XVI

Ich fand kürzlich bei Schopenhauer folgende interessante Ideen über das Wesen des Wahnsinns.

„Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung des Wahnsinns wird faßlicher werden, wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge denken, welche unser Interesse, unsern Stolz oder unsere Wünsche stark verletzen, wie schwer wir uns entschließen, dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer und ernster Untersuchung vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewußt davon wieder abspringen oder abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegenheiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen, und, wenn verscheucht, uns stets wieder beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimiliert werden, das heißt im System der sich auf unsern Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigenderes er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt er schon viel weniger, aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben vonstatten. Inzwischen kann nur, sofern sie jedesmal richtig vollzogen worden, die Gesundheit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen, in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die Aufnahme einer Erkenntnis den Grad, daß jene Operation nicht rein durchgeführt wird, werden demnach dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umstände völlig unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann, wird alsdann, des notwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene Lücke beliebig ausgefüllt, so ist der Wahnsinn da … Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des Wahnsinns ansehen als ein gewaltsames ‚Sich-aus-dem-Sinn-schlagen‘ irgendeiner Sache, welches jedoch nur möglich ist mittelst des ‚Sich-in-den-Kopf-setzen‘ irgendeiner andern. Seltener ist der umgekehrte Hergang, daß nämlich das ‚Sich-in-den-Kopf-setzen‘ das erste und das ‚Sich-aus-dem-Sinn-schlagen‘ das zweite ist.“ Einen Lethe unerträglicher Leiden, das letzte Hilfsmittel der geängstigten Natur, nennt Schopenhauer den so entstandenen Wahnsinn; das Verdrängen einer unleidlichen Wahrheit durch Lüge könnte man auch sagen. Es ist die Negation des Schwächeren, wie denn auch dieser Wahnsinn in der Jugend auszubrechen pflegt: das Herz ist der Aufgabe der geistigen Entgiftung nicht gewachsen.

Dieser Äußerung Schopenhauers möchte ich eine Luthers folgen lassen, die einem Brief an Link entnommen ist: „Über die Wahnsinnigen ist meine Meinung die: jeder Narr und wer des Gebrauchs des Verstandes beraubt wird, ist von Teufeln geplagt oder besessen, nicht weil er von Gott dazu verdammt ist, sondern weil der Satan die Menschen auf mancherlei Art versucht, die einen schwer, die anderen leicht, die einen auf kurze und die anderen auf lange Zeit. Denn wenn die Ärzte solche Leiden oft natürlichen Ursachen zuschreiben und durch Heilmittel lindern wollen, so geschieht das bloß, weil sie die gewaltige Macht und Kraft der Dämonen nicht kennen. Christus nennt das krumme Weib im Evangelium unbedenklich ‚von Satanas gebunden‘. Und Petrus sagt in der Apostelgeschichte 10, 38: daß alle, die Christus gesund gemacht hat, vom Teufel überwältigt waren. So muß ich also auch denken, daß Stumme, Taube und Lahme der Tücke des Satans ihr Leiden verdanken … Daher glaube ich also, daß die Wahnsinnigen, von denen ihr schreibt, zeitlich vom Satan versucht werden. Denn sollte Satanas nicht auch den Verstand nehmen, wo er es doch ist, der die Herzen mit Hurerei, Mord, Raub und allen Lüsten erfüllt? Summa, er ist näher, als ein Mensch denken kann, und den Heiligsten am nächsten, und so schlägt er selbst Paulus mit Fäusten und greift Christus an nach Belieben Matth. 4.“ Diese und ähnliche Äußerungen Luthers hat man im allgemeinen damit abgetan, daß er unbegreiflicherweise und bedauerlicherweise dem Aberglauben seiner Zeit unterworfen gewesen sei, wie er ja auch die Gegner seiner Lehre als vom Teufel besessen betrachtet habe. Nun ist es ja aber durchaus nicht so, wie man sich das vorstellt, als habe Luther alles Feindliche und Unerklärliche auf einen in einer irgendwo verborgenen Hölle wohnhaften diabolus ex machina geschoben; sondern der Teufel ist nach Luther der Widersprecher, den Gott sich selbst gegeben hat, und der sich ihm auf den drei Stufen seiner Offenbarung widersetzt, elementar als Sinnlichkeit, als Herrschsucht oder Stolz und Lüge oder eigener Gedanke. Auf dem untersten, elementarischen Zustande äußert sich das Besessensein vom Teufel in körperlichen Zuständen, Krämpfen u. dgl., auf der geistigen Stufe als Besessensein von willkürlichen Vorstellungen. Die Quelle von allem ist Eigenliebe: es kann keine Geisteskrankheit geben ohne Eitelkeit und Selbstsucht, wie sehr auch Heuchelei sie zu maskieren suchen mag, und obwohl ihr aus tiefem Bewußtsein mangelnder Kraft Verzweiflung am Selbst gegenüberstehen muß.

Wenn Luther den Wahnsinn charakterisiert als Überhandnehmen der Hemmungen der unwillkürlichen Kräfte des Menschen durch die willkürlichen, so bedeutet das dasselbe wie Schopenhauers Erklärung, er bestehe in willkürlicher Verleugnung und endlich gänzlicher Verdrängung der Wahrheit. Eine Selbstentzweiung im Inneren, infolge welcher die Bindung zwischen Herz, Gehirn und Sinnlichkeit, die Seele, nicht zustande kommt, so daß der betreffende Mensch nur noch Maske, nicht mehr Person ist. Es ist die vollständigste Absonderung von Gott und der Menschheit, die man sich denken kann: der Mensch ist ein isoliertes Selbst, das immer mehr verzwergen und endlich ganz verschwinden muß. Der Wahnsinnige ist demnach der größte Sünder.

Vielleicht hast du auch schon über die Sünde wider den Heiligen Geist nachgedacht, die einzige, die, wie die Schrift lehrt, nicht vergeben werden kann. Nun heißt ja Sündenvergebung nichts anderes als Gewinnung des inneren Friedens, innerer Übereinstimmung. Jede Sünde und jeder Irrtum kann dadurch aufgehoben werden, daß der Sünder und der Irrende sein Unrecht und die Wahrheit einsieht; sieht er aber die Wahrheit ein und lehnt sie doch ab, so befindet er sich in einem inneren Widerstreit, der so lange dauert, wie der Widerspruch gegen die Wahrheit dauert. Daß es eine Sünde gibt, die nicht vergeben werden kann, heißt eigentlich, daß es unheilbaren Wahnsinn gibt. Die Sage erzählt, daß der Adler, das einzige Geschöpf, das in die Sonne sehen kann, die echte Art seiner Jungen dadurch erprobt, daß er ihre Augen dem Sonnenlicht aussetzt; können sie es nicht ertragen, so tötet er sie. Der blendende Strahl der göttlichen Wahrheit erleuchtet den götterhaften Menschen; dem gottlosen geht er tödlich durchs Herz.

Am deutlichsten wird Luthers Auffassung, wenn man zusieht, wie er praktisch verfuhr, wenn er mit Geisteskranken zu tun hatte. Erfahrung hatte er genug an sich selbst gewonnen; du wirst wissen, daß er zeitlebens an Melancholie und Anfechtungen, wie er es nannte, litt. Die Krankheit der Melancholie kam im Zeitalter Luthers häufig vor, so daß man sie für seine und die nachfolgende Zeit geradezu charakteristisch nennen kann. Sie wurde aufgefaßt als ein Kampf zwischen Gott und dem Teufel, der sich auf dem Schlachtfelde des menschlichen Inneren entspinnt. Er beginnt mit Zweifel, einer leisen, tastenden Hemmung, und endet, falls der Teufel siegt, mit Verzweiflung. Die Auffassung des Selbstmörders als eines von Gott abgefallenen Menschen hat sich bis in unsere Zeit hinein erhalten. Diesen Kampf, der unter völligem Bewußtsein des Menschen vor sich geht, nannte Luther Anfechtungen; unter Melancholie verstand er eigentlich jenen Zustand des weitesten Auseinandertretens der kämpfenden Kräfte, der jede Entladung der Kraft unmöglich macht: ein Zustand gänzlicher Unproduktivtät, den man lebendigen Tod nennen kann.

Zum Beginnen, zum Vollenden
Zirkel, Blei und Winkelwage;
Alles stockt und starrt in Händen,
Leuchtet nicht der Stern dem Tage.

Dieser Vers Goethes klingt wie eine, wenn auch etwas schwächliche Unterschrift zu Dürers Melancholie: das Werkzeug, das unwillkürliche Gehirn, ist da, aber der Geist ergreift es nicht. Das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf den Herzschlag, der den gebannten Sphären das Zeichen zum rhythmischen Umschwung geben soll.

Der volkstümliche Ausdruck für verrückte Menschen, daß sie vom Teufel geritten werden, erinnert an das Bild der Bibel, das den Menschen einem Tiere vergleicht, das entweder von Gott oder dem Teufel getrieben werde; auch hier wird die Geisteskrankheit unmittelbar als ein Überhandnehmen der negativen Kräfte betrachtet. Es leuchtet ein, daß die Kinder und Frauen, die vorwiegend passiv sind, der Melancholie und den Anfechtungen gar nicht oder weniger ausgesetzt sind, ausgenommen in Zeiten der Dekadenz, wo die Frauen aktiver werden. Sehr ausgesetzt dagegen sind der Melancholie und den Anfechtungen geniale Menschen, die reich an positiven und negativen Kräften sind; zum Kampfe berufen, sind sie aber auch auserwählt zum Siege. Die Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn beruht auf der gleichen Stärke oder Menge der vorhandenen Hemmungen; im Genie ist gleichzeitig positive Kraft genug, um die Hemmungen zu überwinden.

Luthers Leben bietet das Beispiel eines großartigen Kampfes gewaltiger Dämonen, die ihre Fesseln zu zerreißen suchen, gegen ein immer wieder siegendes, götterhaftes Herz, das seinen Sieg mit dem Leben bezahlte. Der Teufel müsse vorausgesehen haben, daß er viel an ihm, Luther, zu leiden haben werde, sagt er einmal; denn er habe ihn von seiner Jugend auf gequält. Wenn es eine apostolische Gabe sei, mit Dämonen zu kämpfen und häufig im Tode zu sein, so sei er in dem Falle des Petrus oder Paulus.

Es setzte sich in Luther offenbar der Kampf fort, der durch das Erbe seiner Eltern gegeben war: er besaß sowohl das leidenschaftliche, jähzornige, herrschsüchtige Wesen des Vaters, wie die Hingebungsfähigkeit der Mutter, die sich, wie es scheint, ihrem Manne auch in den Stücken unterwarf, wo sie hätte widersprechen sollen. Der Sohn, als Vertreter der Mutter, trieb durch sein Wort die Teufel aus, die das väterliche Herz besessen hatten, bis es von Banden frei und glorreich in ihm auferstand.

Aus Luthers Kindheit werden uns überwiegend Züge von Sanftmut, liebevoller Hingebung, weitgehender Schüchternheit berichtet. Allmählich jedoch tauchte die männliche Wesenshälfte in ihm auf, die selbstbewußt herrschsüchtige, die den Schatz seiner gläubigen Seele verneinte. „Wohlan, ich kann es nicht leugnen“, sagt er einmal von sich, „die alte Schlange, der Teufel, hat mich übel gebissen und greulich vergiftet.“ Wie er oft und oft erzählt, hat er die höchste Versuchung, die des Luzifer, durch den Geist, schrecklich an sich selbst erfahren, die, welche den Menschen dazu treibt, sich Gott gleichzusetzen. Vom leisesten Zweifel an Gott bis zur Gottesleugnung und zum Gotteshaß, gleichbedeutend mit Menschenverleugnung und Menschenhaß, hat er alle Regungen des menschlichen Selbstgefühls durchgemacht. Er war in allen Angriffen gewiegt, die ihm jemals religiöse Gegner machen konnten. Deshalb scheint es einem, wenn er vom Teufel spricht, als habe er ihn persönlich gekannt, und so war es ja auch; was die Selbstanbetung dem Menschen eingeben kann an Selbstdenken, Selbstwollen, Selbstherrschen, das wußte er. Es ist charakteristisch, daß der Ausbruch der Melancholie mit dem Eintritt ins Kloster, einer Absonderung, begann. Er schien zu fühlen, daß er in der Einsamkeit mit seinem Selbst ins reine kommen müsse. In der Lage eines Kranken war er, der im Vorgefühl eines herannahenden epileptischen Krampfes sich auf das Bett wirft, um ihn dort austoben zu lassen. Was die Kirche ihm an Heilungsmöglichkeiten gewährte: Kasteiungen, Beichte, vorschriftsmäßiges Gebet und dergleichen, machte ihn nur noch kränker. Seine gläubige, Gott zugewandte Seele suchte erfolgreicher Trost in der Bibel, und vor allen Dingen hilfreich wurden ihm diejenigen Personen im Kloster, von denen etwas Positives, Wohlwollen, Nachsicht, Verständnis, Geduld ausströmte; es zeigte sich, wie der menschliche Geist aus der umgebenden Welt Kraft anziehen und aufnehmen kann. Die stärkste Kraftquelle fand Luther in Staupitz; an diesen Stützpunkt sich klammernd, vermochte er den selbstbejahenden und gottverneinenden Kräften seines Innern besser zu widerstehen. Die kurze Andeutung, die Staupitz ihm gab, daß Gottes Wesen die Liebe sei, und der Umstand, daß diese Liebe nun auch zugleich sinnenfällig in Staupitz vertreten wurde, riß ihn von seinem Selbst los und bereitete die Richtungsänderung, die μετάνοια, in ihm vor. Bedenke bitte immer, daß Gott sich persönlich nur in der Menschheit offenbart, daß es also darauf ankommt, die Menschen zu lieben, und daß dem Gottes- oder Menschenhasser jeder Mensch zum Erlöser wird, den er lieben kann und muß und der ihn dadurch mit der Menschheit, zugleich mit Gott, verbindet. Es gibt Menschen, die der Wahnidee, als sei ihr Selbst der Mittelpunkt der Welt und ihr eigener einziger, in sich ruhender Mittelpunkt, nicht genügenden Widerstand entgegensetzen, da sie nicht assimilieren können. Wie sich diese Wahnidee nun äußert, ob in der platten Ausprägung, daß einer sich für Gott oder für Christus oder für irgendeine berühmte, angesehene Persönlichkeit hält, ob in Schuld- und Angstgefühlen, ob im Aufsuchen der Einsamkeit oder gänzlichem Sich-ins-Innere-Zurückziehen, ihr Wesen ist Unfähigkeit der Selbstaufgabe, Mangel an Passivität. Zuweilen geschah es, wenn der Kampf, der sich in Luthers Seele abspielte, die Grenze dessen überschritt, was sein Bewußtsein erfassen konnte, daß er auf das Unbewußte überging. Seine Angstzustände führten dann zu völliger Bewußtlosigkeit. Als er das erstemal die Messe zelebrierte, ein anderes Mal, als er neben Staupitz in einer Prozession ging, konnte er sich nur mit Anstrengung aufrechthalten; aber es kamen auch Zufälle vor, die seine Feinde nach der Schilderung als epileptische ansehen wollen. Dafür spricht auch die wohltätige Wirkung, die die Musik in solchen Fällen auf ihn ausübte. Nach der mittelalterlichen Medizin, die sich auf Hippokrates und Galen stützte, wurde Musik als Heilmittel für Epileptische angewandt, und zwar sanfte, leise, nicht lärmende Musik.

Daß von allen Künsten Musik die stärkste Heilkraft hat, kommt wohl daher, daß sie der unmittelbare Ausdruck des Herzens ist. Sie wirkt berauschend wie alle Kunst, wie der Glaube und die Liebe, nämlich die negativen, willkürlichen Kräfte lähmend.

Wie aber die stärksten Arzneien zugleich Gift sind, so ist es mit der Liebe und der Musik: nur die göttliche, die aus reinem Herzen kommt, ist heilsam, die irdische wirkt tödlich auf den kranken Geist. Endgültig vollzog sich die Heilung Luthers erst dann, als er auf den Wunsch Staupitzens Professor und Prediger wurde und im Wirken auf andere und für andere sich selbst vergaß. In der Sprache der Aufklärung würde man sagen, er habe seine ungeheure persönliche Kraft in den Dienst einer guten Sache gestellt und sie dadurch unschädlich gemacht. Interessant ist, daß er seinem Vater Bericht über den Gang seiner Entwickelung erstattete und ihm zugleich erklärte, daß Gottes Gewalt noch über seine Gewalt gehe; der befreite Geist der Mutter stellte gleichsam fest, daß sie zu ihrem wahren Herrn zurückgekehrt sei.

Obwohl im wesentlichen und für immer gerettet, hörte Luther doch nicht auf, schwere Anfälle von Melancholie zu erleiden; er hätte ja sonst aufgehört, Werke und Taten zu schaffen, die das Ergebnis innerer Spannung sind. Nicht nur die göttliche Kraft, sondern auch „der Widersprecher“, wie Luther es ausdrückte, ist nötig, wo Ideen hervorgebracht werden sollen. Es fiel Luther auf, wie die Menge des Negativen in oder außer ihm der Menge des Produktiven stets die Wage hielt, so daß er zu sagen pflegte, der Teufel ärgere sich, daß er ihm durch seine Lehre so viel Schaden tue, und wolle sich dafür rächen. Man wird im Leben aller genial begabten Menschen finden, daß sich ihr größtes Schaffen einer dunklen, feindseligen Gegenwirkung zum Trotze erhebt, gehe es vom Äußeren oder vom Inneren, vom Körper oder vom Geiste aus.

In der Zeit nach seiner Verheiratung setzten sehr starke Anfechtungen ein; vielleicht wurde durch das heftiger erregte Geschlechtsleben das Blut vom Herzen abgezogen, das Herz gleichsam aus seiner Mittelpunktstellung gerissen und der Ablauf des ganzen Sonnensystems dadurch gestört. „Ich war mehr als eine Woche in Tod und Hölle geworfen, so daß ich noch jetzt am ganzen Körper verletzt in den Gliedern zittere. Ich hatte Christus fast ganz verloren und wurde umhergetrieben auf den Wellen und Stürmen der Verzweiflung und Blasphemie Gottes. Aber durch die Fürbitte der Heiligen bewegt, hat Gott angefangen, sich meiner zu erbarmen, und hat meine Seele aus der untersten Hölle gehoben.“ Einige Zeit später: „Satan selbst wütet gegen mich mit seiner ganzen Kraft, und Gott setzt mich wie einen anderen Hiob ihm zur Zielscheibe und versucht mich durch eine wunderbare Schwäche des Geistes; aber durch die Fürbitte der Heiligen werde ich nicht in seinen Händen gelassen, obwohl die Wunden des Herzens, die ich empfangen habe, nur schwer heilen werden.“ Er werde zwischen den beiden fürstlichen Gegnern hin und her geworfen, schreibt er. Mit Christus sei er durch einen schwachen Faden verbunden, Satan hingegen hänge mit mächtigen Seilen an ihm und ziehe ihn zur Tiefe. „Aber der kranke Christus siegt bis jetzt durch eure Gebete und kämpft wenigstens tapfer.“ Diese Schilderungen malen anschaulich, wie das erschöpfte Herz sich vergebens gegen das im Geschlechtssystem verkörperte teuflische Selbst wehrt, und wie die Seele das Sterben der Blutleere erleidet. Luther selbst gab zuweilen körperliche Vorgänge als Ursache seiner seelischen Leiden an, nämlich Blutstockungen am Herzen, und gebrauchte auch Mittel dagegen. Er wußte ja, daß alles Geistige zugleich ein Körperliches ist.

„Die letzte Anfechtung wird sein, daß ich mir selbst zur Last werde“, schrieb Luther in seinen jüngeren Jahren. Er sah eine Stufe seines Lebens voraus, wo die göttliche Sonnenkraft seines Herzens für immer erschöpft sein, nicht wieder morgendlich verjüngt aufgehen werde. Allerdings büßten damit die teuflischen Mächte in ihm zugleich ihre Kraft ein; die zermalmenden Kämpfe hörten auf, die er doch lieber ertragen hätte, als die dauernde Melancholie, die an ihre Stelle trat. Er wurde nun nie mehr von einem überirdischen Sturme getrieben, fühlte sich nie mehr als auserwähltes Werkzeug in der allmächtigen Hand Gottes. Allein geblieben mit seiner begrenzten menschlichen Willkür, sprach er zuweilen mit träumerischer Verwunderung von den gewaltigen Taten seiner Jugend; Gott könne einen wohl so toll machen, meinte er, als er sich seines Auftretens in Worms vor Kaiser und Reich erinnerte.

Getreulich tat er weiter, was er für seine Pflicht hielt; aber, wie er selbst so unermüdlich gelehrt hatte, selig macht die Erfüllung der Pflicht nicht, selig macht nur, was im Glauben getan wird. Die Sonne brannte nicht mehr, die einen Goldglanz über die Welt warf; sie erschien ihm so häßlich, daß es ihn ekelte. Die rohe Liederlichkeit der Wittenberger, denen seine Liebe und Sorgfalt sein Leben lang vorzüglich gegolten hatte, stieß ihn so ab, daß er einmal die Stadt verließ, um nicht zurückzukommen. Sein Herz sei gegen sie erkaltet, sagte er ergreifend schön und wahr. Auch von Melanchthon sah er nicht mehr das Urbild, sondern die mängelvolle, dürftige Erscheinung, wenn er auch noch Liebe genug in sich hatte, um die Erinnerung der Vergangenheit heilig zu halten. Er stand ernüchtert in einer grauen Welt, die ihm einst im göttlichen Rausch der Liebe und des Hasses erglüht war. Wie grausam von Gott, könnte man sagen, daß er seinen Auserwählten sich überleben ließ; was aber doch sehr kurzsichtig gesprochen wäre. Die Herrlichkeit des Lebens ist nun einmal an den Tod gebunden; so verschieden die Verteilung auch ist, kann man doch gewiß sein, daß, könnte man schließlich Leben und Tod jedes für sich zusammenrechnen, das Ergebnis auf beiden Seiten gleich sein würde.

Da Luther die Krankheit der Melancholie selbst durchgemacht und überwunden hatte, fühlte er sich berufen, Leidenden der Art mit Rat und Tat beizustehen. Überhaupt war er durch die große ihm innewohnende Lebenskraft zum Naturarzt bestimmt. Als der geistige Vater seiner Gemeinde besuchte er stets die Kranken, und es ist uns geschildert, wie er sich dabei zu benehmen pflegte. Er setzte sich auf das Bett der Kranken und erkundigte sich zunächst nach den Verordnungen des Arztes; während er ihnen dann Trost zusprach, beugte er sich mit ganzem Leibe über sie, eine instinktive Gebärde des Kraftvollen, der von seiner Kraft in den Entkräfteten möchte überströmen lassen. Öfters nahm er Kranke in sein Haus auf ohne Furcht vor Ansteckung, vor welcher er sich eben durch seine Furchtlosigkeit gesichert hielt; sein besonderes Feld aber waren die Melancholie und die Anfechtungen. Solche Kranke hat er oft auch brieflich behandelt, wodurch uns ein genauer Einblick in seine Heilmethode gegeben ist. Sie beruhte auf dem Streben, einerseits Kraft zu geben und zu wecken, andererseits Hemmungen aufzuheben; also in dem großen Kampfe um die Seele des Betreffenden Gott zu unterstützen, den Teufel zu bekämpfen.

Die erste praktische Vorschrift, die er gab, war, die Einsamkeit zu meiden. Einsamkeit nennt er ein Gift für die Menschen; in der Wüste habe der Teufel Christus versucht, Eva, als sie allein gewesen sei, überredet. Man solle sich nicht allein mit dem Teufel herumschlagen, sondern die bösen Gedanken einem anderen, zu dem man Vertrauen habe, mitteilen. Er selbst würde vom Teufel verschlungen worden sein, wenn die Beichte ihn nicht gerettet hätte. Habe man sich nun aber einen Beichtvater erwählt, so solle man dessen Zuspruch auch annehmen, als ob er von Gott selbst käme. Er erzählt von sich, daß manches Wort des Bugenhagen, dem er zu beichten pflegte, ihm rettend, wie von Gott selbst gesprochen, aufgegangen sei. Das Gebet aller Freunde hielt er für heilsam, eine Quelle lebendiger Kraft, wenn es aus dem Herzen kam. Das im Bewußtsein angesammelte Gift sollte in der Beichte, überhaupt in der Mitteilung an Freunde, ausströmen. Aus demselben Grunde empfahl er das Sichgehenlassen im Freundeskreise. „Darum wollte ich Ew. Fürstl. Gnaden als einem jungen Mann lieber vermahnen, immer fröhlich zu sein, zu reiten, jagen und anderer guter Gesellschaft sich fleißigen“, so schrieb er dem schwermütigen Prinzen Joachim von Anhalt, „die sich göttlich und ehrlich mit Ew. Fürstl. Gnaden freuen können … So hat auch Gott geboten, daß man solle fröhlich vor ihm sein und will kein trauriges Opfer haben … Es glaubt niemand, was Schaden es tut, einem jungen Menschen Freude wehren und zur Einsamkeit und Schwermut weisen … Denn ich denke fürwahr, Ew. Fürstl. Gnaden möchten zu blöde sein, fröhlich sich zu halten, als wäre es Sünde … Wahr ists, Freude in Sünden ist der Teufel, aber Freude mit guten, frommen Leuten in Gottesfurcht, Zucht und Ehren, obgleich ein Wort oder Zötlein zu viel ist, gefällt Gott wohl. Ew. Fürstl. Gnaden seien nur immer fröhlich, beides, inwendig in Christi selbst, und auswendig in seinen Gaben und Gütern; er wills so haben, ist drum da und gibt darum uns seine Güter, sie zu gebrauchen.“

Lies bitte den folgenden Brief Luthers an Hieronymus Weller, den jungen Hauslehrer seiner Kinder; der wird dir seine ganze Weisheit und Liebe zeigen: „Mein liebster Hieronymus, du mußt einsehen, daß diese deine Versuchung vom Teufel kommt, und daß du deswegen so von ihm gequält wirst, weil du an Christus glaubst; sieh doch, wie sicher und froh er die ärgsten Feinde des Evangeliums läßt, Eck, Zwingli und andere. Wir müssen den Teufel zum Gegner und Feind haben, wir, die wir Christen sind, wie Petrus sagt: Euer Feind, der Teufel, geht umher usw. Bester Hieronymus, freue dich dieser Versuchung des Teufels, die ein sicheres Zeichen ist, daß du einen gnädigen Gott hast. Du sagst, die Versuchung sei schwerer, als du tragen kannst, und du fürchtest, sie werde dich so erdrücken, daß du in Verzweiflung und Gotteslästerung fallest. Ich kenne diesen Kniff des Teufels: wenn er einen nicht mit dem ersten Anfall der Versuchung zermalmen kann, versucht er ihn durch Ausdauer zu ermüden und zu schwächen, bis er fällt und gesteht, daß er besiegt ist. Deswegen, wenn immer die Anfechtung kommt, hüte dich, dich in einen Streit mit dem Teufel einzulassen und diesen tödlichen Gedanken nachzuhängen. Das ist nämlich nichts anderes, als an den Teufel glauben und ihm unterliegen. Gib dir vielmehr Mühe, die vom Teufel gesandten Gedanken zu verachten … Fliehe durchaus die Einsamkeit, denn er stellt dir am meisten nach, wenn du allein bist. Durch Spiel und Verachtung wird dieser Teufel besiegt, nicht durch Widerstand und Streit. Vergnüge dich und scherze darum mit meiner Frau und den anderen, wodurch du die teuflischen Anfechtungen betrügst, und sei gutes Mutes, mein Hieronymus. Diese Anfechtung ist dir notwendiger als Trank und Speise. Ich will dir erzählen, wie es mir ergangen ist, als ich ungefähr in deinem Alter war. Als ich zuerst im Kloster war, ging ich immer betrübt und traurig einher und konnte die Traurigkeit durchaus nicht loswerden. Deswegen besprach ich mich mit Dr. Staupitz, einem Manne, von dem ich gern spreche, und eröffnete ihm, was für entsetzliche Gedanken ich hätte. Darauf sagte er: Du weißt nicht, Martin, wie nützlich und notwendig dir diese Anfechtung ist. Es ist nicht zufällig, daß Gott dich versucht, sondern du wirst sehen, zu was für großen Dingen er dich brauchen will. Und so ist es gekommen. Denn ich bin ein großer Doktor geworden (das darf ich mit Recht von mir sagen), was ich nie für möglich gehalten hätte zu der Zeit, wo ich unter den Anfechtungen litt. Ohne Zweifel wird es dir auch so gehen. Du wirst noch ein großer Mann werden. Sieh nur zu, daß du inzwischen guten und tapferen Mut hast, und glaube mir, daß solche Stimmen, wie sie besonders an große und gelehrte Männer ergehen, von Gott eingegeben und weissagend sind. Ich erinnere mich, daß einmal ein Mann, den ich tröstete, weil er ein Kind verloren hatte, zu mir sagte: Martin, du wirst sehen, daß du ein großer Mann werden wirst. An diesen Ausspruch habe ich oft gedacht: wie ich dir gesagt habe, solche Stimmen haben etwas Prophetisches. Sei deshalb gutes Mutes und wirf die leeren Anfechtungen von dir. Immer wenn der Teufel dich mit Gedanken quält, suche den Umgang mit Menschen, oder trinke etwas reichlicher, vergnüge dich, scherze, tu etwas Lustiges. Man muß zuweilen etwas mehr trinken, spielen, scherzen und zum Haß und zur Verachtung des Teufels sündigen, damit wir ihm nicht Ursache geben, uns ein Gewissen aus leichten Dingen zu machen oder uns dadurch zu besiegen, daß wir uns allzusehr quälen, damit wir nicht sündigen. Wenn dir der Teufel sagt, du sollst nicht trinken, erwidere ihm, grade deswegen, weil du es mir verbietest, will ich um so mehr im Namen Jesu Christi trinken. Tu immer das Gegenteil von dem, was der Teufel will … Könnte ich nur eine ordentliche Sünde begehen, nur um den Teufel zu überwinden, damit er einsieht, daß ich keine Sünde anerkenne und mir keiner Sünde bewußt bin. Wir müssen dann die ganzen Zehn Gebote uns aus dem Sinn schlagen, wir, sage ich, die so vom Teufel gequält werden. Und wenn der Teufel uns unsere Sünden vorwirft und uns des Todes und der Hölle schuldig spricht, dann müssen wir antworten: Gut, ich gestehe, daß ich des Todes und der Hölle schuldig bin, und was weiter? Werde ich deswegen auf ewig verdammt sein? Nicht im geringsten; ich weiß, daß einer für mich gelitten und genug getan hat, der heißt Jesus Christus, der Sohn Gottes. Wo er bleibt, da werde ich bleiben.“

Das heißt: Wer ein starkes Selbst ist, der muß zunächst alles hassen, was nicht dies Selbst ist und durch sein Dasein dies Selbst einschränken will. Wer aber ein starkes Selbst ist, kann auch etwas Großes und Göttliches werden, sowie er erkennt, daß sein Selbst nichts Vereinzeltes, sondern in Gott, in der Hingabe an Menschen ist. Welche Kühnheit aber, dies zu sagen, und welche Weisheit, es in Bildern zu sagen, wodurch das Selbst von sich selbst befreit und entlastet wird.

Jeder Arzt kann erfahren, wie leicht gerade der Kranke, der sich als wehrlose Beute von Gedanken fühlt, die ihn elend machen und die er doch nicht loswerden kann, begreift, daß sie von einer teuflischen Macht ausgehen, die sich seiner bemächtigen will. Man gewinnt einen festeren Standpunkt, sowie man sich einem persönlichen, außer einem selbst befindlichen Feind gegenüber weiß.

Es wird an diesem Punkte deutlich, was der Menschheit mit der Erkenntnis, daß Gott in ihr, nicht außer ihr ist, zugemutet ist. Gegen einen äußeren Feind ist es leichter, als gegen sich selbst zu kämpfen. Es ist nicht erwiesen, ob Luther das Tintenfaß gegen den Teufel geworfen hat; aber gewiß ist, daß es seinem Wesen und seinen Überzeugungen durchaus entsprochen hätte. „Sei der du bist!“ pflegte er laut zu rufen, wenn er irgendwie die Macht des Bösen spürte; das heißt: der du kein Sein hast, sondern Blendwerk bist, verschwinde! Andererseits riet er Kranken von einem angestrengten Kampfe gegen den Teufel ab; lieber solle er sein Wüten über sich ergehen lassen und warten, bis Gottes Gnade ihn erlöse, die vielleicht schon ganz nahe sei. Er wollte es vermeiden, das willkürliche Selbst anzuregen, dessen Übermaß der Krankheit Ursache ist.

Darauf gingen ja überhaupt, allen Menschen gegenüber, seine vorbeugenden Warnungen, die eigene Kraft nicht zu überspannen; lieber zeitweise untätig zu bleiben, sich gehen zu lassen, als Taten und Werke zu erzwingen.

Es muß jedem auffallen, wie vielfach Luthers Art der Behandlung von Geisteskranken mit der moderner Seelenärzte übereinstimmt. Auch sie lassen den Kranken beichten, raten ihm, sich gehen zu lassen, erkennen, daß Neigung zur Sünde, die unterdrückt und gleichsam nach innen gebogen wird, das Innere vergiftet. Auch sie sorgen möglichst für ablenkende Tätigkeit, und auch in ihrer Behandlung spielt die Liebe eine bedeutende Rolle; aber gerade hier zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied.

Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in einer Schwäche oder Krankheit des Herzens, der positiven und aktiven Kraft im Menschen, infolge welcher die negativen, teuflischen Kräfte die Überhand gewinnen und eine Anarchie und Verwirrung entsteht, dann aber, da alle anderen Organe Kreaturen und Untertanen des Herzens sind und ihre Kraft von ihm empfangen, eine allgemeine Erschöpfung. Es handelt sich also um eine Kräftigung des Herzens. Ein leicht erklärlicher Irrtum hat zu der Annahme verführt, man könne dem Herzen durch Unterdrückung der negativen Kräfte zu Hilfe kommen. Indessen während ein starkes Herz diese Bändigung mit Nutzen selbst vornehmen kann und soll, so wird ein schwaches und krankes dadurch nicht stärker, daß seine Untertanen, gleichsam sein Reich, auch geschwächt werden; die Zerstörung wird dadurch nur weiter ausgedehnt.

Die Kräftigung des Herzens kann auf geistigem Wege nur durch das Wesen des Herzens selbst geschehen, also durch Liebe und Wahrheit, und es ist ein großes Verdienst der modernen Seelenheilkunde, dies eingesehen zu haben. Nun setzte aber der Teufel, der Affe Gottes, neben die göttliche Liebe die teuflische, die nicht wie die göttliche Liebe auf Überfluß und Glauben beruht, sondern auf Mangel und Mißtrauen und demzufolge nicht Verschwendung und Empfangen, sondern nie gesättigtes Begehren und Verzehren ist. Demnach, wenn der Seelenarzt sich mit irdischer Liebe von den Kranken lieben läßt, so entzieht er ihnen Kraft, anstatt ihnen zu geben, und mästet sich auf Kosten der Bedürftigen, die er speisen sollte. Ein Herz voll göttlicher Liebe lenkt unwillkürlich von der irdischen, für Kranke gefährlichen Liebe ab; wer das nicht tut, stärkt unwillkürlich das, was überwunden werden sollte. Neben der unwillkürlichen Wirkung des Herzens muß die bewußte durch das Wort hergehen: der Arzt sollte deshalb nicht nur ein starkes Herz, sondern auch ein reines Herz voll großer Gedanken haben. Nur das Wort der Wahrheit, die richtige Selbst- und Gotteserkenntnis kann den Kranken selbständig machen; ohne sie würde er nie auf eigenen Füßen stehen können, sondern immer vom Arzte abhängig bleiben. Dem Kranken die Ursache seiner Leiden zum Bewußtsein zu bringen schadet nur, außer wenn man zur letzten, innersten Ursache vordringt, deren Wesen stets in einer Verdrängung der göttlichen Kraft durch Vordrängen der selbstischen Einzelkräfte bestehen muß. Schließlich würde eine beständige Zufuhr von Kraft den Kranken überladen und schwächen, wenn er sie nicht in der Berührung und im Kampfe mit den Menschen wieder ausgäbe. Die von den Menschen ausgehende Gegenwirkung erzielt dann den Reiz, der wiederum Kraft erregt, so daß allmählich das Spiel des Lebens sich durch sich selbst erhält. Die Erkenntnis, daß Gott als Person sich nur in der Menschheit offenbart, muß den neuen Mut zum Kampfe des Lebens geben, der ein Zeichen der Wiedergeburt ist.

Indessen wie ich schließen will, fühle ich, wieviel Unklarheit noch zurückbleibt, und sehe ich ein, daß ich mich über die Physiologie des Teufels noch nicht deutlich genug ausgedrückt habe.

Unter Teufel ist zu verstehen dasjenige Maß von Aktivität, das ist Geist oder Kraft, welche über das Maß von Aktivität hinausgeht, das durch entsprechende Passivität, also durch Stoff, gebunden werden kann. Dies Mehr von Aktivität ist der Widersprecher, den Gott sich gesetzt hat, damit Leben sei. Hieraus wird klar, warum in allen Mythologien das Feuer zugleich das Abzeichen des guten Gottes und des Gegengottes ist, er heiße Loki, Luzifer, Prometheus oder wie immer. Das reine Feuer, der Gott in seiner Majestät, verzehrt die Sterblichen zu Asche; das durch den Stoff, nämlich Wasser, Erde und Luft sowohl im Makrokosmos wie im Mikrokosmos gebundene Feuer, der geoffenbarte Gott, ist der Gott, den wir anbeten. Beim Menschen ist der Geist im Blute, vermutlich als eine der Elektrizität verwandte Kraft. Das Fleisch und Blut Christi, das wir im Abendmahl nehmen, ist eben wirklich Stoff und Geist. Jedes willkürliche Hervorbrechen und Überhandnehmen des Feuers verzehrt den Stoff, womit denn aus dem Göttlichen das Teuflische wird: das Genie grenzt an den Wahnsinn. „Laßt dicke Menschen um mich sein und die gut schlafen“; das natürliche Gefühl empfindet das Dicke richtig als das Beruhigende, welches das teuflische Feuer dämpft, allerdings auch das Grab des göttlichen werden kann. Gott offenbart sich nur im Stoff, im Fleisch, nur in Verbindung mit dem Stoffe wird das Feuer produktiv; aber schließlich löscht der Stoff die Kraft aus oder verzehrt umgekehrt die Kraft den Stoff.

Auf eine richtige Verteilung des Blutes im Körper kommt also alles an; bei allen Kranken muß dafür gesorgt werden, daß das Blut dem ganzen Organismus zugute kommt. Christus, der göttliche Ganzmacher, hat uns gelehrt, daß nur die von Herzen kommende Tat den in unserem Blute vorhandenen Geist zur richtigen Wirksamkeit bringt, so daß er unseren ganzen Körper vergeistigt. Das Übermaß von Aktivität, welches entweder den Menschen selbst oder andere, seine Opfer, verzehrt, nach der von Christus gegebenen Lehre in die richtige Bahn zu lenken, ist die Aufgabe jedes Arztes und des Seelenarztes insbesondere.

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