XIV

Solltest du, liebster Freund, jemals Ursache haben, an der Menschheit zu zweifeln oder zu verzweifeln, so studiere Luthers Streit mit Zwingli über das Abendmahl und tröste dich mit ihm. Luther hat ja bei Lebzeiten und nach seinem Tode begeisterte Anhänger gefunden; aber wo er am glühendsten fühlte, am tiefsten dachte, am größten handelte, da hat ihn niemand verstanden. Man begriff, daß Zeremonien ohne Glauben keinen Wert vor Gott haben; aber daß Handeln, auch das edelste, ohne Glauben auch ungöttlich ist, das begriff man nicht. Man wollte wohl eine sichtbare Kirche, aber einen Kult wollte man nicht, außer einem solchen, der mit dem Verstande zu begreifen wäre, mit Gott also gar nichts zu tun hätte. Luther wollte jeden Kult abschaffen, den Gott nicht geboten hatte; einen solchen nannte er Zeremonien, Menschengebote, Menschenlehre, und verdammte ihn heftig; denjenigen wollte er heilig bewahrt wissen, den Gott geboten hat, oder, was dasselbe ist, der mit Notwendigkeit aus Gottes Wesen fließt. Die Richtung des sechzehnten Jahrhunderts ging auf Ausbildung des Selbstbewußtseins, des Verstandes, der äußeren Welt; man wollte durchaus keinen Gott haben, der, in der äußeren Erscheinung heimisch, das Begreifen der Welt von zwei Seiten her gefordert hätte. Als Luther denjenigen Kult einführen wollte, den Gott geboten hat und der aus dem Wesen Gottes mit Notwendigkeit sich ergibt, bewunderten sie nicht seine Folgerichtigkeit, sondern sie nahmen Ärgernis daran, daß er, wie sie es nur auffassen konnten, sich plötzlich als Mystiker verriet. Der aus Herz, Kopf und Sinnen lebende Mensch wird stets von denen verkannt und gehaßt werden, die nur aus Kopf und Sinnen leben.

Luther verstand unter dem Unsichtbaren das, was ist, was unsere Augen aber nicht wahrnehmen; die Gegner verstanden unter dem Unsichtbaren das, was nicht ist, wovon aber unklare Mystiker träumen. Sie verbannten das Unsichtbare in einen sogenannten Himmel, der jenseit, das heißt eigentlich nirgendwo, ein harmloses Dasein fristen durfte, obwohl Christus unmißverständlich gelehrt hat, daß der Himmel in unserem Inneren, daß er menschlicher Geist ist. Indem Gott seinen eingeborenen Sohn gab, sagte Luther, machte er aus Himmel und Welt ein Ding; in der Person des Gottmenschen sind Sein und Erscheinung eins geworden. Dieser monistischen Weltanschauung war die Zeit Luthers nicht zugänglich, die, nachdem in einem genialen Augenblick Spiritualismus und Materialismus verschmolzen waren, übermächtig zum Materialismus hindrängte. Der Standpunkt Zwinglis, daß man, wie er sich ausdrückte, die beiden Naturen, nämlich Geist und Stoff, nicht vermischen dürfe, wurde auch von den Katholiken geteilt, nur daß sie sich nicht, wie die Reformation, auf den bloßen Geist, sondern auf den bloßen Stoff stützten. Sie waren Heiden ohne die kindliche Blindheit der vorchristlichen Heiden. Auch die heutigen lutherischen Theologen sprechen von Luthers Mystik wie von einer Ausschweifung seines Verstandes, einer liebenswürdigen Schwäche, die man einem übrigens vernünftigen Menschen hingehen läßt. Daß Gott der Geist wirklich ist, das Unsichtbare vereint mit dem Sichtbaren, scheinen sie so wenig zu glauben wie die Zwinglianer und Katholiken des sechzehnten Jahrhunderts.

Als kultliche Handlungen, die von Gott geboten sind, bezeichnet Luther die Taufe und das Abendmahl. Die Taufe bedeutet das Sterben des Naturmenschen und Auferstehen des Gott- oder Geistmenschen, die zweite Geburt des Menschen, die sein Leben lang währen und mit seinem Tode vollendet sein soll. Die Taufe soll aber durchaus nicht nur eine bildliche Handlung sein, sondern sie soll diesen Werdegang der Wiedergeburt im Geiste tatsächlich einleiten, indem in das Herz des Kindes zum erstenmal das Samenkorn des göttlichen Wortes fällt. Das Wort ist, wie du weißt, die höchste Verdichtung des Geistes und bindet den verweslichen Menschen an das Unverwesliche, oder es heiligt ihn; mit den Worten der Taufe nimmt die Heiligung ihren Anfang. Sie setzt sich fort im Leben durch die Taufe flaminis et sanguinis, die Taufe in Feuer und Blut. Zufolge eines begreiflichen Trugschlusses des Verstandes verlangten die Wiedertäufer, daß die Taufe an Erwachsenen sollte vollzogen werden, da das neugeborene Kind das Wort noch nicht vernehmen könne; ein Irrtum, den Luther selbst durchgekämpft hat. Er wandte dagegen anfangs ein, daß der Glaube der erwachsenen Paten für den noch unentwickelten Glauben des Kindes eintreten könne; später erst ging ihm die großartige Erkenntnis des unbewußten Glaubens auf, wie er es nannte. Er begriff, daß der Glaube ein Nichtwollen, ein Sichpassivverhalten des Menschen Gott gegenüber ist, und daß gerade das unbewußte Kind geeignet sein muß, von Gott ergriffen zu werden.

Neuerdings hat man Beobachtungen darüber angestellt, daß Worte, die in Gegenwart von fest schlafenden Kindern gesprochen werden, obwohl nicht mit Bewußtsein, doch von ihnen aufgenommen werden und in ihnen wirken können; gehorcht doch auch der Hypnotisierte den Worten dessen, der ihn hypnotisiert, obwohl er sie nicht mit Bewußtsein hört. Ich habe an mir selbst erfahren, daß in der Kindheit vernommene Worte, die ich nicht verstand, die mich nur durch ihren Rhythmus ergriffen, sich in mir festsetzten und in mir fortwirkten; und es wird jeder Mensch Beispiele dafür in seinem Leben finden. Worte sind Samen, der bewußt gesät und unbewußt empfangen wird; sie schlummern im Stoffe, aus dem das Herz sie hervorglühen kann, damit sie Frucht tragen. Auf der Annahme, daß Kraft auch da wirken kann, wo sie unbewußt empfangen wird, beruht der Segen, den Eltern auch ganz kleinen oder schlafenden Kindern erteilen; Worte sind die stärkste Kraft, die es gibt.

Luther bemerkte gelegentlich, es sei dem Sakrament der Taufe zugute gekommen, daß es mit unbewußten Kindern umgehe, deshalb lasse man es so ziemlich undisputiert. In der Tat kam wohl Zwingli gar nicht darauf, daß die Taufe anders könnte aufgefaßt werden als eine symbolische Handlung, sah deshalb keinen Grund ein, sie abzuändern, und bewirkte, daß die Wiedertäufer in Zürich mit dem Tode bestraft wurden. Luther, der Irrende nur durch das Wort bekämpft wissen wollte, begnügte sich damit, sie auszuweisen.

Ganz anders verhält es sich mit dem Abendmahl, das im Mittelpunkte des Kults steht und den Erwachsenen dargeboten wird. Daß im Stoff Geist, daß der Stoff geistvoll sei, hatten schon die Propheten des Alten Testamentes gelehrt, indem sie sagten, Gott erfülle Himmel und Erde; Christus setzte hinzu, daß der Himmel das Herz des Menschen sei. Anders ausgedrückt: die Propheten lehrten, daß Gott das Herz der Welt sei, Christus, daß das Herz der Welt zugleich das Herz der Menschheit sei, die Einheit der Welt im Selbstbewußtsein des Menschen. Der Name Testament schon deutet an, daß es sich um eine Vergabung handelt: der Gottmensch, dessen Seele sterben wird, teilt sein Fleisch und Blut denen aus, die ihn lieben, deren Herzen ihm geöffnet sind, um sein Wort zu empfangen. Die Zauberworte der Einsetzung sind: Nehmet, esset, das ist mein Leib. Trinket alle daraus, das ist mein Blut, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Vorbereitet hatte Christus selbst das Testament durch seine Erklärung im 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums, daß er das Brot des Lebens sei, welches er ausdrücklich als Himmelsbrot, also eine geistige Speise, der vergänglichen Speise gegenüberstellte.

Hieronymus hat das Abendmahl invisibilis gratiae visibilis forma genannt, die sichtbare Form der unsichtbaren Gnade, das ist also der im Stoff erscheinende Geist. Der heilige Augustinus erklärte es mit den Worten: Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum, Das Wort zum Element oder Geist zur Natur, und das Wunder geschieht. Wenn ich Wunder übersetze, so ist es nötig zu betonen, daß statt Sakrament im Griechischen μυστηριον, Geheimnis steht. Wunder in unserem Sinne gibt es nicht, nur Geheimnisse. Hier handelt es sich um das letzte Geheimnis, daß in der Seele, im Ich, der Stoff zugleich Geist ist, und weil wir dies Geheimnis nur erleben, nicht machen können, scheint mir richtig, es Wunder zu nennen. Mit dem Tode wird unser Körper wieder eins mit der ewigen Substanz, unser Geist, sei es in Form, Tat oder Wort oder im Blute, geht in die Herzen ein. Brot und Wein sind Stoff: wenn der Blitz des Wortes sie entzündet, erglühen sie zu Geist. Daß Christus das Brot wählte, geschah, weil das Samenkorn die stärkste Verdichtung des Stoffes ist wie das Wort die stärkste Verdichtung des Geistes; Brot ist die natürliche Speise des Menschen. Ebenso ist Wein das Getränk, das am stärksten ins Blut geht, wie man volkstümlich sagt; das Feuerwasser, wie der Wilde es nennt, ist das gegebene Bild für das Feuerwasser, das aus dem Herzen des Menschen quillt. Auch unser Fleisch und Blut lebte nicht, wenn die Seele sie nicht mischte, gären und glühen machte; das Erlöschen der Seele ist der Tod. Wer sich dessen bewußt ist, dem kann jede Speise eine Geistesspeise sein; davon aber unterscheidet sich das Abendmahl dadurch, daß es von der gläubigen Gemeinde genommen wird. Luther beantwortete deshalb alle an ihn gerichteten Anfragen, ob einer sich das Abendmahl unter Umständen allein dürfe reichen lassen, abschlägig; Gott ist ja Person nur im Menschen, und die Verbindung mit Gott muß durch die Verbindung mit der Menschheit geschehen. Absonderung von den Menschen wäre zugleich Absonderung von Gott, also wäre das Abendmahl von einem Einzelnen genommen ein Widerspruch in sich selbst und eigentlich ungöttlich. Dem Wissenden für sich allein ist ja selbstverständlich das Abendmahl nicht notwendig; ist er an seinem Gebrauch verhindert, so tritt das Wort des Augustinus in Kraft: crede et manducasti, glaube, so hast du gegessen; als gemeinsames Mahl macht es die durch den Körper Gesonderten im Geiste eins.

Zwingli hatte vom Wesen des Abendmahls keine Ahnung: er dachte, Christus, ein edler, vorbildlicher Mensch, habe seine Jünger ermahnt, seiner nach seinem Tode zu gedenken, und ebenso sollten es künftig die Gläubigen halten, wenn sie die Handlung des Abendmahls symbolisch wiederholten. Die katholische Kirche wollte im Sakrament den Opfertod Christi wiederholen und sich durch den richtigen Vollzug desselben Verdienste erwerben; sie, ebenso wie Zwingli, machte ein Werk, eine Selbsttätigkeit des Menschen daraus. Luther verstand die Sakramentshandlungen als Austeilungen göttlicher Kraft, bei denen die Menschen die Empfangenden sind.

Eines der hauptsächlichen Argumente Zwinglis gegen Luthers Auffassung, Christi Fleisch und Blut sei im Brot und Wein, war, daß Christus zur rechten Hand Gottes sitze, also nicht im Brot und Wein sein könne. Man sollte meinen, eine so grobe Unfähigkeit, das Göttliche zu erfassen, springe jedem in die Augen. Sie veranlaßte Luther zu einer hinreißenden Schrift über die Allgegenwärtigkeit Gottes, die, von göttlichem Geist durchdrungen, dem milden Tadel der lutherischen Theologen nie entgeht. Die meisten wünschen, er möchte sie lieber nicht geschrieben haben, obwohl sie recht hübsche Bilder enthalte. Wer, außer etwa Shakespeare oder Dante, hat solche Bilder schaffen können? Luther sagt selbst einmal, man hasse ihn, weil er nicht nur die Wahrheit sagte, sondern auch sagte, daß er sie sagte. Hätte er sich Dichter genannt, so hätte man ihn vergöttert.

Begreiflicherweise mußte Luther über Zwinglis „Gaukelhimmel“ lachen, „darin ein goldener Stuhl stehe und Christus neben dem Vater sitze in einer Chorkappe und goldenen Krone, gleichwie es die Maler malen“. Daneben aber bemühte er sich ernstlich zu erklären, daß die allmächtige Gewalt Gottes zugleich nirgends und an allen Orten sein müsse; daß alles, was an einem Orte sei, an diesem Orte beschlossen sein müsse, welcher örtlichen Gebundenheit Gott doch nicht unterliegen könne, der vielmehr über Raum und Zeit sein müsse. Doch muß er „an allen Orten wesentlich und gegenwärtig sein, auch in dem geringsten Baumblatt“. „Darum muß er ja in einer jeglichen Kreatur in ihrem Allerinnersten, Auswendigsten, um und um, durch und durch, unten und oben, vorn und hinten selbst da sein, daß nichts Gegenwärtigeres noch Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen, denn Gott selbst mit seiner Gewalt.“ Er führt die majestätischen Bibelworte an: „Bin ich nicht ein Gott, der nahe ist, und nicht ein Gott, der ferne ist? Erfülle ich nicht Himmel und Erde?“ Er macht klar, daß Gott unbeweglich und unveränderlich ist, daß er nicht hin und her fahre wie die Kreatur, daß er deshalb an allen Orten bereits da ist, also auch im Brot und Wein, und daß es sich nur ums Offenbaren handelt. Das freilich ist nicht jedem gegeben. „Es ist ein Unterschied unter seiner Gegenwärtigkeit und deinem Greifen, er ist frei und ungebunden allenthalben, wo er ist, und muß nicht da stehen als ein Bube am Pranger.“ Um die penetratio corporum verständlich zu machen, daß ein Leib in einem anderen sein könne, gebraucht Luther das schöne Bild vom Eisen, das vom Feuer durchglüht wird; so durchglüht Gott Brot und Wein, wenn wir es glaubend empfangen.

Übereinstimmend mit der Auffassung von Christus, der im Himmel zur Rechten Gottes sitzt, fanden die Zwinglianer, man setze Gott herab, wenn man glaube, er werde mit den Zähnen zerbissen und vom Bauche verdaut. Sie blickten hochmütig auf Luther herab, der nicht imstande sei, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten. Wieder stellte Luther vor, daß Christi Fleisch nicht Rindfleisch, sondern Gottesfleisch, Geistfleisch sei. „Wird Christi Fleisch gegessen, so wird nichts denn Geist daraus. Denn es ist ein geistliches Fleisch und läßt sich nicht verwandeln, sondern verwandelt und gibt den Geist dem, der es ißt.“ Für Luther, der wußte, daß Gott lauter Aktivität und Produktivität ist, war die Vorstellung, daß er mit den Zähnen könnte zerbissen werden, etwas Ungeheuerliches. Eine noch größere Probe von naiv-weltlicher Gesinnung gab Ökolampad, indem er fragte, was Christi Leib im Abendmahl, falls er darin sein könnte, nütze sei? Es war nicht allzu große Leidenschaftlichkeit oder Stolz, wenn Luther auf solche Fragen harte Antworten gab, es war vielmehr überflüssige Güte, daß er sich auf einen aussichtslosen Kampf mit Gegnern einließ, die das Problem nicht einmal richtig stellen konnten, um das gestritten wurde.

Zwingli sagte, man müsse bei der alten rechten Theologie bleiben, wonach die beiden Naturen – nämlich die göttliche und menschliche in Christus – nicht vermischt werden dürfen. Demnach glaubte Zwingli gar nicht, daß Christus Gottmensch war, daß Gott Fleisch geworden ist, und war gar kein Christ, sondern ein Schüler des Aristoteles, der wohl an einen Gott glaubte, aber an einen Gott außerhalb der Menschheit.

Zwingli war, was Luther nicht war, aber nach weitverbreiteter Meinung sein soll, ein Bauer, besser gesagt, ein einfacher Weltmensch. Er war noch ungebrochen, es war noch keine Spaltung in seinem Inneren zwischen seinem Selbstbewußtsein und seinem Weltbewußtsein, zwischen Wollen und Können, und weil noch keine Spaltung da war, konnte auch noch keine Religion, kein Band, da sein. Ich las neulich einen schönen Vers von Dehmel auf dem Kalender:

Immer wieder, wenn wir sinnen,
Stürzt die Welt in wilde Stücke,
Immer wieder, still von innen,
Fügen wir die schöne Brücke.

Zwingli war seine äußere Welt noch nicht in Stücke geschlagen, und so war auch noch kein Anlaß gewesen, die schöne Brücke des Glaubens über die Kluft zu werfen. Blindlings auf seine eigene Kraft vertrauend und voller Grundsätze, war er moralisch und hielt seine Moral für die einzig mögliche, wahre Religion. Er war Gegner der katholischen Kirche als gegen die Maske der Religion und Gegner der lutherischen Lehre als gegen das Wesen der Religion; die Katholiken hielt er für ganze Heuchler, Luther für einen halben, und auf beide sah er von der Höhe seines gänzlichen Nichtverstehens herab. Für ihn gab es keinen Gott, der im Blatt, im Tier, im Wein und Brot ist, sondern nur einen in Gedanken von der Summe aller Erscheinungen abstrahierten Gesamtbegriff. Als Paulus den Athenern das Wesen Gottes erklären wollte, erinnerte er sie daran, daß einer ihrer Dichter gesagt habe: Wir sind seines Geschlechts. Jene Spätgriechen konnten das verstehen; Zwingli stand noch auf einer früheren Stufe der Entwickelung, wo er Gott noch nicht erlebt hatte. Indessen scheint es fast, als habe er die ersten tragischen Schritte auf dem großen Wege noch getan. Er wird als ein frischer, freundlicher, tatkräftiger, zugreifender Mensch geschildert; so faßte auch Luther ihn auf; „aber doch so gar verdüstert und traurig danach geworden“. Da die Ereignisse ihm zeigten, daß er nicht alles konnte, was er wollte, begann seine Weltanschauung sich zu ändern. Ein Wort von ihm wenigstens ist sicherlich aus der Tiefe seines Herzens gebrochen: „Herr, nun heb den Wagen selbst“, der Anfang seines bekannten Gedichtes. Es ist der Aufschrei eines Menschen, der stets selbst gestrebt und gesorgt hat, ohne göttliche Kraft aufzunehmen, und der endlich zusammenbrechend erkennt, daß er über seine Kraft gelebt hat. Sein Wollen war noch großdeutsch, wenn ich diesen Ausdruck für jene Zeit gebrauchen darf; sein Können war schon schweizerisch beengt. Das Schicksal seines Volkes ist in dem seinigen vorgedeutet: daß sie ihre menschliche Kraft auf Kosten der göttlichen ausbildeten. Mehr und mehr vervollkommneten sie sich in ihrem Fürsichsein, in ihrer Persönlichkeit; die Kraft mußte in ihrem von einem größeren Ganzen abgesonderten Dasein schwinden. So wenig sich der Deutsche mit der eindrucksvollen, selbstbewußten Persönlichkeit, der Sittlichkeit und Selbstbeherrschung des Schweizers messen kann, so sehr steht die Schweiz an Ideenfülle, an schöpferischer Kraft Deutschland nach. Die großen schweizerischen Künstler haben deshalb ihre Kraft in einem Vaterlande ihrer Wahl betätigt; die Schweiz ist für die besten ihrer Söhne da, um, wenn die schöpferische Kraft versiegt, sich zur Ruhe zu setzen.

Luther hat sich aufs äußerste bemüht, Zwingli die Wahrheit zu erklären; aber da Luther von göttlichen, Zwingli von weltlichen Dingen redete, konnte Luther wohl Zwinglis Irrtum begreifen, Zwingli aber nicht Luthers höheren Standpunkt. Sie standen auf verschiedenen Entwickelungsstufen. Übrigens hat Luther Zwingli so weit beeinflußt, vielleicht im Verein mit seiner Persönlichkeit, daß er zugab, das Abendmahl sei nicht nur eine Gedächtnisfeier, sondern Christi Leib sei wesentlich im Abendmahl anwesend, nur formulierte er, der Leib sei nicht Brot und Wein, sondern werde dabei genommen. Später erneuerte sich der Streit, indem die Anhänger des verstorbenen Zwingli sagten, der Leib sei nur für den Gläubigen, nicht für den Ungläubigen da. Hier widerstrebte Luther, weil so leicht das ohnehin naheliegende Mißverständnis entstehen konnte, als hänge der Geist vom Glauben ab, als mache ihn der Glaube, während doch umgekehrt Gott den Glauben gibt; indessen einigte man sich durch Luthers Nachgiebigkeit auf eine beiden Teilen genügende Formel, obwohl der prophetische Mann wohl erkannte, daß die anderen im Grunde nur um Begriffe, nicht um ein Wesentliches stritten.

Es ist nach meiner Ansicht einer der größten Augenblicke in der Geschichte der Entwickelung des menschlichen Geistes, als Luther in Marburg vor dem Tisch saß, auf den er mit Kreide die Worte geschrieben hatte: Dies ist; allein mit Gott gegen die Häupter der Welt und der sichtbaren Kirche. Einer seiner Biographen meint, er habe die umstrittene Formel nur aus Langeweile hingemalt. O Himmel! Seine schöne kindliche Sinnlichkeit hatte das Bedürfnis, das Wort, das ihn leitete und von dem man ihn losreißen wollte, wie einen Stern mit Augen vor sich zu sehen; es war so vieles, was ihm das Festhalten erschwerte. Die politische Rücksicht auf den hessischen Landgrafen, den für sich zu gewinnen nicht unwichtig war, kam doch erst in zweiter Linie; aber sein liebevolles Herz drängte zu einer Verständigung mit Zwingli, sowie er bei persönlicher Begegnung seine Aufrichtigkeit und Tüchtigkeit fühlte. Der furchtbare Kampf, den es ihn kostete, treu bei der Wahrheit zu stehen, machte ihn krank; ebensowohl allerdings sicherlich das unüberwindliche Nichtverstehen der Gegner. Es wäre anders gewesen, wenn es sich um etwas Nebensächliches gehandelt hätte; aber daß Männer, die sich Führer der Christen nannten, nicht ahnten, was den Kern des Christentums ausmacht, und dabei auf ihn, den Gläubigen und Wissenden, bald hochmütig herabsahen, bald mit liebevollem Vorwurf eindrangen, das muß unendlich schwer zu ertragen gewesen sein.

Ehrfurcht und Mitleid erregt der Mann, der den furchtbaren Riß, welcher durch die Welt und auch durch ihn ging, noch einmal heilend verbinden, sich und die Welt noch einmal ganz machen wollte!

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