XX

Du sagst, geliebter Freund, mit dem Augenblick, wo Luther klar geworden wäre, daß er seine Kirche nicht fertig bauen konnte, weil er die wahren Christen nicht fand, die ihre Spitze hätten bilden sollen, hätte er den Kampf gegen die katholische Kirche aufgeben müssen. Es hätte ihm bewußt werden müssen, daß es der Natur der unsichtbaren Kirche widerspreche, sichtbar zu werden, daß also jede sichtbare Kirche zur unsichtbaren Kirche in dem Gegensatz stehen müsse, den das Sichtbare zum Unsichtbaren bilde. Er hätte doch auch den Zeremoniendienst der katholischen Kirche billigen müssen, insofern er der Entwickelung der Moral entgegenstehe und die Natur schütze.

Darauf erwidere ich, daß das Sichtbare dem Unsichtbaren nicht nur entgegengesetzt, sondern auch mit ihm verbunden ist; Luther wollte eine solche Kirche gründen, die aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare hinüberführt, die sichtbar und zugleich unsichtbar ist, und ich glaube, daß er das getan hat, soweit es damals möglich war.

In der vorchristlichen Zeit vertrat der Hohepriester die Gemeinde vor Gott. Nur er konnte mit Gott verkehren, er hütete die heiligen Örter, vollzog die Opfer und betete für alle. Jede heilige, das heißt Gott zugeordnete Handlung war ein opus operatum, das heißt ein Werk, das durch seinen richtigen Vollzug wirksam war, also ein Zauber; derjenige, der das Werk vollziehen konnte, der Priester, war ein Zauberer. Die Möglichkeit des Zaubers, das heißt die Wirksamkeit richtig vollzogener Werke oder die Wirksamkeit bestimmter Örter, beruht auf dem, was wir jetzt Aberglauben nennen, was aber der Glaube der vorchristlichen Zeit war, auf dem Glauben an durch die Mittlerschaft des Priesters Gott geweihte Zeichen oder Werke. Mit dem Erscheinen Christi trat ein wesentlicher Unterschied ein, indem nun Christus die ganze Menschheit vertrat und dadurch das Priesteramt aufhob, wie das im Ebräerbriefe tiefsinnig und klar zugleich dargestellt ist.

Danach besteht der Unterschied des Neuen Bundes gegenüber dem alten darin, daß Gott nunmehr seine Gesetze in den Sinn und das Herz der Menschen schreiben will, und daß niemand mehr seinem Nächsten die Erkenntnis des Herrn lehren soll: „Denn sie sollen mich alle erkennen, von dem Kleinsten an bis zu den Größesten.“ Es soll auch nach Christus nicht mehr geopfert werden, da Christus einmal sein eigenes Blut geopfert und damit für ewige Zeit alle Opfer aufgehoben hat. Kurz: vor Christus suchte die Menschheit die Gottheit außer sich und glaubte an den Priester, von welchem sie voraussetzte, daß er die Gottheit kenne und den rechten Verkehr mit ihr wisse; Christus offenbarte, daß die Gottheit in uns selbst ist, und daß wir infolgedessen selbst mit Gott verkehren können, ja, mehr, daß nur jeder selbst glauben kann, nicht ein anderer für uns. Priester im alten Sinne brauchten demnach nur diejenigen, die nichts von Christus wußten oder nicht an ihn glaubten.

Der lutherische Geistliche soll nichts weiter als Diener am Wort sein, die Heilige Schrift erklären und das Sakrament austeilen. Sie haben kein Werk zu vollziehen und zaubern nicht das Brot zu Gott; sondern den Zauber üben die Empfangenden durch den Glauben oder, insofern Gott den Glauben gibt, Gott selbst. Das Erscheinen Christi bedeutet demnach eine Mündigkeitserklärung der Menschen: vorher vermochten sie nur Sichtbares zu ergreifen, nun aber auch das Unsichtbare. Solange Sichtbares und Unsichtbares, Wort und Zeichen überhaupt nicht geschieden waren, war es durchaus nicht abergläubisch, an Äußerliches zu glauben; der Zustand der katholischen Kirche zu Luthers Zeit bewies aber, daß der Zeremonien- und Werkdienst Aberglauben geworden war.

Ich glaube, du stimmst mir darin bei, daß die Priesterkirche für diejenigen überflüssig, ja verdammlich ist, die an Christus glauben. Luther durfte die Katholiken in diesem Sinne, wie er oft tat, die Synagoge oder die Juden zu Rom nennen, indem sie wie diese Christus nicht als einzigen und ewigen Hohepriester anerkannten. Allein Gott offenbart sich nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander, und infolgedessen gibt es jetzt noch eine vorchristliche Menschheit; für diese muß die Priesterkirche da sein. Diejenigen, welche nicht glauben können, muß, wie einst, der Priester, an den sie glauben, weil sie ihn sehen, vor Gott vertreten.

Die sogenannten Gebildeten zu Luthers Zeit glaubten tatsächlich alle nicht mehr an den Priester und das opus operatum; über diese Stufe waren sie hinaus. Luther wurde deshalb in diesem Punkte, im Kampfe gegen die Zeremonien, sehr gut verstanden; die Kirche selbst machte sich schleunig seine Gedanken über die Werke zu eigen. Im Gegensatz zu den Zeremonien empfahl Luther damals Werke der christlichen Liebe: man diene Gott, sagte er, wenn man mit dem bisher durch allerhand Werke verschlungenen Gelde den Armen beistehe oder seine Familie versorge. Er betonte damals, daß jeder Christ ein Heiliger sei, das heißt ein Gott geweihter Mensch, und daß man Gott mehr diene, wenn man den lebenden Heiligen in der Not helfe, als wenn man den toten Heiligen opfere. Dies leuchtete der damaligen, besonders der nordischen, auf das Weltliche und Moralische gerichteten Menschheit sehr ein, und Luther bemerkte bald, daß die guten Werke blieben, nur daß die gottesdienstlichen durch die weltdienstlichen oder bürgerlichen ersetzt wurden. Wenn er selbst den Armen half, so geschah es „im Glauben“, das heißt sein Herz trieb ihn dazu; aber die anderen übten die Werke der Liebe um irgendeines weltlichen Zweckes willen, sei es der bürgerlichen Ordnung wegen, oder um ihr Gewissen zu beschwichtigen, oder um für mildtätig gehalten zu werden oder was sonst immer. Nur betonte Luther, daß unter den zu verdammenden „guten Werken“ durchaus nicht nur die Zeremonien, sondern ebensowohl die moralischen Handlungen zu verstehen seien; und du weißt ja, daß dieser verzweifelte Kampf gegen die Moral dann sein Leben ausfüllte, ohne Ergebnis und ohne Verständnis seiner Anhänger. Trotzdem verfiel er nie in den Irrtum, nun etwa doch zu den Zeremonien zurückzukehren, wie so viele andere getan hätten; man kann immer nur wieder das Allumfassende und Unbestechliche an Luthers Geist bestaunen. Waren deshalb die Zeremonien besser, weil die Moral noch gefährlicher war? Die Prüfungen, die der Auserwählte zu bestehen hat, werden immer schwerer, wie in der Zauberflöte. Die Versuchungen des Teufels durch das Fleisch erscheinen dem fast kindlich, den der Teufel in seiner Majestät, als Luzifer, im Geiste versucht. Auf die Versuchung der Moral folgt die, ohne Gottes Beistand vollkommen zu werden, das heißt edel. Das alles sah Luther; indessen dachte er nie daran, das Rad der Zeit aufzuhalten, er warnte nur. Betrachtet man den Lauf der Geschichte, so sieht man, daß Gott durchaus nicht mehr bei den Menschen des Zeremoniendienstes als bei denen der Werkheiligkeit war.

Außer denjenigen, die ihrer Natur nach nicht glauben können, weil sie auf einer vorchristlichen Stufe stehen geblieben sind, nimmt die Priesterkirche auch diejenigen auf, die durch eine Schwäche des Geistes daran gehindert sind, die Allzupersönlichen, deren großes Wollen durch keine Kraft des Vollbringens gestützt wird. Es ist Luthers „zweiter Haufen“, soweit er sein Ziel, das Reich des Geistes, nicht erreichen kann. Diese Gescheiterten, die den naiven Zusammenhang mit der Welt verloren, aber den Mut nicht fanden, sie entschieden von sich zu stoßen und endlich zu überwinden, retten sich in den Hafen der Weltkirche, die ihnen die Selbsttäuschung gewährt, als wären sie mitten in der Welt bei Gott. Die zu hochmütig waren, sich vor einer Person zu demütigen, die vor Gott flohen, der das Opfer des Herzens fordert, unterwerfen sich dem unpersönlichen Stellvertreter Gottes, der, mit äußerlichen Opfern zufrieden, weltliche Gaben dafür gibt, die aber in der Welt als göttlich kursieren. Es gibt Menschen, die nicht zum großen Haufen zählen, sondern Auserwählte sein wollen, aber ohne den Preis dafür zu zahlen; die Priesterkirche ist für sie wie eine Universität, die den Doktortitel ohne Arbeit verleiht, oder wie ein fürstlicher Hof, der unbegabte Eitle zu Hofpoeten macht. Häufig ist das Katholischwerden für die Interessanten der höchste und letzte Augenblick ihres Lebens, dessen Wesen Genuß ihres Werdezustandes ist. Gehören zur katholischen Kirche alle Weltleute, diejenigen also, die einer sichtbaren Mittlerschaft bedürfen, um das Unsichtbare zu ergreifen, so will die lutherische Kirche durch Gesetz und Evangelium zum Glauben anleiten. Sie sammelt diejenigen, die für das ewige Licht empfänglich sind und sich von stärkeren Brüdern allmählich „von einer Klarheit zur anderen“ führen lassen wollen. Wenn diese Stärkeren, die wahren Christen, der Kirche auch nicht förmlich einverleibt sind, so wie Luther sich das ursprünglich dachte, so daß sie ein Recht der Aufsicht über die Schwächeren hätten, strömt doch ihr Geist fortwährend den unteren Kreisen zu, wenigstens kann er es tun. Die Spitze der lutherischen Kirche wird sich immer in den Wolken verlieren; das aber ist kein Mangel, sondern ihr eigenstes Wesen, in dem Sichtbares und Unsichtbares eins werden. Sowie die Auserwählten sich zu einer sichtbaren Kirche formten, wären sie die Auserwählten nicht mehr; der Geist Gottes weht, wo er will, und läßt sich nicht binden. Nach Luther haben immer wieder hochgesinnte Geistliche versucht, wahre Christen zu finden und zur Hebung des öffentlichen Geistes zu vereinigen, woraus die Rosenkreuzer und ähnliche Verbindungen entstanden; aber das hat zu keinem Ziele geführt, während Goethe und Schiller, und natürlich nicht nur sie, mit ihren Werken dem Glauben zugute gekommen sind, ja gerade lutherischen Geist ausgeteilt haben. Der erste Teil von Goethes Faust ist eine dichterische Gestaltung der wesentlichen Ideen Luthers.

Luther wußte genau, was für ein Segen ihm der Kampf gegen die Priesterkirche sei. Es beglückte ihn, als er zu der Einsicht gekommen war, daß der Papst der in der Schrift geweissagte Antichrist sei. Als ein Teil seiner Anhänger, namentlich Melanchthon, die Wiedervereinigung mit der Kirche wünschte, sagte er zwar, daß man den Papst anerkennen könne, wenn er das Evangelium freiließe und darauf verzichtete, Stellvertreter Gottes auf Erden sein zu wollen; aber er setzte hinzu, daß der Papst das nicht könnte, selbst wenn er es wollte, da die Welt ihn so haben wollte. Wer recht haßt, muß wünschen, das Gehaßte zu vernichten; aber irgendwie wird er doch fühlen, daß das Gehaßte dennoch zu seinem Leben gehört, ja, er würde es sonst arg nicht hassen. Es hat Maler angezogen, Cromwell vor der Leiche des von ihm getöteten Königs zu malen: in jenem Augenblick muß ihm die Notwendigkeit des eigenen Unterganges bewußt geworden sein. Eine ähnliche dunkle Ahnung mag Wallenstein bewegt haben, als man ihm den blutigen Koller Gustav Adolfs brachte.

Luther hat öfters den Wunsch ausgesprochen, sein Tod solle dem Papsttum Tod bringen; und wirklich hat die Kirche allmählich ihren mittelalterlichen Charakter abgetan, aufgehört Ketzer zu verbrennen. Ich bin zu selbstsüchtig, um zu wünschen, sie möchten wieder damit anfangen; das glaube ich aber, daß eine Erneuerung der Religion auch eine Erneuerung der religiösen Gegensätze mit sich bringen würde.

Gibt es nicht eine andere Möglichkeit? Ja, wenn das Unmögliche wirklich würde, und der Papst darauf verzichtete, Stellvertreter Gottes sein zu wollen, damit Christus selbst das Haupt der Kirche würde. Es bleibt uns nichts, als dieses Urteil Luthers zu wiederholen, der ja keine neue Kirche gründen, sondern die alte erneuern wollte. Noch im siebzehnten Jahrhundert betonten die Evangelischen, daß sie die eigentlichen Katholiken wären, die Glieder der urchristlichen Kirche. Vielleicht wird einmal noch die Idee des Mittelalters verwirklicht: ein Kaiserreich des Sichtbaren, begeistert und beseelt durch das in ihm wirkende Reich des Unsichtbaren, die Kirche.

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