XV

„In allen guten Künsten und Kreaturen findet und sieht man abgedruckt fein die heilige göttliche Dreifaltigkeit.“ Jedes Kunstwerk muß wie jeder lebendige Mensch die drei Wesensteile: Geist, Seele und Leib aufweisen, das gilt wenigstens für die nachchristliche Zeit; an den dreieinigen Gott glauben wir erst seit Christus. In der antiken Kunst wurde die Kraft unmittelbar Form, Gestalt, und zwar gilt das für die bildende Kunst sowohl wie für die Dichtung. In der nachchristlichen Kunst wird die Kraft Geist, und das kann nur mittelbar geschehen durch die Persönlichkeit. Sie hat Natur und Geist gespalten und muß sie wieder vereinigen; die Persönlichkeit prägt den Geist der Erscheinung ein, indem sie sie vergeistigt, macht sie sie persönlich. Die Auszeichnung des modernen Kunstwerks besteht darin, daß es in jedem Atom durchgeistigt, persönlich geworden ist. Mit unbefangener Fröhlichkeit stellte Luther fest, daß keines seiner Worte zu verkennen sei, daß man jedem unwidersprechlich anmerke: das ist der Luther. So gibt es auch Bilder und Pinselstriche, die vernehmlich ausstrahlen: das ist der Rubens, das ist der Rembrandt. Deshalb kommt es in der nachchristlichen Kunst nicht nur auf die Kraft an, die natürlich vorhanden sein muß, sondern ebensosehr auf die Persönlichkeit, die die Kraft der Erscheinung einprägt. Die Persönlichkeit muß von hervorstechender Eigenart, zugleich aber möglichst umfassend sein, und das ist sie, je mehr Kraft sie vertritt. Es ist die merkwürdigste Sache von der Welt, daß die heutigen Künstler sich plagen, nicht um sich möglichst vielen verständlich, sondern um sich möglichst vielen unverständlich zu machen. Ein Verleger zeigte neulich ein Buch an, das seiner Art nach nicht für eine allgemeine Verbreitung bestimmt sei, dessen Verbreitung auch vom Verfasser nicht gewünscht werde. Gut, aber warum behält er es dann nicht ganz für sich oder liest es vielleicht einigen Freunden vor? Was sein sollte, ist eine eigenartige Person, die sich für viele ausdrückt; dagegen leben die Künstler, die sich bemühen, für wenige verständlich zu sein, in der Hoffnung, dadurch eine Persönlichkeit zu werden. Die Absonderung geschieht von selbst, das heißt: die Natur verdichtet Individuen durch Auslese zu Personen; der Wille sollte nur auf Erweiterung gerichtet sein. Weil keine Persönlichkeit mehr den Wunsch hat, Millionen zu umschlingen, kommt auch kein millionenfaches Echo; allerdings, wäre Kraft vorhanden, würde auch der Wunsch nicht fehlen.

Luther lobte einen jüngeren Kollegen wegen seiner Gelehrsamkeit, Bildung und was weiß ich sonst für Vorzüge; predigen aber, setzte er hinzu, könne er, Luther, doch besser. Der jüngere Verehrer beeilte sich zu erwidern, daß dies selbstverständlich sei, worauf Luther entgegnete, er meine es vielleicht in einem anderen Sinne als jener; er predige nämlich deshalb besser, weil er verständlich für das Volk spreche. Mehrmals hat er betont, daß er bei öffentlichen Reden die Anwesenheit seiner gelehrten Freunde und Kollegen sich aus dem Sinne schlage, um nur an die Ungelehrten und Allereinfältigsten zu denken. An Dürer rühmte er die Einfachheit und Schlichtheit seiner Bilder. Für Klarheit muß man selbst sorgen, Tiefe und Eigenart verleiht die Natur durch die Persönlichkeit.

Unpersönliche Werke sind der Jugend eines Künstlers angemessen; Künstler, die früh schon sehr persönlich, sehr beseelt oder vergeistigt wirken, sind verdächtig; sie werden früh ganz weltlich oder welk und hohl werden. Künstler, die auch in reiferen Jahren unpersönlich bleiben, verdecken unwillkürlich diesen Mangel hinter der Antike entlehnten Formen; da sie aber die Antike niemals erreichen, nur sie abschwächen können, sind sie eigentlich überflüssig.

Was Luther vom Dichter unterscheidet, ist nur das, daß er niemals absichtlich gestaltet, es kam ihm nur auf Wahrheit, nie auf Schönheit an. Zwar sind seine Werke überreich an Schönheit, aber nur an zufälliger; er schüttet Edelsteine, Gold und Perlen aus unerschöpflichem Füllhorn, aber ein Geschmeide macht er nicht daraus. Luther war ganz und gar christlich insofern, als er Dichter, nicht Künstler, daß er Genie war; so wie umgekehrt manche Künstler nur Künstler, nicht auch Dichter und darum keine Genies sind. Das Gestalten macht den Künstler; im allereigentlichsten Sinn gibt es deshalb nach Christus überhaupt keine Kunst mehr; denn in allem, was Form, Gestalt betrifft, sind die nachchristlichen Menschen Schüler der Alten, und zwar Schüler, die ihr Vorbild nicht erreichen. Die Beseelung der Form durch die Persönlichkeit ist unser höchstes Ziel und das, was wir an Luther bewundern. Er war eine Persönlichkeit aus lebendiger Kraft, die Spitze einer breiten Pyramide, die Krone eines festwurzelnden Stammes. Daher kommt es, daß man ihn oft bäurisch, derb, primitiv genannt hat; wir kennen ja kaum andere Persönlichkeiten, als die auf Kosten verbrauchter Kraft entstanden sind, schmarotzende Gehirne, die an vampirartig ausgesogenen Bäumen kleben. Geist zu sein und doch Chaos in sich zu haben, das ist eben das Geheimnis des Genies.

„Auch bei der bildenden Kunst ist das Letzte, das Entscheidende in aller Wirkung der Rhythmus.“ Diesen Ausspruch von Heinrich Wölfflin führe ich dir an als einen Beweis von Übereinstimmung mit meiner Ansicht, daß Kunst und Poesie aus dem Herzen kommen. Rhythmus ist nämlich nichts anderes als Herzschlag, und der mangelnde oder vorhandene Herzschlag ist ein Prüfstein, um Machwerk und Kunstwerk zu unterscheiden.

Indessen das Herz des nachchristlichen Menschen, das nicht mehr natürlicherweise mit dem Fleisch eins ist, das durch das Gehirn vereinsamte Herz, hat einen allzu regelmäßigen, langweiligen, eintönigen Rhythmus; es muß überschüssige Kraft haben, um die Verbindung mit der Sinnlichkeit wiederherzustellen, dann wird sein Rhythmus beseelt, persönlich, kurz: lebendig. Leider ist aber gerade das Herz die schwache Seite des modernen Menschen.

Du kennst gewiß das Gedicht von Schiller „Die Teilung der Erde“ und den Vers: Willst du in meinem Himmel mit mir leben, sooft du kommst, er soll dir offen sein. Derselbe Gedanke ist in dem Schriftwort ausgesprochen: „Seid willkommen, ihr Gesegneten, in den Wohnungen meines Vaters, die euch von Anfang bereitet sind.“ Wie matt, von der Blässe des Gedankens angekränkelt, sind Schillers Worte gegen diese, in denen das Herz noch klopft, das Blut noch glüht; sie verraten durch den Rhythmus ihren Ursprung aus einem vollen, tätigen Herzen. Alles, was aus Fleisch und Blut gewachsen ist, hat lebendigen Rhythmus, das Machwerk ist schal. Das Gehirn ist der Schatten des Herzens, und Schatten ist alles, was das durch den Gedanken vom Körper abgesonderte Herz hervorbringt.

Ich erwähnte gelegentlich, daß man den Entwickelungsgang des inneren Lebens als eine fortdauernde Verdichtung auffassen muß. Diesem Gesetz unterliegen auch alle Künste, als Äußerungen des menschlichen Geistes, die die Stufen seiner Entwickelung bezeichnen. Die Verdichtung der Kraft ist am geringsten auf dem Gebiete der Baukunst und am stärksten auf dem der Dichtkunst, wo der Geist sich seiner und Gottes bewußt wird. Von dieser Verdichtung zum Bewußtsein hat die Dichtkunst den Namen. Solange die Kraft im Herzen ist, nennen wir sie Gefühl; indem sie auf die Lippe tritt, wird sie Wort, und ist das Wort von der Lippe abgelöst, so fristet es ein selbständiges Dasein weiter als Gedanke.

Verdichtung entsteht durch Druck. Die Verdichtung des unbewußten Geistes oder Gefühls zum bewußten Geist geschieht durch verstärkten Blutdruck infolge außergewöhnlich verstärkter Herztätigkeit. Dies erklärt die von Lombroso beobachtete Tatsache, daß alle produktiven Menschen ein gesteigertes Wärmebedürfnis haben, und daß fast alle genialen Geisteswerke in der warmen Jahreszeit entstanden sind. Jeder hat wohl schon an sich selbst erfahren, daß sich ihm im Gehen und namentlich im Steigen die Gefühle leichter zu Worten verdichten, das Unbewußte leichter bewußt wird.

Die Alten glaubten, wenn das Lebende den Styx überschritten hätte, würde es zum Schatten. Der Christ sät den Samen des Wortes vertrauend in das Erdreich des Gehirns, weil er weiß, daß es das Grab sprengen wird, wenn die Posaune des Herzens tönt, um mit verklärtem Leibe in das ewige Licht zu schweben. Mit der Gegen- und Mitwirkung des Gehirns beginnt die persönliche Kunst, die im Gegensatz zur Volkskunst an den großen Namen gebunden ist. Von Person sprechen wir, wenn das Herz so stark geworden ist, daß es Sinnlichkeit und Geist erst trennen und dann zu einer lebendigen Einheit zusammenbinden kann. Das ist der geheimnisvolle Augenblick des heiligen Abendmahls, den die Katholiken als Verwandlung auffassen, wir als die Penetratio corporum, die Durchdringung des Verweslichen und Unverweslichen, das Einswerden von Sinnlichkeit und Geist im Selbstbewußtsein. Gottfried Keller bestimmte das Wesen der Schönheit als die in der Fülle vorgetragene Wahrheit; es ist ein anderer Ausdruck für das Fleischwerden des Göttlichen, und auf dasselbe kommen fast alle Erklärungen heraus, die Künstler gegeben haben. Die notwendige Voraussetzung dazu ist die Person; nur in der Person kann die göttliche Kraft Fleisch werden. Wieviel Sinnlichkeit ein Herz binden und im Gehirn befestigen kann, das ist für die nachchristliche Zeit ausschlaggebend, der Umweg über das Gehirn ist nicht auszuschalten. Ohne diesen bleibt die Kunst bei uns im Kindlichen und Volksmäßigen stecken, wie sie ohne das sinnliche Herz akademisch und schablonenhaft wird. Ehe wir das Wort hatten, konnte jede Äußerung des Herzens unmittelbar Gestalt werden; jetzt muß es zuvor dem ganzen Totenvolke der Gedanken Blut zu trinken geben. Das stärkere Herz, das das bewußte Geistesleben erfordert, macht die Persönlichkeit; Israel sein, ebensosehr Werkzeug Gottes wie Herr Gottes. Eitelkeit und Empfindlichkeit führt Luther als Kennzeichen des nichtgöttlichen Künstlers an; weil seine Person allein Urheber seines Werks ist, fühlt er durch jede Kritik seines Werks sich selbst angegriffen. Luther hatte die Spitze, wo man beides, Werkzeug und Herr ist, annähernd erreicht; wirklich ist persönliche Empfindlichkeit und persönlicher Haß, wie leidenschaftlich er auch haßte, kaum an ihm zu bemerken. In seinen Werken fehlt dem stürmischen Hauche der Eingebung und der sinnlichen Fülle nie die persönliche Bändigung und Beseelung.

Eine merkwürdige Erscheinung der neuen Zeit sind Dichter, die, wie Fontane und C. F. Meyer, erst anfangen zu schaffen, wenn der Mensch sonst aufzuhören pflegt, so um das fünfzigste Jahr herum. Das kommt, wenn das Herz nicht stark genug ist, Gehirn und Sinnlichkeit zu binden, so daß das Ich, nach dem Ausdruck der Bibel, sich erkennt, gleichwie es erkannt ist. Durch die Beobachtung und Erfahrung eines Lebens fand Fontane den Anschluß an das Allgemeine, den er unmittelbar nicht hatte, die Beobachtung ersetzte ihm die Wahrheit, die dem großen Dichter das Herz eingibt. Aus seinen Werken spricht ein alter Mann, ja, eigentlich eine feine, alte Dame, die aus stillem Hafen auf das Leben zurückblickt, nicht ein Kämpfer, der es lebt und bändigt. Da weht nirgends ein elementarischer Hauch, vor dem das Tote zu Asche zerfiele, nirgends bebt die Erde unter den Füßen; man wird durch keine Geschmacklosigkeit gestört, aber auch von keiner tödlichen Wahrheit durchbohrt, durch kein Wunder geheilt. Bei C. F. Meyer liegt das Verhältnis anders; er hat sich nicht in die Welt hineingelebt wie Fontane, seine Prosawerke sind äußerlich geblieben; dafür hat sein Herz in Augenblicken der Gnade die Gedichte ganz und gar durchbluten, mit Worten gestalten und beseelen können.

Daß der große Haufe irgendwelche weltlichen Machwerke echter Kunst vorzieht, ist nicht verwunderlich; merkwürdig und traurig ist es nur, daß auch unsere edleren Geister das Fehlen des Herzschlags nicht vermissen, im Gegenteil sich nur jenseit des goldenen Stromes wohl fühlen. Die schwachen Herzen schrecken furchtsam vor der Erschütterung zurück, die ihre Gefäße zerreißen könnte; andererseits hat das plumpe Pathos, das den Herzschlag nachzuahmen suchte, gerade die Menschen von Wahrheit und Geschmack argwöhnisch gemacht. Man glaubt nicht mehr an Großherzigkeit, und es gehört die Schamlosigkeit des Komödianten oder der Mut eben der Großherzigkeit dazu. Ist aber einmal sinnliches Herz da, so fehlt gewiß die Persönlichkeit, die den Stoff vergeistigt; und das Fehlen der Persönlichkeit wird von denen nicht vermißt, die für das sinnliche Herz empfänglich sind.

Man sollte meinen, in einer Zeit überwiegenden Verstandes müßte es wenigstens gute Kritiker geben; aber der Kritiker soll ja Menschenwerk von Gotteswerk unterscheiden; und wie soll er das können, wenn er nicht an Gott glaubt? Der heutige Kritiker ist um so mehr befriedigt, je klarer ihm alles ist, was er sieht oder hört, je fester er überzeugt ist, daß er das alles gerade so gemacht hätte. Daß erst jenseit seines Begreifens das Reich der Kunst anfängt, scheint er nicht zu ahnen. Lies aufs Geratewohl einen Vers aus der Bibel. „Das Verderben ist dein, Israel, von mir allein kommt dein Heil.“ Du verstehst das nicht gleich, aber du unterwirfst dich sofort; denn das Herz versteht unmittelbar. Luther sagt einmal ungefähr so: Da spricht kein Kaiser oder Fürst, sondern die göttliche Majestät, vor der alle Kreaturen sich niederwerfen und ja sagen. So ist es mit der Kunst: zu allererst muß das Herz sich hingeben und ja sagen, dann mag der kritisierende Verstand bis an die Grenze des Allerheiligsten nachgehen.

„Nachahmen und tun, was man von einem andern sieht, ohne Beruf, ist ein menschlich und teuflisch Ding“, heißt es in den Tischreden, „darum ist es stracks unnütz und schädlich. Also ahmen nach die Ketzer Gottes Wort, führen dasselbe traun auch auf der Zunge; die Heuchler den Werken des Glaubens, die tun sie auch äußerlich; die Abgöttischen den Zeremonien, die halten sie auch; die Dummkühnen und Wagehälse folgen dem Kriege, wollen auch Kriegsleute sein; die Narren und Klüglinge dem Regiment, wollen auch regieren; die Hümpeler und Störer den Handwerken, wollen auch kunstreiche Meister sein; die Eselsköpfe ahmen nach guten Künsten, wollen traun auch gelehrt sein, wie Mäusedreck sich unter den Pfeffer menget.“

„Darum, wenn Gott sein Wort, Werk und Künste gibt, so tut er nichts, denn daß er Affen reizet und macht, und der große Haufe folgt den Affen nach. Gott aber behält das übrige von dem ersten Contrafeit. Also ist die Welt von Anfang gewesen.“

Indessen ist das nicht so zu verstehen, als müsse nicht jeder lernen und insofern auch nachahmen. Nachahmen muß jeder, aber nur die Antike und die Natur, also die unpersönliche Form. Wer das Persönliche nachahmt, stiehlt und lügt. Nicht wegen der Moral ist das zu tadeln, da dieser Standpunkt in der Kunst wegfällt, sondern weil man nichts damit erreicht. Das Persönliche ist unnachahmlich, es ist der geheimnisvolle Übergangspunkt des Geistes zum Fleisch, die unsichtbare Einheit, die einen jeden sprechen läßt: dies bin ich, und die noch heute, nach Jahrhunderten, aus jedem Werke Luthers ruft: dies ist der Luther.

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