XVIII

„Nun ist auch irrig, daß die Zeremonialwerke nach dem Tode Christi todbringend sind. Sie rechtfertigen, nur nicht vor Gott.“ Diese Worte Luthers führe ich dir deswegen an, weil du mir neulich schriebest, das einseitige Betonen des Unwillkürlichen, Unbewußten oder Gottbewußten sei dir zuwider; der Mensch sei doch auch Mensch, ja eigentlich wesentlich Mensch, also selbstdenkend, selbsthandelnd, selbstbewußt, selbstverantwortlich; erst wenn er das ganz sei, komme das Göttliche an die Reihe. Ob du diese Einseitigkeit deshalb so stark empfindest, weil du gerade mehr göttlich als menschlich bist und als ein ritterlicher Mann auch dem Gegner gerecht werden willst? Oder weil du im Grunde weltlich bist? Was Luther betrifft, so war er sehr stark selbstbewußt – die alte Schlange hatte ihn greulich vergiftet, wie er sagt – und seine Zeitgenossen waren es überwiegend; aus diesem Grunde hat er den Ton auf das Göttliche gelegt, da das andere sich von selbst verstand. Die angeführten Worte beziehen sich zunächst nur auf kirchliche Gebräuche, deren der Christ nicht bedarf; die er aber nach Belieben beobachten kann, wenn er sich nur darüber klar ist, daß Zeremonien uns nicht den inneren Frieden, die Übereinstimmung mit uns selbst und Schaffenskraft geben können.

Ähnlich sprach sich Luther auch über die guten Werke, also über die bürgerliche Moral aus, daß sie nicht an sich zu verdammen sei, nur vor Gott nicht rechtfertige. „Nun ist wahr“, sagt er, „wie ich immerdar gelehrt habe, daß Gott ja will fromme Leute haben, in einem fein äußerlichen Leben und Wandel vor der Welt, heilig und unsträflich; aber es soll und kann vor Gott keinen Christen machen, das ist das ewige Leben schaffen noch bringen. Zu diesen Ehren lassen wir kein menschliches Leben noch Heiligkeit kommen, sondern es soll hoch und weit über alle Werke und schönes, herrliches Leben schweben. Unsere Werke und Leben laß hienieden in diesem Regiment bleiben und eine irdische Frömmigkeit heißen, welche Gott auch von uns fordert und läßt sie ihn gefallen, so sie im Glauben geht, und beide, hier und dort, belohnen will: dies aber, wovon wir hier reden, ist eine himmlische und göttliche Frömmigkeit, die ein ewiges Leben schafft.“

Du siehst, es kam Luther darauf an, den Unterschied zwischen der Moral zu zeigen, die von menschlicher Willkür abhängt, und von dem Glauben, der aus göttlicher Gnade, aus dem Herzen fließt, und zu erklären, was vom einen und was vom anderen zu erwarten ist.

Leute, die die Reformation mit Jubel begrüßten, haben sich später angeekelt von ihr abgewandt, wie zum Beispiel der Nürnberger Patrizier Pirkheimer, weil sie wahrzunehmen glaubten, daß auf evangelischer Seite die Sittenverschlechterung mit einem großen Nachdruck und Übermut einreiße. Luther selbst erschrak über diese unvorhergesehene Folge seines Werkes und sagte: sie nehmens fleischlich auf. Daß dies geschehen konnte, liegt auf der Hand: Luther predigte gegen die Moral und gegen das Streben nach Vollkommenheit, vielmehr solle man sich gehen lassen und auch sündigen. „Wir sehen im Evangelium“, schreibt er, „den Zöllner Christo näher sein als den Pharisäer; wenn sie auch nach menschlichem Urteil ärger sind, so stellt sie doch das Evangelium gewißlich als seliger dar, so daß es sicherer erscheint, öffentlich gefallen zu sein, denn im verborgenen gottlos dazustehen. Aber deswegen raten wir jenen nicht, zu fallen. Wir überlassen Gott seine verborgenen und zu fürchtenden Urteile.“

Luther hatte tiefe Einsicht in die Gefahr der Selbstüberspannung auf der einen Seite; aber auch in die Gefahren, die dessen warten, der sich dem Herzen und seiner elementarischen Unberechenbarkeit überläßt. Seine Lehre bedurfte deswegen einer Ergänzung, die er ihr auch gab, nämlich indem er das durch die Obrigkeit vertretene Gesetz stärkte.

Luther verstand unter Welt mit dem Evangelisten Johannes die noch nicht zum Geist hinübergeführte Menschheit, anders ausgedrückt: die Gesamtheit aller von den Menschen willkürlich gemachten, nicht gewachsenen Organisationen und der ihnen dienenden, sie bedienenden Menschen. Die genialen Menschen und die Sünder und Verbrecher haben das Gemeinsame, daß sie außerhalb dieses Mechanismus stehen, mit dem Unterschied aber, daß die Auserwählten, die wahren Christen, sich ihm freiwillig fügen oder ihn ignorieren oder, je nachdem, ihn durch Worte bekämpfen, während diese, die Sünder und Verbrecher, ihn hinterrücks oder offen gewaltsam zu zerstören suchen. Vor allem aber ist der Grund des Gegensatzes zur Welt beim Christen und beim Verbrecher ein anderer: der Verbrecher fühlt seine Selbstsucht durch die Welt gehemmt, der Christ seine Göttlichkeit. Da jedoch Selbstsucht wie Göttlichkeit aus derselben Quelle fließen, nämlich aus dem Herzen, so ist zwischen beiden ein Verständnis möglich. Man kann sagen, daß Gott und Tier sich unmittelbar leichter verstehen als Gott und Mensch: sie beide leben aus dem Herzen, der Mensch aus dem Kopfe.

Luther hatte vom natürlichen Menschen die Meinung, daß er dem Teufel und der Sünde verknechtet sei, daß er also nur sich selbst wollen könne; infolgedessen herrsche unter den natürlichen Menschen das Recht des Stärkeren, wer den anderen übermöge, stecke ihn in den Sack. Damit nun der Stärkere den Schwächeren nicht erdrücken könne, müsse das Gesetz sein, das die Aufgabe habe, aus Tieren Menschen zu machen. Luther hat bewußt für die Verstärkung der obrigkeitlichen Gewalt gesorgt, die in der Tat eine notwendige Ergänzung seiner Lehre ist: nur dann können sich die Menschen ihrem Herzen überlassen, wenn die Übergriffe der selbstischen, bösen, noch tierischen Herzen durch das Gesetz gehemmt werden. Das Gesetz überhebt den Menschen, diese Hemmung selbst durch die Moral auszuüben, was er nicht tun kann, ohne seine Herzkraft dadurch zu lähmen. Es ist Verleumdung, wenn man Luther nachsagt, er habe den Fürsten geschmeichelt, sei es auch nur, damit sie seine Ideen stützten. Die Verstärkung der obrigkeitlichen Gewalt gehörte vielmehr durchaus zu seinen Ideen; er tadelte an dem Kurfürsten Friedrich die Scheu, streng zu strafen, die vermutlich dem Adel zugute kam. Die in der Welt herrschende und auch in den Gesetzen sich ausprägende Gesinnung, nicht den Schwachen, sondern den Starken auf Kosten des Schwachen zu schützen, kannte Luther sehr wohl und gab sich selbst furchtlos preis, um mit seiner Person etwaige Schäden der Gesetzgebung in dieser Hinsicht zu decken; dennoch hielt er die Herrschaft selbst ungerechter Gesetze für besser als Gesetzlosigkeit. Was er anstrebte, war strenges Gesetz, dessen Handhabung durch großherzige Menschen besorgt würde. Dies Verhältnis bestand bis zu einem ungewöhnlich hohen Grade in Sachsen, solange Luther lebte; tatsächlich regierten sein reines Herz und seine großen Gedanken, nur selten wurden die Fürsten, die sich vertrauensvoll von ihrem Propheten leiten ließen, durch die Selbstsucht ihres Adels abgelenkt. Luthers Herz schlug ebenso stark in die Welt hinaus, wie in sein Inneres hinein; nach seinem Tode war das Stück Welt, das er dadurch beherrscht hatte, wieder sich selbst überlassen.

Die Erkenntnis, daß, wenn das Gesetz in der Hand von Persönlichkeiten ruht, mit dem Ausscheiden derselben plötzlich Schwankungen und Störungen eintreten können, hat die Menschen veranlaßt, die Gesetze von der Handhabung durch einzelne unabhängig zu machen, da der geschriebene Buchstabe verläßlicher zu sein scheint als der veränderliche Mensch. Sowie aber der menschliche Verstand denkt, irrt er auch; es ist nämlich wohl richtig, daß geschriebene Gesetze nicht sterben, aber sie tun es deswegen nicht, weil sie nicht lebendig sind, und infolgedessen decken sie sich nicht mit den Erscheinungen des Lebens und können das Leben nicht regulieren, ohne es zu schädigen. Soviel ich weiß, ist man jetzt zu dem Grundsatz zurückgekehrt, die Gesetze so großzügig anzulegen, daß Raum für persönliche Auslegung und Anwendung bleibt. Woran es fehlt, sind die herzhaften Menschen, die salomonische Urteile fällen können. Alle die Urteile zu sammeln und herauszugeben, die Luther in den vielen ihm zur Entscheidung vorgelegten Sachen fällte, würde sehr verdienstlich sein und einen überraschenden Einblick in seine gründliche Kenntnis weltlicher Angelegenheiten und in die Weisheit seines Herzens gewähren. Hätte das Volk immer Zutrauen zu der Weisheit der richterlichen Herzen haben können, wären sicherlich keine Geschworenengerichte entstanden. Wenn in den rückläufigen Zeiten die Kraft abnimmt, versucht man durch Summierung von Menschen die Unkraft des einzelnen zu ersetzen, ohne zu bedenken, daß Millionen schwacher Herzen nicht ein einziges starkes ausmachen. Nach dem Gesetz, daß Organe, die sich nicht üben, immer schwächer werden, mußten die Einrichtungen, die zum Ersatz der mangelnden Kraft getroffen wurden, die Herzen immer mehr entkräften.

Luthers Ideal war, daß die Welt, in der das Gesetz herrscht, sofort abgelöst wird durch das Reich Gottes, in dem die Liebe und infolgedessen die Freiheit herrscht. In ihm herrscht durchaus nicht ein unbedingtes Sichgehenlassen, sondern ein steter Kampf gegen das herrschsüchtige Ich; da aber dieser Kampf eine innere Notwendigkeit ist, vom gläubigen und liebenden Herzen selbst verlangt, so ist er doch gewissermaßen ein Sichgehenlassen und nicht schädlich, sondern heilsam.

Da nun aber außer der Welt und dem Reich Gottes noch das Zwischenreich des zweiten Haufens besteht, der zwischen Welt und Geist schwankt, so scheint mir die Moral für dieses übrig zu bleiben. Zu stolz, um sich dem Gesetz des großen Haufens unterworfen zu fühlen, nicht stark genug, um sich dem eigenen Herzen zu vertrauen, müssen sie sich einstweilen mit der Moral rüsten. Diese Rüstung – wer wollte das verkennen – kann sehr blank und ritterlich sein, und Luzifer kann mit ihr dermaßen strahlen, daß man ihn fast mit der Sonne verwechseln könnte. Nur das ist gegen sie einzuwenden, daß das göttliche Feuer hinter ihr ersticken kann; deshalb muß sie abgetan werden, wenn noch Glut genug da ist, um in der Luft zur schaffenden Flamme zu werden.

Es ist für Luther, den Deutschen, und für Luther, das Genie, charakteristisch, daß er bei seiner Einteilung der Menschen in die drei Haufen eigentlich nur die Entwickelung des natürlichen Menschen zum geistigen im Auge gehabt hat. Diese geschieht im Gegensatz zur Welt; aber es gibt auch eine innerhalb der Welt vom passiven, wesentlich dienenden Menschen zum aktiven, herrschenden. Solche finden sich auf den verschiedensten Stufen, vom Werkmeister, Schauspieldirektor, Unternehmer, General bis zu den Fürsten, von denen Luther sagte, daß sie gemeiniglich die ärgsten Buben oder größten Narren wären. Luther hatte nichts gegen sie; sagte er doch von Pilatus nicht ohne Wohlwollen, daß er ein frommer Weltmann gewesen sei; er wollte nur feststellen, daß auch ihre allergrößte Macht nicht imstande sei, ihnen die überschwengliche Herrlichkeit der Auserwählten zu verschaffen. Ich erwähnte schon, daß die Römer, im Gegensatz zu den Juden, Christus und Paulus sympathisch gegenüberstanden. „Drum soll der Sänger mit dem König gehen; sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen.“ Sie sind die Spitzen zweier in entgegengesetzter Richtung nach oben führender Linien, als Herrscher einander verwandt, als Herrscher sich ausschließender Reiche einander feind.

Zwischen beiden Punkten jedoch ist beständiges Fließen und Übergehen. So senkte sich die Linie der Kurfürsten von Sachsen seit Friedrich dem Weisen in der Welt abwärts, um im Reiche Gottes aufwärts zu steigen, so haben alle Nationen ihre geistigen und ihre weltlichen Zeiten. Den Geist Gottes verglich Luther einem Platzregen und betonte, daß er nicht erblich sei. Talent vererbt sich, nicht das Genie; denn es ist ein Höhepunkt und kann seiner Natur nach nicht zugleich Ebene sein.

Die Menschen aus dem Zwischenreiche hassen die Welt und ihre Ordnung; die genialen Menschen, die im Reiche Gottes Befestigten, hassen das Böse in der Welt und haben Sympathie für diejenigen, die Ordnung schaffen, wenn sie es auch nur aus Herrschsucht tun. Alle genialen Menschen lieben die Persönlichkeit, wie sie sich auch darstelle, weil sie göttlicher Natur ist, Sonnenstrahl aus dem unsichtbaren Strahlenmittelpunkte; Herrscher in der Welt und Herrscher im Geistesreiche müssen sich zueinander hingezogen fühlen, so wenig sie sich jemals ganz verständigen können. Sowie die Weltherrscher die Geistesherrscher binden wollen, zeigt sich ihre höhere Art: fesseln läßt der Geist sich nicht; aber auch die Weltherrscher wollen sich nicht in jenes Reich verklären lassen, zu welchem man nur durch das Tor der Schmerzen eingeht. So müssen die beiden Fürsten, obwohl sie sich anerkennen, im ewigen Kampfe liegen, eben wie Gott und der Teufel.

Sieh, der Herold der Sonne setzt die beflügelte Silbersohle auf den Wolkenrücken jenseit jener Dächer und winkt zum Abschied. Von Sternen zu Sternen und Sonnen steigt die unsichtbare Leiter; der Kuß des Abschieds verschmilzt in dem des Wiedersehens, ist doch der Kuß selbst nur eine Begegnung. Ein zögernder Flor deckt die furchtlose Lampe noch einmal zu und vergönnt mir, noch einen Augenblick bei dir zu säumen, den Fuß schon im Eimer, der aufwärts an die Küste des Tages führt. Lebewohl für eine Tageslänge; er wächst schon, flutet nach allen Seiten, und die Nächte, die uns vereinen, werden frühlingshaft gedrängt. Bald weiß ich auch nichts mehr, nichts wenigstens, was sich sagen ließe, und wenn die kürzeste Nacht kommt, werde ich ausgeredet haben. Lebewohl.

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