber doch ihre Richtung, und sie heißt nun Liebe. Je nachdem der Mensch wesentlich kindlich, unbewußt, gestaltungskräftig ist, oder wesentlich persönlich und handelnd, oder wesentlich überpersönlich oder gottbewußt, geistig, überwindet er die Welt als Künstler durch Kunstwerke, oder als Held und Heiliger durch Taten, oder als Dichter und Weiser durch die Wahrheit. Künstlerisches, tätiges und dichterisches Schaffen sind verschiedene Ausprägungen des menschlichen Geistes auf verschiedenen Entwickelungsstufen. Das Genie oder der vollkommene Christ umfaßt sie alle; wie er Mann und Weib zugleich ist, ist er auch Kind, Mann und Greis zugleich. Bei weitem die meisten unter den Berufenen wagen den Sprung in das „schöne Wunderland“ nicht: Genies sind selten. Es gibt ja kein Schaffen, ohne daß beides vorhanden wäre, Gottbewußtsein und Weltbewußtsein, Sinnlichkeit und Geistigkeit, und es gehört eine außerordentlich starke Götterhaftigkeit dazu, den durstig im schönen Schein Schwelgenden aus dieser glücklichen Umarmung zu reißen. Die meisten zweifeln zwischen den beiden Welten und gehen beider verlustig; nur wer sich für den Göttertisch entscheidet, kann Ambrosia genießen und zugleich am Tische der Welt Gast sein. „Der Christenmensch“, sagt Luther, „ist ein allmächtiger Herr aller Dinge, der alle Dinge besitzt gänzlich ohne alle Sünde.“ Er besitzt sie nämlich im Geiste und durch den Geist. Beethoven war die Welt der Töne, in der er Herrscher war, sinnlich entzogen; aber wer bezweifelt, daß er in seinem Geiste eine schönere Musik vernahm als irgendein Sterblicher mit gesundem Gehör?

Die Berufung geschieht durch Leiden, wie die Briefe des Neuen Testaments vielfach ausführen. „Wir wissen aber, so unser irdisches Haus dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel.“ Dieser ewige Himmel ist in unserem Herzen, der Geist; wir können aber nicht Geistmensch werden, bevor nicht unser irdisches Haus, das normale, der Knochen- und Muskelmensch gebrochen, irgendwie erschüttert ist. Wir können, sagt Luther, den glorifizierten Christus nicht sehen, bevor wir nicht den gekreuzigten gesehen haben. Das tägliche Sterben und Auferstehen, wovon in den Episteln so oft gesprochen wird, ist durchaus nicht bildlich zu verstehen; wirklich schwindet der Knochen- und Muskelmensch im Maße wie der Nervenmensch und endlich der Geistmensch entsteht, es ist ein allmähliches Verwandeln, bei dem es keinen Leichnam gibt, weil die sterbende Form fortwährend in einer höheren aufgeht oder aufersteht. Dies kann ohne Leiden nicht vor sich gehen, obwohl es nicht notwendigerweise durch Krankheit vor sich gehen muß. Gott entziehe seinen Heiligen, sagt Luther einmal, die Güter dieser Welt nicht immer in der Tat, dann aber im Geiste, so also, daß sie sie zwar besäßen, aber kein Genügen mehr in ihnen fänden. Wäre ein Berufener zum Beispiel tatsächlich nicht arm, so wäre er doch geistig arm oder arm im Geiste; sei es, daß sein Mitgefühl mit den Armen ihn seines Reichtums nicht froh werden ließe, oder daß Krankheit ihn am Genuß desselben hinderte, oder daß nichts von allem dem, was man sich durch Reichtum verschaffen kann, ihn befriedigte. Das Entscheidende ist, daß einem die Welt entzogen wird, und daß dadurch ein innerer Gegensatz entsteht, eine Kluft zwischen Wollen und Können: man hat die Organe für die Welt nicht mehr und will die Welt doch nicht loslassen, weil man die Organe für das Reich des Geistes noch nicht in der Gewalt hat.

Das erste Kapitel des ersten Briefes von Paulus an die Korinther handelt ausführlich von der Art der Berufenen, daß sie vor der Welt schwach und niedrig sind. „Denn es stehet geschrieben: ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen. Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?… Denen aber, die berufen sind, beides, Juden und Griechen, predigen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, denn die Menschen sind. Sehet an, liebe Brüder, euren Beruf; nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen.“ Es ist falsch, diese Worte so aufzufassen, als wären nur schwachköpfige oder wenigstens einfältige Sklaven und Frauen Auserwählte. Paulus selbst war ein hochgebildeter Mann; das zeigt jedes Wort an, das von ihm erhalten ist, auch hätte er sonst die Griechen und Römer nicht so packen können durch seine Reden. Er stellt nur die göttliche Weisheit, die Genialität, der bloßen Schulweisheit und Büchergelehrsamkeit oder der weltlichen Macht und dem weltlichen Ansehen gegenüber. Daß die genialen Menschen aller Völker und Zeiten nicht aus den herrschenden Ständen, sondern im Durchschnitt aus dem sogenannten Mittelstande hervorgegangen sind, ist bekannt. Fast alle waren arm, und die meisten sind es geblieben; ebensowenig wie reich und mächtig waren sie gesund. Ich entsinne mich einer Anekdote des magenleidenden Manzoni, der einmal, als er Gelegenheit hatte, die gesunde rote Zunge eines jungen Anverwandten zu sehen, zwischen Neid und Verachtung ausrief: Lengua d'un can!

Luther hebt gelegentlich den Gegensatz zwischen heidnischer und christlicher Weltanschauung hervor, indem er dem Ausspruch des Juvenal: Orandum est ut sit mens sana in corpore sano den des heiligen Augustinus gegenüberstellt: Wenn wir gesund sind, so wütet in uns am meisten die böse Begierde.

Jedes Leiden besteht in einem Angriff auf die Integrität unseres Ich; um an das heranzugelangen, muß Gott zuerst eine Bresche in den Körper schlagen, in den Vorhof, der zur Seele führt. Es ist bekannt, daß in einer gewissen Weichheit der Knochen die Möglichkeit zur Entwickelung eines geräumigen Schädels gegeben ist, in welchem ein großes Gehirn Raum hat; woraus natürlich nicht folgt, daß jeder große Schädel und jedes große Gehirn Bürgschaft für geistige Größe gibt. Jedenfalls wirkt das große Gehirn als Magnet auf das Herz und zieht es von seinen übrigen Tätigkeitsgebieten ab, so daß der Körper nicht mehr so gleichmäßig wie sonst ernährt wird. Auch eine gewisse Entartung der Geschlechtsdrüse muß beim genialen Menschen vorliegen, nicht so, daß ihre Tätigkeit aufgehoben, sondern daß sie mehr dem Herzen unterstellt ist. Es beruht darauf die Kindlichkeit oder Weiblichkeit des Genies, dessen Liebesangelegenheiten immer zugleich Herzensangelegenheiten sind, wie man das in Goethes Leben sehen kann. Der männlichere Schiller litt unter rein körperlichen Trieben, die er heroisch überwand; sein Genie beruhte auf stärkerer Spannung, das Goethes mehr auf natürlicher Harmonie.

Durch die veränderte Richtung oder Verteilung des Blutstromes ist das Gleichgewicht im Organismus gestört, der Übertätigkeit auf der einen Seite steht Untätigkeit und Erschlaffung auf der anderen gegenüber. Man kann den Körper als eine Mauer betrachten, die das Herz zugleich mit der Welt verbindet und vor ihr schützt. Wenn dieser Körper morsch wird, ist das Herz feindlichen Angriffen mehr ausgesetzt und wird zu stärkerer Tätigkeit gereizt. Das Genie ist also eine Alterserscheinung, nicht in dem Sinne natürlich, daß der einzelne alt wäre, sondern daß seine Familie es ist; er ist das Ende einer Entwickelungsreihe. Doch ist es nicht so, daß die Auflösung bereits eingetreten wäre, sondern er gibt nur das Zeichen zu ihr; der blitzartige Punkt zwischen dem letzten Augenblick des gesunden Lebens und dem ersten des hereinbrechenden Todes ist der glücklichste.

Nach der Hochflut des Genies kommt die Ebbe der Dekadenz. Wenn ich bei dem photographischen Bilde bleiben darf, möchte ich sagen, daß bei sehr scharfem Licht die Platte des Gehirns zwar von Momentaufnahmen voll wird, daß diese aber, da keine Urbilder aus dem Herzen mehr dazukommen, nie ein lebendiges Ganzes werden können. Manche Menschen scheinen allwissend zur Welt zu kommen und sind mit fünfzig Jahren kaum reifer als mit fünfzehn; sie haben einen vollen Speicher in ihrem Gehirn, aber er belastet sie mehr, als daß sie ihn nützen könnten. Die Bausteine sind da, aber die Melodie der Seele nicht, die sie zusammenzauberte. Je müder das Herz wird, desto frostiger raschelt der Gehirnstrohsack; man fühlt, daß da kein Wort hilft, sondern nur das Zuströmen frischen, feurigen Blutes. Christus erkannte sich selbst als Gottes Sohn und starb den Opfertod; nach dem Augenblicke, wo Selbst- und Gotteserkenntnis eins wird, muß das Ende kommen, denn die Zeit ist mit ihm erfüllt. Der Gottmensch opfert sich entweder, von seinem Spiegelbilde sich losreißend, oder er bleibt in Selbstanbetung daran gebannt und wird, vom Strome des Lebens abgesondert, zur Mumie. Dem Tode ist der Gottmensch geweiht; es fragt sich nur, ob er sich selbst oder anderen sterben wird. Dies eben ist die Frage, die die Götter dem Achilles vorlegten, ob er ein langes und bequemes, aber ruhmloses Leben wolle, oder Kampf und Mühsal und frühen Tod, aber unsterblichen Ruhm; es war sein Herz, das die Antwort gab. Von der Großherzigkeit und Engherzigkeit des Menschen hängt seine Entscheidung ab.

Langlebigkeit und Gesundheit beruht auf Sparen mit dem Herzen; darin liegt, daß geniale Menschen im allgemeinen nicht lange leben und nicht durchaus gesund sein können. Irgendwie muß sich ein Rückschlag des gesteigerten Lebens zeigen. „Judas, wer liebt, verschwendet alle Zeit.“ Eines der schönsten Gedichte von Goethe, das von einem starken Baume handelt, der seine Kraft hingibt, um einen ihn umklammernden Efeu zu ernähren, schließt mit den Worten: „Süß ist jede Verschwendung; o laß mich der schönsten genießen! Wer sich der Liebe vertraut, hält er sein Leben zu Rat?“

Wäre eine derartige Verschwendung allgemein, so würde das menschliche Geschlecht bald ausgestorben sein; es ist deshalb notwendig, daß der große Haufe sich von der Selbstsucht leiten läßt.

Goethe wird deswegen so sehr bewundert, weil bei seinem Genie Gott- und Weltbewußtsein so sehr im Gleichgewicht war. Er hat dadurch das Genie eigentlich weltfähig gemacht, und wenn Christus die Menschen zu Göttern machte, kann man von Goethe sagen, daß er sich den Menschen zuliebe verweltlichte. Als Sohn eines durchaus weltlichen, engherzigen Vaters fing er früh an mit der Neigung zu sparen und glich dann einem Ofen, der sein Feuer Tage unterhielt, an dem man sich aber nicht gerade wärmen konnte. Er hat „sein volles Herz gewahrt“, geschont, und es ist dieser Umstand, der gerade den alten Goethe zum Liebling unserer gebildeten, wesentlich herzschwachen Männer macht. Luthers mächtiges, maßlos überanstrengtes Herz erlahmte verhältnismäßig früh, und die schmerzliche Ahnung seiner Jugend wurde wahr: die letzte Anfechtung wird sein, daß ich mir selbst zur Last fallen werde. Während seines ganzen Lebens hatten Perioden gänzlicher Erschöpfung, wo er sich lebend tot fühlte, mit den Perioden übermenschlicher Schaffenskraft gewechselt, Übertätigkeit des Herzens mit Versagen des Herzens.

Die Meinung, daß die Heiden die Lehre von der Berufung durch Leiden nicht gekannt oder gar verabscheut hätten, ist übrigens ganz falsch, wenigstens was die Griechen betrifft, deren Weltanschauung vielmehr ganz in die christliche einmündete. Eine Stelle bei Äschylus lautet:

Weise macht den Erdensohn
Gottes Führung und Gebot:
Leiden soll dir Lehre sein.
Mahnend sinkt im Schlaf der Nacht die Qual
Alter Schuld
Ihm aufs Herz:
Ungewollt
Kommt die Weisheit über ihn.
Strenge Wege geht mit uns die Gnade,
Die am Weltensteuer sitzt.

Es ist dieselbe Lehre von der Sünde, vom Leiden und der Gnade, die wir im Neuen Testamente finden. Die Sagen von Eros und Psyche und von Prometheus scheinen mir keinen anderen Sinn haben zu können, als daß das Leben im Geiste, symbolisiert durch Feuer und das Erschauen der Götter, nicht geraubt werden, sondern durch Leiden erworben werden muß. Das arbeitvolle Leben des Herkules, seinen Feuertod und seine Verklärung hat man längst mit dem Leben Christus' verglichen, und schließlich erlebte ja das ungemein geniale Volk der Griechen seinen höchsten und letzten Augenblick, als es in Christus den unbekannten Gott erkannte.

Die meisten Berufenen scheitern daran, daß sie nicht kämpfen und leiden wollen. Sie möchten wohl Auserwählte sein, aber, wie Papageno, nicht durch Feuer und Wasser gehen, und gleichen Frauen, die sich nach Kindern sehnen, aber die Qual, sie zu tragen und hervorzubringen, nicht auf sich nehmen mögen. Es gibt Menschen, die dem Leiden ausweichen, und es gibt Menschen, die das Leiden suchen und denen das Leiden ausweicht; wen Gott auserwählt hat, dem zwingt er das Leiden auf. Und zwar zwingt er es ihm auf durch das Mittel, durch welches er überhaupt im Menschen wirkt, nämlich durch das Herz; insofern nun jedem sein Herz selbst angehört, macht jeder sich sein Schicksal selbst.

Diejenigen erringen die Krone des Lebens nicht, die nicht getreu sind, sondern begehrlich nach den Kronen der Welt blicken. Sie bleiben entweder unfruchtbar und voller Unruhe zwischen den beiden Welten hangen, oder sie werden in der stärkeren Welt, in die sie sich ohne den Harnisch des Geistes zurückwagen, zertreten. Gott ist consumens et abbrevians, aufzehrend und abkürzend: auf Unzählige, die dahingehen, kommen einzelne Lebendige. Das Ziel, welches diese erreichen, zugleich Sieg und Krone, ist die Schaffenskraft. Die Auserwählten sind, wie schon gesagt, die Genies oder die Schaffenden; denn sie sind ja Ebenbilder Gottes, und Gottes Wesen ist Schaffen. Luthers quälende Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? läßt sich in die Worte fassen: Wie werde ich ein Schaffender? Im Schaffen wird das Leiden überwunden, und wenn das Leiden das Siegel der Berufung ist, so siegelt der Überwinder mit Werk, Tat und Wort. Das ist aber nicht so zu verstehen, als ob nur große Künstler, Helden oder Dichter und Weise selig werden könnten: jedes volle Herz ist tätig, arbeitet, und ist arbeitend selig. Das Genie im engeren Sinne aber lebt nicht nur, sondern erlebt, erinnert sein Leben im Spiegel des Gehirns und verdoppelt es in Form, Tat oder Wort. Diese Verdoppelung des Lebens, die nur durch verdoppelte Herztätigkeit möglich wird, nennt man Schaffen; aber selig macht auch das einfache Leben, das im Wirken besteht.

Eines der größten Genies der Welt war jedenfalls Paulus. Der Römer Festus begriff gut, mit wem er es zu tun hatte, da er zu ihm sagte: Paule, du rasest; deine große Kunst macht dich rasend. Es erinnert an Shakespeares Wort vom Auge des Dichters, das im süßen Wahnsinn rollt. Auffallend finde ich, nebenbei bemerkt, wieviel unwillkürliche Sympathie und Hochachtung gerade einzelne Römer für Christus wie für Paulus zeigten. Als dem ähnliches erscheint mir die gute Aufnahme, die England den ausländischen Genies zu bereiten pflegte: das Herrschervolk huldigt den Herrschern im Reiche des Geistes, das es ihnen gönnt. Die häufigen Schilderungen von der Seligkeit des geistig Schaffenden rauschen mit stürmender Gewalt durch die Bücher des Neuen Testaments wie die von der Kraft der Gläubigen durch die des Alten. Im Alten Testamente schafft Gott in dem passiv hingegebenen Menschen, im Neuen ist der Mensch selbst Gott geworden. „Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben“; diese überschwengliche Herrlichkeit, sollte sie einem tugendhaften Bürger, einem katholischen oder protestantischen Pfarrer als solchem gegeben sein? Es sind vielmehr „die Verführer und doch wahrhaftig; die Unbekannten und doch bekannt; die Sterbenden, und siehe, sie leben; die Gezüchtigten und doch nicht ertötet; die Traurigen, aber allezeit fröhlich; die Armen, aber die doch viele reich machen; die nichts innehaben und doch alles haben“. Die „ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit“ gehört denen, „die nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare“, nämlich auf den Geist. „Schulgezänke solcher Menschen, die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit beraubt sind, die da meinen, Gottseligkeit sei ein Gewerbe“, das verschafft wohl Zutritt zur sichtbaren, nicht aber zur unsichtbaren Kirche.

Wenn man nicht das Wort „geistlich“ beibehalten hätte, das Luther für geistig gebrauchte, würde sich vielleicht der mit etwas Selbstgefälligkeit, Salbung und Tugendseligkeit so schädlich verquickte Begriff des „Geistlichen“ gar nicht herausgebildet haben. Wenn Luther „geistlich“ sagte oder schrieb, schwebte ihm sicherlich nichts anderes vor, als was wir bei dem Worte „geistig“ denken und empfinden. Diejenigen, die den geistigen, den innerlichen, unverweslichen Leib in dem natürlichen, verweslichen tragen, die können wie Paulus in das Paradies entrückt werden und unaussprechliche Worte hören, die kein Mensch sagen kann.

Für unsere Zeit ist es charakteristisch, daß es keine Genies gibt. Sowohl die amtlichen Vertreter unseres Geisteslebens wie die nichtamtlichen, die sichtbare Kirche nicht nur, sondern auch die unsichtbare, wollen entweder abgesonderte Winkelprediger oder Weltmenschen sein. Es ist so weit gekommen und wirkt beinahe komisch, daß sie mit einer Art Entrüstung, als wäre es etwas Schimpfliches, die Genialität ablehnen, weil sie an die Möglichkeit einer echten nicht glauben. Vor allen Dingen wollen sie gut leben und Ansehen in der Welt haben, was ihnen denn auch zuteil wird und womit sie ihren Lohn dahin haben. Der Krieg ist wohl als eine große Berufung anzusehen; ich zweifle, ob sie jetzt schon laut genug ist, daß die der göttlichen Stimmen ungewohnten Ohren sie vernehmen können.

Wenn ich von deiner schwermütigen Schönheit wegblicke zum Fenster, so sehe ich das durchsichtige Gewimmel der Sterne, das unsere Erde wie eine Gloriole umgibt. Die Erde kommt mir vor wie die Menschheit selbst, an ihrem äußersten Rande in leuchtende Körper aufgelöst, die in goldenen Ringen tiefer und tiefer in den unendlichen Raum dringen, eine Brücke der Gläubigen vom Sichtbaren ins Unsichtbare.

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