XIX

Vor Jahren lernte ich ein paar junge Japaner kennen, die sich zu Studienzwecken in Europa aufhielten. Sie führten ein sehr ordentliches und ehrbares Leben, sie tranken nichts Alkoholisches, schweiften nach keiner Richtung aus und hielten sich im Grunde für viel kultivierter als uns Europäer. Sie mißbilligten, daß man sich bei uns küsse, überhaupt im Ausdruck der Gefühle gehen lasse; einer erzählte, wenn er nach jahrelanger Abwesenheit heimkäme, würde er die Seinigen, die ihn am Landungsplatze des Schiffes abholten, mit einer Verbeugung, höchstens mit einem Händedruck begrüßen. Selbstbeherrschung werde bei ihnen vom Menschen verlangt.

Mir hat das einen befremdenden und unauslöschlichen Eindruck gemacht, den ich damals nicht weiter auslegte und verfolgte; ich fand, daß die einwandfreien Japaner eher künstlichen Affen als Menschen glichen, von schönen, liebenswerten Menschen ganz zu schweigen. Es kam mir komisch vor, daß sie sich für Menschen hielten und mit Selbstbeherrschung protzten, obwohl gar nichts zu beherrschen da war, höchstens daß irgendein Rädchen hätte kaputt gehen können. Als Menschen genommen flößten sie mir Ekel ein.

Wie anders die Griechen, die wie Löwen brüllten, wenn sie verwundet waren, die wie Kinder weinten, wenn ihnen etwas nicht nach Wunsch ging, und sich wie Straßenjungen beschimpften, wenn sie wütend aufeinander waren. Luther, den man so oft zur Renaissance in Gegensatz stellt, war vielleicht unter seinen deutschen Zeitgenossen am meisten Grieche. Was hatte der trockene, klügelnde Erasmus mit Griechenland zu tun, und was die meisten der fleißigen, strebsamen Humanisten? Wenn Luther einen großen Schmerz erfuhr, wie zum Beispiel durch den Tod seines Vaters, zog er sich zurück und betete, das heißt, er raste sich aus. In seinen Gebeten sprach er mit Gott, hielt ihm sein Unrecht vor, schrie ihm seinen Zorn ins Gesicht und machte dann seinen Frieden. Seine Heftigkeit im Verkehr mit seinen Gegnern ist bekannt, auch seine Freunde machten ihm einen Vorwurf daraus; er gab ihnen recht, blieb aber dabei. Sicherlich hat er nicht gedacht, daß er seine Naturkraft schonen wolle, sondern sie war da und behauptete sich siegreich allem Besserwissen anderer und allen etwaigen guten Vorsätzen, die er selbst faßte, zum Trotz; es gehörte zu seinem Genie. „Die Stoiker, die Stockheiligen, die nicht weinen, sich der Natur gar nichts annehmen, es geschehe, was da wolle“, verurteilte er; denn es sei im Grunde „eine gemachte Tugend und erdichtete Stärke, die Gott nicht geschaffen hat, ihm auch gar nichts gefällt. Denn Gott hat den Menschen nicht also geschaffen, daß er Stein oder Holz sein sollte.“

Luthers Ideal konnte in seiner Zeit nicht verstanden werden, weil es eine Zeit versiegender Natur war. Er und einige seiner Zeitgenossen, zum Beispiel Dürer, waren noch durchdrungen von ihrer Heiligkeit und hielten sie fest; dann fing man an sie zu verachten, ja, man kannte sie kaum noch. Der vornehme Mensch bildete sich aus, der seinen Stolz darein setzte, nicht Tier mehr, nur noch Mensch sein zu wollen, und ihm folgte der moralische und tugendhafte Mensch, der sich nur noch im Gehege der bürgerlichen Ordnung bewegen konnte. Immer fader und flacher wird alles, was getan und gemacht wird; man wundert sich zuweilen, wie die Menschheit ohne Hunger und Liebe sich erhielt und fortpflanzte. Es lockert sich wohl alles wieder in der Weimarischen Epoche, aber ich empfinde doch immer, als habe auf dem Boden der Bildung, Wohlanständigkeit und Kleinbürgerlichkeit das ungezähmte Element nie losbrechen können.

Das deutsche Volk ist im allgemeinen durchaus kein vornehmes Volk, wie zum Beispiel das spanische, und zwar aus einem sehr erfreulichen Grunde, weil das Chaotische und Elementare, das der Form sich Widersetzende, in den Deutschen noch stark ist. Wo noch viel zu formen ist, hat Gott noch viel zu tun, es ist noch viel Zukunft und Leben da; um den Preis darf ein Volk auf die Zier der Vornehmheit wohl verzichten. Indessen ist etwas anderes da, was dieser instinktiven Kraft zu widersprechen und sie zu bedrohen scheint, nämlich das System.

Vergleicht man etwa den Dreißigjährigen Krieg mit dem heutigen, so springt jedem ein wesentlicher Unterschied in die Augen. Dort, im 17. Jahrhundert, eine lächerliche Umständlichkeit, Ahnungslosigkeit, Ziellosigkeit, dabei eine unübersehbare Fülle der Erscheinung. Etwas Überschwengliches, zugleich Entsetzliches und Schönes stellt sich unserem inneren Auge vor, wenn wir daran denken. Dagegen jetzt eine Zielsicherheit, ein schnelles und sicheres Funktionieren, das jeden in Erstaunen setzt; das System bewährt sich über alle Erwartung. Es geschehen bekanntlich auch bei uns Greuel, und man vergleicht sogar hier und da mit dem Dreißigjährigen Kriege; aber in Wahrheit besteht vielleicht nur auf russischer Seite eine wirkliche Ähnlichkeit. Ich las die Schilderung eines Pfarrers in Ostpreußen, wie ein russischer hoher Offizier die ganze Einwohnerschaft eines Dorfes töten zu lassen drohte, sich an ihrer Angst weidete und besonders den Geistlichen zur Zielscheibe seiner Grausamkeit machte; wie dann aber plötzlich das Herz dieses Teufels sich wendete, und er mit einer wahrhaft großmütigen Wallung alle begnadigte. Das war ganz und gar ein Auftritt aus dem Dreißigjährigen Kriege.

Diese Unberechenbarkeit deutet auf Gott; das System arbeitet folgerichtig, von Gott heißt es spirat ubi vult. Luther sagte einmal, als eine Stadt mit irgendwelchen derzeitig neuen Kanonen beschossen wurde, daß diese Maschinen wahrhaft eine Erfindung des Teufels zu nennen wären; denn dadurch würde die Tugend, durch die auch ein Kriegsmann sich hervortun könne, die persönliche Tapferkeit, ihm genommen. Du mußt nicht denken, ich wolle die Tapferkeit und Opferwilligkeit unserer Soldaten herabsetzen, zweifelsohne sind sie im Gegenteil bedeutend selbstloser als die Soldaten des 16. und 17. Jahrhunderts, denen es in allen Schichten hauptsächlich um Beute zu tun war; aber das ist nicht zu leugnen, daß der Krieg fortwährend mehr systematisiert und mechanisiert wird, das heißt, daß der Ausgang weniger von lebendiger persönlicher Kraft abhängt als davon, daß jeder einzelne an seinem Orte pünktlich die ihm vorgeschriebene Pflicht tut. Wenn jeder Arbeiter im richtigen Augenblicke sein kleines Rädchen dreht oder auf sein kleines Knöpfchen drückt, so geht die Maschine und arbeitet mit soundsoviel Pferdekräften. Im Dreißigjährigen Kriege sprachen die größten Feldherren immer von der launischen Fortuna und dem Umschwunge des Glücksrades; es lag alles, wie in den Kriegen des Alten Testamentes, weniger in der Hand der Menschen als in der Hand Gottes. Es ist selbstverständlich, daß die Welt dabei gewonnen hat; das Reich Gottes hat dabei verloren.

Ebenso verhält es sich mit der heutigen Wohltätigkeit. Früher fanden die von den Stärkeren zertretenen Schwachen Zuflucht bei der erbarmenden Liebe einzelner, auch konnte der Unterdrücker selbst sich plötzlich in einen Großmütigen verwandeln; kurz, über dem Armen waltete lebendige Kraft und darum unendliche Hoffnung beim Elend. Der wohltätige Betrieb ersetzt nicht nur die erbarmende Liebe des einzelnen, er merzt sie sogar aus. Man muß den Bettler von der Tür weisen und ihn mit Suppenkarten erquicken, etwaiges Mitleid darf sich nur bessernd äußern. Unter Ausschaltung des einzelnen übernimmt es das System, die Almosen gerecht zu verteilen, gute Lehren beizufügen, für richtige Verwendung des Gegebenen zu sorgen. Der Empfänger soll um keinen Preis durch die Gabe beglückt werden, sondern soll sie so anwenden, daß die allgemeine Ordnung dadurch gehoben wird. Da die Privatpersonen nach Maß ihres Besitzes zur Erhaltung der Wohltätigkeitsmaschine beigesteuert haben, lassen sie die Menschenliebe nachher brachliegen; die an der Maschine Arbeitenden sind im besten Falle wohlwollende Geschäftsleute. Daß unter den Privatpersonen wie beim Betriebspersonal auch solche sind, die von Liebe für die Leidenden bewogen werden, ist selbstverständlich; im allgemeinen kommt auch auf diesem Gebiete das System der Welt zugute und engt das Reich Gottes ein. Dies wurde natürlich auch schon bemerkt, und die merkwürdigsten Vorschläge wurden gemacht, um eine Änderung herbeizuführen. Einmal las ich, es sollte in jedem Herrschaftshause unter dem Dache eine arme Familie einquartiert werden, welche die betreffenden Herrschaften in Obhut nehmen sollten; so dachte man das System durch ein besonders feines System aufzuheben.

Das System ist das, was am Preußentum gehaßt und gefürchtet wird. Die Abneigung dagegen ist instinktiv und unausrottbar und läßt sich nicht dadurch widerlegen, daß das System es gut meint, korrekt und löblich ist und sehr viel leistet, natürlich in der Welt. Jedes organische Wesen, je lebendiger es ist, wird abgestoßen durch die Kennzeichen des Systems: die schnurgerade Linie, die Starrheit und Übersehbarkeit; denn alles Lebendige, wie überzeugend es auch dasteht und atmet, ist ein Geheimnis. Nun hat zwar seit dem siebzehnten Jahrhundert in ganz Europa das System Triumphe gefeiert durch den Jesuitismus, den Militarismus und den Sozialismus, nirgends aber so wie in Deutschland. Daß das gerade in diesem kindlichen, phantasievollen Volke möglich war, ist merkwürdig; ich erkläre es mir folgendermaßen.

Wie ich dir schon sagte, halte ich die Gabe des Organisierens für das Genie der politischen oder weltlichen Völker. Sie organisieren die Gesellschaft, wie Frauen, Kinder und Genies ihre Taten und Werke. Herrische Menschen pflegen mit einer Leidenschaftlichkeit, wie von einem inneren Sturm getrieben, zu organisieren, so wie ein Künstler sich auf sein Werk stürzt; ist die Einrichtung fertig, so ergreifen sie eine andere. Dieser Bearbeitung, diesem Druck setzt ein einigermaßen selbstbewußtes Volk einen Gegendruck entgegen, der der Organisation ebenso zugute kommt, wie dem Kunstwerk eine Hemmung. Bei dem deutschen Volke nun, dieser sehr passiven, zum Gehorsam neigenden Masse, ist dieser Widerstand gering; der starken Persönlichkeiten, die früher zwischen dem Volke und den Herrschenden standen, sind immer weniger geworden, und so gelingt es dem knetenden Willen, den unförmigen Teig einförmig zu machen. Ein geniales Volk in seiner Blütezeit widersteht der Organisierung ganz und gar: es entzückt durch die Fülle seiner üppig wachsenden Formen, während wir an England die logische Entwickelung seiner Staatsform bewundern. Hier sind alle Vorzüge der Welt zu finden: Macht und Reichtum, gutes Funktionieren der Maschine, Freiheit und Gerechtigkeit, Gesundheit und Schönheit; dort ist Leben, Geist, Genie, Liebe bei äußeren Verhältnissen, die einem Weltmenschen als chaotische Unordnung erscheinen müssen. Das Organisieren möchte ich als eine natürliche Gabe betrachten, aus der Natur politischer Völker hervorgehend; das System verdeckt den Mangel an weltlicher Begabung. Wer nicht organisieren kann, verfällt auf das Mechanisieren.

Man hat Luther nachgesagt, daß er kein Organisator gewesen sei, aber das ist ganz unrichtig. Er hatte genug von einem Herrscher in sich, um organisieren zu können; aber er war zugleich ein Genie und haßte alles Mechanische, so wollte er keine Einrichtung schaffen, die nicht nach allen Richtungen frei beweglich und entwickelungsfähig wäre, damit nicht aus dem Organismus ein Mechanismus würde.

Der Organisator hemmt die Menschen in dem, worin er selbst sein höchstes Glück findet: im Handeln. Er will das Handeln an sich allein reißen, für alle handeln, wie die Kirche für alle denken wollte. Christus hat nie organisiert, nur Leben geweckt, wohin er kam; ich möchte mit Absicht den entwerteten Ausdruck anwenden: er lebte und ließ leben. Während Zwingli und Calvin vorzugsweise Organisatoren, also Weltmenschen waren, organisierte Luther nur der Welt zuliebe, nicht ohne das Gefühl, sich dadurch tragisch zu verstricken, obwohl er das Erdenkliche tat, um der Erstarrung vorzubeugen.

Sein Wirken auf kirchlichem, politischem, sozialem und juristischem Gebiete ist in dieser Hinsicht staunenswert weise, oder sogar durch und durch genial; er entschied immer nach dem einzelnen Fall, immer unter Miteinrechnung der jeweiligen Möglichkeiten, immer mit ebensoviel Freiheit und Liebe wie Gerechtigkeit. Beim Festsetzen von Glaubensartikeln wie bei der Einführung von Zeremonien steckte er immer die Grenzen weit und machte sie beweglich und vermied jede Willkür. Er organisierte wie die Natur, das heißt wie Gott schafft. Traf er irgendeine Anordnung, so fügte er nachdrücklich bei, daß es durchaus nicht überall und nicht immer ebenso gehalten werden müsse. Am Schlusse seiner Deutschen Messe und Ordnung des Gottesdienstes sagt er: „Summa, dieser und aller Ordnung ist also zu gebrauchen, daß, wo ein Mißbrauch daraus wird, daß man sie flugs abtue und eine andere mache; gleichwie der König Ezechias die eherne Schlange, die doch Gott selbst befohlen hatte zu machen, darum zerbrach und abtat, daß die Kinder Israel derselbigen mißbrauchten. Denn die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen und nicht zu Nachteil des Glaubens. Wenn sie nun das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und ab und gelten nichts mehr; gleich als wenn eine gute Münze verfälscht, um des Mißbrauchs willen aufgehoben und geändert wird, oder als wenn die neuen Schuhe alt werden und drücken, nicht mehr getragen, sondern weggeworfen und andere gekauft werden. Ordnung ist ein äußerliches Ding; sie sei wie gut sie will, so kann sie in Mißbrauch geraten. Dann aber ists nicht mehr eine Ordnung, sondern eine Unordnung. Darum steht und gilt keine Ordnung von ihr selbst etwas, wie bisher die päpstlichen Ordnungen geachtet gewesen sind; sondern aller Ordnung Leben, Würde, Kraft und Tugend ist der rechte Brauch; sonst gilt sie und taugt sie gar nichts.“

Die Kirche, die Luther vorschwebte, war ein dreigliedriger Bau unter einer Kuppel, entsprechend den drei Haufen, in welche die Menschheit, ein Abbild der Heiligen Dreifaltigkeit, sich gliedert. Sie sollte einschließen einen Bau für den großen Haufen der Normalen, denen das Gesetz gepredigt werden muß; einen anderen Bau für die zwischen der Welt und dem Reiche Gottes Schwankenden, denen die Verheißung des Evangeliums offenbart wird, damit sie um der Herrlichkeit der Auserwählten willen den Flug in das Geistesland wagen; den dritten Bau für diese, die wahren Christen, die freiwillig mit den anderen in der Kirche anbeten, obwohl ihnen die ganze Welt heilig ist. Diese gigantisch gedachte Kathedrale blieb unvollendet, wie die Dome des Mittelalters, weil Luther keine wahren Christen fand. Welche Tragik des genialen Einsamen! In dieser Spitze sollten die Bauglieder der Kirche münden, diese wären das Herz gewesen, das sie mit stets frischem Blut versorgt und vor der Erstarrung bewahrt hätte. Ich weiß keine Tragödie, die mich mehr erschütterte als diese; der von Christus im Wesen gleich, als er seine Jünger auf dem Ölberge schlafend fand.

Es scheint eine Binsenweisheit zu sein, daß die Menschen die Einrichtungen machen, und zwar für sich; tatsächlich verschwinden aber bei uns die Menschen hinter den Einrichtungen, in die das Leben übergeht. „Es kann in der Welt nur gut werden durch die Guten“, das ist, glaube ich, ein Wort der Königin Luise. Luther sagte: „Darum ist dem Staate mehr dafür zu sorgen, daß gute und verständige Männer an der Spitze stehen, als daß Gesetze gegeben werden.“ Wenn die Wut nachläßt, Verordnungen, Pläne, Organisationen zu machen und Maschinen zu mästen, werden wir auch wieder mehr Persönlichkeiten haben, deren gerade wir bedürfen, weil wir im ganzen ein unpersönliches Volk sind.

Mit dem Verschwinden einzelner Organisationen freilich ist es nicht getan: der moderne Staat ist das System, das keine Persönlichkeit duldet; denn er ist ja die Maschine, die schwächer werdende Persönlichkeiten sich zum Ersatz für ihre versiegende Kraft gemacht haben. Wie sie aus Mangel an Übung schwächer und schwächer wurden, so könnte die Übung sie auch wieder kräftiger machen. Das mittelalterliche Feudalsystem, das System der persönlichen Beziehungen, der Selbstverwaltung kleiner Gruppen, die sich schließlich zu größeren zusammengliedern, war der Ausfluß persönlicher Kraft und könnte auch wieder zur Schule persönlicher Kraft werden. Handeln ist die unmittelbare persönliche Wirkung von Mensch auf Mensch, und nur handelnd bildet sich das selbstbewußte, selbsttätige Ich, der Mann.

Unser Druck- und Zeitungswesen ist auch ein Symptom für das Aufhören des unmittelbaren gegenseitigen Aufeinanderwirkens. Man sagt seine Meinung in Büchern und Aufsätzen, man widerspricht ebenso, zu einer eigentlichen Berührung kommt es nicht, und schließlich bleibt jeder bei seinen taubstummen Ideen. Es gibt jetzt wohl auch etwas den alten öffentlichen Disputationen Ähnliches; aber im Grunde vermeidet man doch das Aufeinanderplatzen der Geister, weil jeder sich zu schwach zum Kampfe fühlt. Wir leben wie die fensterlosen Leibnizischen Monaden.

So wird es begreiflich, wie ein Fontane der Schriftsteller unserer Zeit werden konnte, gerade von Männern gern gelesen. Fontane hatte sich durch fünfzigjährige Beobachtung eine Ansicht von der Welt gewonnen und stellte sie dar, lauter Ausschnitte, die aber, da sie mit dem von den anderen auch Eingeheimsten übereinstimmten, als vollgültige Bilder angenommen und begrüßt wurden. Die Ideen des Herzens, die nur in der Bewegung des Kampfes, im Leben, Eigentum der Seele, bewußt werden, und durch welche die Ausschnitte aus der Außenseite der Welt erst zum Bilde ergänzt werden, fehlen ganz; aber gerade in dem verständigen Gerüste fühlt der moderne Mensch sich heimisch. Andere Dichter und Künstler geben nur ihre Traumbilder, und auch diese finden ihr Publikum, bei anderen stehen die Visionen hart neben den Ausschnitten; im tätigen Ich würden sie zum lebendigen Ganzen verschmelzen.

Es gab Zeiten, wo aus Jünglingen, die verantwortlich ins Leben hineingestellt wurden, zur rechten Zeit Männer wurden, denen eine religiöse, das heißt einheitliche Weltanschauung, die sie trug und hob, von selbst erwuchs. Die Jünglinge der neuen Zeit können nicht Männer werden, weil sie nicht verantwortlich, schaffend tätig sind, und es kommt nicht selten vor, daß das Ich um das fünfzigste Lebensjahr herum, zu einer Zeit, wo es sich allmählich auflösen sollte, sich noch gar nicht gebildet hat. Diese stehengebliebene Jugend ist nichts Erfreuliches, sondern etwas Tieftrauriges. Zuweilen kommt, wie bei Fontane, noch eine ohne Sonne reifgewordene Frucht zustande; aber im Grunde bleibt es doch zwischen Jünglingshaftem und Greisenhaftem unbeglückend schwanken. Vielen ergeht es wie jenem sagenhaften Mönch, der sich träumend im Walde verlor, und als er nach einem verpaßten Leben, das ihm zeitlos verlaufen war – denn Zeit und Raum entstehen nur dem selbstbewußten, selbsttätigen Ich, nicht dem Träumer – zu den Menschen zurückkam, von dem starken Anhauch des Lebens in Asche fiel.

Ich las neulich eine kleine Schrift, die mir sehr deutsch und sehr belustigend vorkam, mit dem Titel: Unabhängigkeit von der Natur. Der Titel bezieht sich auf die künstliche Erzeugung von Nährstoffen, Farbstoffen, Heilstoffen und anderen Naturprodukten, wodurch die Natur dem Menschen entbehrlich werde. Es wurde darin erzählt, wie schäbig der Purpur der Alten in der Tat gewesen sei, wenn man ihn mit unseren künstlich hergestellten Farben vergleiche, und es könnte vielleicht, wurde hinzugefügt, mit manchem Glanze der Antike so gehen, wenn er mittels ähnlicher exakter Methoden, wie sie die Chemie besitzt, neu vor uns erstehen könne. Und doch, dachte ich, hat die Glut dieses schäbigen Purpurs über Jahrhunderte weg die Phantasie der Menschen entzündet, daß sie ihre imperatorischen Träume, ihre herrlichsten Gesichte dahinein hüllten. Was hülfe uns die königlichste Farbe, wenn kein Held mehr da wäre, dessen Schultern sie trügen? „Jetzt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht!“ läßt Schiller seinen König Philipp flehen, der die Natur zu einem toten Räderwerk hat erstarren lassen. Der Menschen scheinen auch wir um so mehr zu bedürfen, je imposanter unsere naturfreien Purpurfarben werden. Ich weiß wohl, daß es nicht an solchen fehlt, die in der Welt, und solchen, die im Reiche des Geistes etwas bedeuten; aber es kommt auf solche an, die beide Welten zusammenfassen. Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon; aber man kann mit Gott den Mammon beherrschen. Marquis Posa war Gott zu treu, um Fürstendiener sein zu können; den klügsten und mächtigsten Fürsten seiner Zeit durch Gott zu regieren traute er sich zu, ja er liebte ihn, weil er das Elend seiner Gottesferne durchschaute. Solche Menschen brauchen wir, die zugleich Mittelpunkt und Peripherie, zugleich der Eine und das All, zugleich lichtbringendes Wort und Chaos sind.

Das Licht ist ein Strahl, und der Strahl ist ein Schwert; das Licht erschafft die Welt, indem es die Finsternis von ihr abtrennt. Aber alle Lichter steigen auf aus Nacht und gehen in Nacht unter; das Feuer in seiner Majestät vernichtet. Aus den Mythologien wissen wir, daß die Feuergötter zweischneidig sind, böse und gut, tötend und lebendigmachend zugleich. Hast du nicht Ursache mir zu zürnen, daß ich dich mit Worten um den schwarzen Wein der Nacht bringe? Was mich entschuldigt, ist nur, daß es Worte aus dem Herzen, und daß sie also doch vielleicht etwas alkoholisch waren.

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