XXI

Luther datierte seine endgültige Erlösung von der Melancholie nicht von dem Augenblick, wo er durch Staupitzens Vermittelung das Wesen Gottes erkannte, sondern von dem, wo er auf Staupitzens Befehl Professor und Prediger wurde. Dieser erste Schritt riß ihn göttlich zwingend auf seine gewaltige Laufbahn. Seine bewußte Seele kämpfte fortwährend gegen die hohe Berufung, wie die Propheten des Alten Bundes sich unter Qualen gegen Gottes Wort wehrten. Denn es ist so, daß Gott die am meisten Abgesonderten, die größten Sünder, zu seinem Werkzeug wählt; die Sterbenwollenden zwingt er zum Leben, weil er ein Gott des Lebens ist und den Tod haßt. Luthers persönliche Sehnsucht ging in den kühlen Tempel seines Innern, und wen rührte nicht der Schmelz seiner Stimme, wenn er dort kniet und anbetet. Die Süßigkeit dieser Stimme stand aber in Wechselbeziehung zu ihrer donnernden Kraft im Kampfe gegen die Welt. Einen Gegensatz zur Welt bedingt das Christentum; ist dieser Gegensatz einmal da, die Wendung nach dem Unsichtbaren hin vollzogen, so folgt natürlich die Neigung, sich ganz von der Welt abzulösen und in Gott zu versenken. Dies ist der Punkt, an dem viele, die berufen sind, scheitern: sie wissen nicht oder wollen nicht wissen, daß Gott zwar der Unsichtbare ist, aber im Sichtbaren erscheint; daß er das Zeichen zum Wort gesetzt hat. Gott, die Liebe, hat sich als Form, als Tat, als Wahrheit geäußert; daraus folgt, daß auch wir uns äußern und betätigen sollen. „Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in der Kraft.“ Gott sollen wir nicht nur im Herzen erkennen, sondern auch öffentlich bekennen. Christus war die Liebe, die Tat wurde, und Liebe, die nicht Tat wird, ist keine Liebe. Das enge Herz, das nur die eigene Welt erhält, ist menschlich; das göttliche hat einen Überfluß, der in die Welt hinaus wirkt.

Das Problem der Beziehungen des Menschen zu Gott und den Menschen wurde zu Luthers Zeit als das Verhältnis von Glaube und Liebe verhandelt; ob der Glaube der Liebe vorangehen müsse oder umgekehrt, und welches von beiden größer sei. Da Luther damit begann, die guten Werke zu bekämpfen, war es natürlich, daß er zuerst die Notwendigkeit des Glaubens, der göttlichen Gesinnung, betonte, die Betätigung derselben nicht oder weniger erwähnend, hauptsächlich auch deshalb, weil sie ihm, seiner Natur nach, selbstverständlich war; indessen fügte er doch stets hinzu, daß aus dem Glauben an Gott die Liebe zu den Menschen von selbst folge, ja er sagte einmal, daß Glaube und Liebe überhaupt zusammenfielen, in der Weise, daß man ein und dieselbe Kraft in bezug auf Gott Glaube, in bezug auf die Menschen Liebe nennte. Bekanntlich hat Paulus in seinem Hoheliede der Liebe gesagt: „Und wenn ich allen Glauben hätte, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ Luther mißbilligte das insofern, als es keinen Glauben, das heißt natürlich keinen Glauben an Gott, ohne Betätigung in der Liebe zu den Menschen gebe. Gott liebt die Menschen, weil sie „seines Geschlechts“ sind; Liebe ist das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Wer die Zusammengehörigkeit der Menschen nicht erkannt hat, hat auch Gott nicht erkannt, von dem alle Menschen ausgehen und in den alle münden. Plenitudo legis est dilectio, die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Wer die Menschen liebt, ist gläubig und Gottes Kind, wenn er es auch selbst nicht wüßte, ja mit Worten bestritte; wer die Menschen nicht liebt, ist ungläubig, wenn er auch sein Leben mit der Betrachtung Gottes und Beobachtung göttlicher Gebote zubrächte. „Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mirs nichts nütze.“ Wie aber aus dem Glauben an Gott mit Notwendigkeit die Liebe des Göttlichen in der Menschheit fließt, so der Haß des Ungöttlichen in Form, Tat und Wort.

Wenn man die Darstellungen Christi in der bildenden Kunst betrachtet, so sieht man, wieviel besser die Menschen den liebenden und verzeihenden Christus als den zürnenden begreifen; daß es keine Liebe des Guten ohne Haß des Bösen und Kampf gegen das Böse gibt, möchten sie sich gern verhehlen. Dennoch schildert die Heilige Schrift Christus deutlich als den kämpfenden und triumphierenden Helden, den allerdings im Gefühl seiner Liebe, im Bewußtsein seines Rechtes, seines notwendigen Unterganges in der Welt und seines Sieges im Geist auch im glühendsten Zorne eine großherzige Gelassenheit, eine strenge Sammlung nie verläßt. „Christus ist zu einem Zeichen gesetzt, dem widersprochen werden soll“, sagt Luther einmal, „und viele werden sich an ihm stoßen, fallen und sterben. Alles Streiten und Krieg des Alten Testaments sind Figur gewesen der Predigt des Evangelii, das muß und soll Streit, Uneinigkeit, Hader und Rumor anrichten.“ Daß Christus selbst gesagt hat, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, wirst du wissen. Sowie Christus das Boot betrete, sagt Luther, erhebe sich Sturm, und ein anderes Mal: „Denn wo der Mann kommt und sich sehen läßt, da hebt sich bald ein Rumor und Fallen an.“ Widerspruch erregt und überwindet Christus durch die Liebe und die Wahrheit, die er vertritt, gegenüber der Selbstsucht und der Lüge, die in der Welt herrschen. Mitten in den Kampf ums Dasein hinein verkündet er das Recht der Liebe; der Lüge und Selbsttäuschung der Welt, daß sie, die Scheinende, Gott sei, stellt er die Wahrheit entgegen, daß er, der Unsichtbare, Gott ist. Den einzelnen, der sich an Gottes Stelle setzt, wirft er vom angemaßten Throne und ruft ihm zu, daß Gott im Ganzen ist, während der einzelne vergeht. Darum kann es nicht anders sein, als daß die wahren Christen um Christi willen werden Verfolgung leiden. „Kein Volk auf Erden muß solchen bitteren Haß leiden, sie müssen Ketzer, Buben, Teufel und die schädlichsten Leute auf Erden heißen.“ Ja, man erkennt die Auserwählten daran, daß sie von der Welt gehaßt werden. Daß Luther die Werke, durch die der Glaube sich betätigt, den Kampf gegen das Böse außer uns, sowie den Kampf gegen das Böse in uns, diesen allerbittersten und allerschwersten verhältnismäßig viel weniger als den Glauben betonte, ist aus seiner Furcht zu erklären, die Menschen würden diese unwillkürlichen Werke, die der Glaube von selbst mit sich bringt, mit den willkürlichen Werken der Moral verwechseln. Dazu kommt, daß derjenige, der wirklich Glauben und Liebe hat und sie mit Notwendigkeit betätigt, vergißt, davon zu sprechen. Luthers Leben war ein fortwährendes Ausüben der Liebe, ein beständiges Sichopfern für die Menschen. Er wandte sich nicht mit vornehmer Verachtung von der Welt ab, sondern warf sich mitten in sie hinein, so daß er kaum noch, wie man sinnvoll sagt, zu sich selbst kam. Das ist es eben, was den Christen macht: Der sinnliche Mensch bejaht die Welt und genießt sie, der Buddhist oder Mystiker verneint sie und entsagt ihr, der Christ bejaht und verneint sie zugleich, das heißt er überwindet sie. Gewiß hat Luther die Hälfte seines köstlichen Lebens damit zugebracht, „Mansfeldische Säuhändel“ zu schlichten, vom selben Wert wie jener letzte von allen, nach dessen Beilegung er starb. Er war der Beschützer aller Schwachen und Unterdrückten ohne eine Spur von Menschenfurcht. Was menschliche Größe ist, kann man aus Luthers Briefen an die Fürsten, mit denen er zu tun hatte, ersehen, vor allem an seine kursächsischen Oberherren. Es ist, als höre man Gott selbst sprechen: gütig, langmütig, wahr, die Herzen kennend und führend, zuweilen streng und blitzend, immer weit, himmelweit überlegen. Die gegnerischen Fürsten donnert er zusammen, daß man meint, es bleibe kein Stück von ihnen übrig; aber bei alledem ist es Donner, der aus einem Himmel unerschöpflicher Liebe kommt. Man begreift nicht, wie er die ungeheure Arbeit, die ihm durch die Sorge für andere Menschen auferlegt wurde, bewältigte; in der Tat hätte menschliche Kraft dazu nicht ausgereicht. Solche Menschen pflegen nicht viel von Liebe zu reden; tat Luther es einmal, so wurde allen anderen bange, weil sie merkten, daß das, was sie Liebe oder Mitleid nannten, gar nicht Liebe war. Sein Wirken ging immer gleichzeitig nach drei Seiten: liebend gegen die Hilfsbedürftigen, hassend gegen die Bösen, mahnend gegen die Gleichgültigen. Der schwerste Kampf ist eigentlich gar nicht der gegen das Böse; sondern der gegen die menschliche Trägheit, die unter der Maske der Nachgiebigkeit, Versöhnlichkeit und Milde das Böse und Unwahre vertuscht und sich dem Kampfe entziehen will. „Wenn du über das Evangelium richtig denkst, kann seine Sache nicht ohne Aufruhr, Skandal, Unruhe geführt werden. Du wirst aus dem Schwert keine Feder, aus dem Kriege keinen Frieden machen: das Wort Gottes ist Schwert, ist Krieg, ist Verderben, ist Ärgernis, ist Gift und wie ein Bär auf der Straße und ein Löwe im Walde.“ So schrieb er an seinen Freund Spalatin, den Hofkaplan des Kurfürsten, der die Gegensätze wohl sah, aber nach weltlicher Art umgehen wollte. „Hüte dich zu glauben“, schrieb er demselben, „du könntest Christus in der Welt fördern mit Frieden und Sanftmut, der mit eigenem Blute gekämpft hat wie nach ihm alle Märtyrer.“ Die Welt zieht deshalb den stets zum Vertuschen neigenden Melanchthon dem nie die Wahrheit verleugnenden, kämpfenden Luther vor. Auf Melanchthon allein gestellt, würde das von Luther neu aufgerichtete Evangelium kaum eine Spur hinterlassen haben; auch so verflachte es bald nach Luthers Tode. Das Größte ist, mit seiner Person für sein Wort eintreten, das ist, es mit seiner Person wie mit einem Schilde decken; aber „es gehört dazu ein trefflicher Mann, der ein Löwenherz habe, unerschrocken die Wahrheit zu sagen“. Die meisten Kämpfer unterscheiden sich von Luther dadurch, daß sie nicht aus Liebe Gottes und Haß des Teufels, sondern aus Eitelkeit, Neid und persönlichem Haß kämpfen; Luther hatte nur wenig redliche Gegner und keinen von göttlicher Liebe in den Kampf getriebenen. Viele unter seinen Feinden waren Neider und Nebenbuhler, denen seine Größe keine Ruhe ließ; nachdem er das Tor der Erkenntnis aufgebrochen hatte, drängten sie nach und wollten die vordersten sein. Anderen war es um ihre weltlichen Vorteile zu tun, andere wollten nur Aufsehen erregen. Luther durchschaute seine Gegner, und es war nicht anders möglich, als daß sie ihm widerwärtig waren, denen es immer in erster Linie um sich selbst, nicht um die Wahrheit zu tun war; aber selbst Karlstadt, der ihm mit seiner Eitelkeit das Leben so sauer gemacht hat, nahm er liebevoll auf, als derselbe sich im Elend an ihn wandte, und wurde sein Fürbitter beim Kurfürsten. Was für großmütige Liebe bricht aus seinen Worten über Ökolampad mitten im Abendmahlstreit: „Welchem Gott viel Gaben geschenkt hat vor viel anderen und mir ja herzlich für den Mann leid ist.“ Wer in solchen Worten den Rhythmus des Herzens nicht fühlt, dem hat es selbst nie geschlagen. Kein einziger von Luthers Gegnern, wie bedeutend er auch sein möge, hat wie er Worte der Liebe; wie auch keiner wie er Worte des Zornes und Hasses hat.

Gegen die Mystiker aller Art verhielt sich Luther deshalb streng ablehnend, weit mehr als gegen schlechtweg weltliche, religiös gleichgültige Leute. Er nannte sie Enthusiasten, Schwärmer und Flattergeister, insofern sie Gott nicht in der sinnlichen Erscheinung suchen, wo sie ihren Glauben irgendwie betätigen müßten, sondern im Geist, der eigentlich nirgends ist, und wo sie deshalb nur zu schwärmen und zu flattern brauchen. „Ich hasse die Flattergeister und liebe dein Gesetz“, sagte Luther mit David, das göttliche Gesetz, das Gehorsam und ein bestimmtes Tun verlangt, der unfruchtbaren Gefühlsschwelgerei des Mystikers entgegenstellend. Alles Frommtun im Winkel, das Pochen auf göttliche Eingebung außerhalb der Bibel, die Heiligkeit und Rührseligkeit gewisser Wanderprediger, jede Absonderung vom allgemeinen und öffentlichen Gottesdienst, wie sich das bei Waldensern und ähnlichen Sekten fand, flößte Luther Abneigung und Mißtrauen ein, auch wenn es zunächst sittlich makellos erschien. Zahlreiche Beispiele bewiesen, wie leicht die übersinnliche Geistigkeit in ungeistige Sinnlichkeit, in Zügellosigkeit nach jeder Richtung umschlägt. Aber auch die Mystik feiner, gutgesinnter Menschen bekämpfte er, zum Beispiel an Staupitz, den er wohl von allen Menschen am meisten geliebt hat. Ohne daß er darin je nachgelassen hätte, forderte er doch auch von ihm lautes Bekennen und Eintreten für seinen Glauben.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt.

Empfunden hat das Luther auch; viel mehr als Goethe, da er sich der Welt weit mehr in Liebe und Haß opferte und deshalb mehr unter ihr litt. Gegen das Ende seines Lebens verließ er einmal Wittenberg, um nie mehr zurückzukehren, so widerte ihn die zunehmende Gottlosigkeit seiner Umgebung an; aber die Bitten seines Fürsten bewogen ihn, das Joch wieder auf sich zu nehmen. Der gemarterte Prophet sehnte sich bitterlich nach Ruhe; aber der Gott des Lebens hieß ihn bis zum letzten Atemzuge leben. Leben ist die Aufgabe des Menschen und der Lohn des Heiligen, Tod ist das Ziel des Sichabsondernden und seine Strafe.

Daß Tolstois Kampf, der mit so großer Gebärde der Welt den Handschuh hinwarf, doch verhältnismäßig wenig fruchtete, lag, wie mir scheint, an einer gewissen persönlichen Verschrobenheit und Schrullenhaftigkeit, die nun einmal den heutigen Menschen anhängt. Wir sind allzu persönlich geworden; unsere Verschiedenheit von den anderen, unser Fürsichsein, sollte das Gepräge sein, das das Allgemeine, das Göttliche, uns zueignet; aber es ist eine Maske geworden, unter der das Allgemeine geschwunden ist. Unsere Herzen sind teils zu enge, teils zu weit; sie haben den rhythmischen Wechsel von Flut und Ebbe nicht mehr. Alle die einzelnen, um die sich in Deutschland Gemeinden sammeln, haben weit mehr als Tolstoi etwas Gewaltsames, Groteskes, Winkelpredigerhaftes, Lächerliches. Die meisten von ihnen sind durch die Worte des Paulus gerichtet: „Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein klingendes Erz und eine tönende Schelle.“ Sie wären wohl auch niemals auf den Markt getreten, wenn sie des Weihrauchs entbehren könnten, und mit Recht: ihr bißchen Gottähnlichkeit kann sich unserem glaubenslosen Klima nicht aussetzen.

An die Stelle von Haß und Liebe, von Kampf und Opfer tritt bei den allzu persönlichen, ungläubigen Menschen unserer Zeit, bei den „Heuchlern und Gleisnern“ die Medisance. Man läßt sich gefallen, was einem zuwider ist, und es ist einem alles zuwider außer man selbst; aber man rächt sich daran durch einen Spott, der zu höflich ist, um eine Herausforderung zu sein, und witzig genug, um sich nötigenfalls für einen Spaß auszugeben. Die Duldsamkeit ist nicht auf Großmut gegründet, sondern auf Gleichgültigkeit oder Angst vor dem Kampfe.

Luther war allerdings der erste, der in religiösen Dingen den Grundsatz der Toleranz aufstellte; aber nur insoweit er es für unsinnig erklärte, Irrende dadurch überzeugen zu wollen, daß man sie verbrennte. Mit dem Wort aber solle man sich befehden, und er selbst vergleicht sich mit dem Propheten, der in einer Hand die Kelle führte und baute, in der anderen das Schwert, um sein Werk gegen die Feinde zu verteidigen. In einem brieflichen Gutachten an seinen kurfürstlichen Herrn schrieb er die berühmten Worte: „Man lasse sie nur getrost und frisch predigen, was sie künnten, und wider was sie wöllen; denn wie ich gesagt habe, es müssen Secten seyen (1. Kor. 11, 19), und das Wort Gottes muß zu Felde liegen und kämpfen, daher auch die Evangelisten heißen Heerscharen und Christus ein Heerkönig ist der Propheten. Ist der Geist recht, so wird er sich vor uns nicht furchten und wohl bleiben. Ist unser recht, so wird er sich vor ihnen auch nicht, noch vor jemand furchten. Man lasse die Geister aufeinander platzen und treffen. Werden etliche indes verführt, wohlan, so gehts nach rechtem Kriegslauf; wo ein Streit und Schlacht ist, da müssen etliche fallen und wund werden; wer aber redlich ficht, wird gekrönt werden.“

Für Luther war der Christ wesentlich der Ritter, wie später für Gustav Adolf der Kavalier, der für Gottes Wort kämpft. „Ein Christenleben soll ein Krieg sein, und die das Wort haben, sollen vorhergehen in der Heerspitzen, das Schwert in der Faust haben und den Haufen hinter sich herziehen, gerüstet sein und allerwege auf die Puffe warten, wie in einer rechten Schlacht; sonst liegen wir bald darnieder.“

Dickens, auch ein Genie der Liebe, pflegte während seines Aufenthaltes in Lausanne eine Blindenanstalt zu besuchen und beobachtete dort ein zehnjähriges Mädchen, das taub, stumm und blind geboren war und bisher ganz ununterrichtet im Hause seiner Eltern gelebt hatte. Sowie man dies Kind sich selbst überließ, das heißt, es nicht anrührte, kauerte es sich mit an die Ohren hinaufgezogenen Händen nieder, genau in der Haltung eines Kindes vor seiner Geburt, und blieb so. Es fiel Dickens auf, daß dies auch die Haltung der Wilden ist, wie verschiedene Reisende sie beschrieben haben, unter anderem Defoe: „Ihre Haltung bestand gewöhnlich darin, daß sie auf der Erde saßen, die Knie an den Mund hinaufgezogen und den Kopf zwischen beiden Händen auf die Knie herabgeneigt“; und er erkannte es als die embryonische Haltung der noch unentwickelten Seele. In der Anstalt versuchte man nun eine Verbindung des Kindes mit der Außenwelt herzustellen. Der Direktor gab ihr zwei glatte runde Steine, die sie zwischen den Händen hin und her rollte: „Sie scheint zu denken, daß dies zu etwas führen soll, erkennt deutlich die Hand, welche ihr die Steine gibt, als eine freundliche und schützende, und sitzt stundenlang ganz geschäftig da.“ Man gewöhnte ihr die seltsame kauernde Haltung ab, erweckte in ihr das Vergnügen an der Geselligkeit, und sie begann zu lachen und in die Hände zu klatschen. „Ich habe nie in meinem Leben etwas in seiner Art Ergreifenderes gesehen“, erzählt Dickens, „als da man sie neulich in die Mitte einer Gruppe blinder Kinder stellte, die zur Klavierbegleitung im Chore sangen, und ihre Hand mit dem Instrument in Zusammenhang setzte und hielt. Ein Schauer durchdrang ihr ganzes Wesen, ihr Atem wurde schneller, ihr Gesicht rötete sich, und ich kann es mit nichts anderem vergleichen, als mit der Wiederbelebung eines beinah toten Menschen. Es war wahrhaft erschütternd, zu sehen, wie die Empfindung der Musik die in ihr verschlossene Seele erregte und aufscheuchte.“ Ich mußte an das Bild denken, wie Gott mit seinem Finger den noch in seiner bewußtlosen Dumpfheit daliegenden Menschen anrührt und durch das Überströmen seiner Kraft das schlafende Herz weckt. Die Stellung, die Dickens beschreibt, ist die des ganz einsamen Ich, des noch nicht mit der Außenwelt verbundenen Ich, das eigentlich noch gar keins ist, weil es seiner noch nicht bewußt geworden ist; es ist die Stellung der Seele des an Dementia, an Geistesabwesenheit Kranken, des sich selbst anbetenden Ungläubigen, des hochmütig und furchtsam zugleich vor dem Kampfe des Lebens sich Verkriechenden. Man kann auch sagen, es ist die Haltung der Seele des Nichtchristen und des modernen Menschen. Und wie erschütternd, daß Dickens durch jenes Schauspiel so erschüttert wurde, der Mensch mit dem zarten, scheuen Kinderherzen, dennoch in einem beständigen qualvollen Kampfe den Abgrund überwand, der ihn von den anderen Menschen trennte, um sich ihnen hinzugeben und sie an sich zu reißen. In ganz anderen Formen sich darstellend, ist es doch dem Gehalte nach das Leben Luthers.

Es ist auffallend, wie die Menschen der neuen Zeit zur indischen Philosophie hinneigen, sei es, daß sie indische Ideen in die christliche Religion hineinlegen oder geradezu die indische Philosophie über die christliche Religion erheben. Religion ist nur das Christentum, ja, Christentum und Religion ist gleichbedeutend, denn es ist die Verbindung der Menschheit zu einem Ganzen. Der Christ ist der, dem die Tat und das Wort gegeben sind, die die Menschen zu Brüdern und zu Gottessöhnen macht. Der Christ weiß, daß der Geist im Blute ist, ausgegossen zugleich mit dem vergossenen Blute Christi, und daß wir nur, wenn wir auch unser Blut vergießen, zu Gottmenschen werden. Die Frau vergießt ihr Blut, indem sie Kinder hervorbringt und alle Liebebedürftigen als ihre Kinder liebt, der Mann, indem er nicht nur für die Seinigen, sondern, soweit sein Einfluß reicht, für alle Hilfsbedürftigen kämpft. Du verstehst wohl, ohne daß ich es ausdrücklich bemerke, daß ich nicht an Krieg und Schwert denke, obwohl ja auch das in Betracht kommen kann; Liebe ist tatsächlich ein Blutvergießen, die starke Bewegung eines Herzens, das sein Blut durch den ganzen Körper hinströmt und ihn dadurch vergeistigt.

Die Seele ist das im Gehirn sich spiegelnde Herz, das bewußt gewordene Ich. Setzt das Blut sich im Gehirn fest, so wird es dem Herzen entzogen, das Dunkel des Allerheiligsten wird allmählich hell gemacht, die Kraft in Wissen verwandelt, der Mensch entherzt, entgeistet, entgöttert. Es ist ein großer Augenblick, wenn das Ich sich erkennt; reißt es sich aber nicht rechtzeitig vom Spiegel los, so ist es wie Narziß verzaubert und verloren. Hier muß sich der Christ seines Herrn erinnern, der sich als Gottes Sohn erkannte, aber, wie es in der Bibel so schön heißt, seine Gottheit nicht für einen Raub hielt, nicht für sich behielt, sondern seinen geringeren Brüdern opferte. Je höher wir zu stehen glauben, desto mehr sollten wir uns getrieben fühlen, uns anderen hinzugeben. Nicht daß wir, wie Don Quichotte, der Welt unsere Ritterdienste aufzwingen sollen; das möchten die modernen Menschen wohl auch, ruhmvolle Taten tun, unerhörte Opfer bringen, zu denen durchaus keine Gelegenheit ist. Auch da kann man wieder von Luther lernen, daß es darauf ankommt, das Nächstliegende zu tun, daß wir uns nicht mit selbstausgedachten, wunderlichen Geboten quälen sollen, während wir nicht imstande sind, die einfachen, von Gott gegebenen zu erfüllen.

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