Der erste Gemeinort des Geschmacks ist in dem Satze, womit sich jeder Geschmacklose gegen Tadel zu verwahren denkt, enthalten: ein jeder hat seinen eignen Geschmack. Das heißt so viel als: der Bestimmungsgrund 5 dieses Urtheils ist bloß subjectiv (Vergnügen oder Schmerz); und das Urtheil hat kein Recht auf die nothwendige Beistimmung anderer.
Der zweite Gemeinort desselben, der auch von denen sogar gebraucht wird, die dem Geschmacksurtheile das Recht einräumen, für jedermann 233 gültig auszusprechen, ist: über den Geschmack läßt sich nicht disputiren. 10 Das heißt so viel als: der Bestimmungsgrund eines Geschmacksurtheils mag zwar auch objectiv sein, aber er läßt sich nicht auf bestimmte Begriffe bringen; mithin kann über das Urtheil selbst durch Beweise nichts entschieden werden, obgleich darüber gar wohl und mit Recht gestritten werden kann. Denn Streiten und Disputiren sind zwar 15 darin einerlei, daß sie durch wechselseitigen Widerstand der Urtheile Einhelligkeit derselben hervorzubringen suchen, darin aber verschieden, daß das letztere dieses nach bestimmten Begriffen als Beweisgründen zu bewirken hofft, mithin objective Begriffe als Gründe des Urtheils annimmt. Wo dieses aber als unthunlich betrachtet wird, da wird das Disputiren 20 eben sowohl als unthunlich beurtheilt.
Man sieht leicht, daß zwischen diesen zwei Gemeinörtern ein Satz fehlt, der zwar nicht sprichwörtlich im Umlaufe, aber doch in jedermanns Sinne enthalten ist, nämlich: über den Geschmack läßt sich streiten (obgleich nicht disputiren). Dieser Satz aber enthält das Gegentheil des 25 obersten Satzes. Denn worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muß Hoffnung sein unter einander überein zu kommen; mithin muß man auf Gründe des Urtheils, die nicht bloß Privatgültigkeit haben und also nicht bloß subjectiv sind, rechnen können; welchem gleichwohl jener Grundsatz: ein jeder hat seinen eignen Geschmack, gerade entgegen ist. 30
Es zeigt sich also in Ansehung des Princips des Geschmacks folgende 234 Antinomie:
1) Thesis. Das Geschmacksurtheil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputiren (durch Beweise entscheiden).
2) Antithesis. Das Geschmacksurtheil gründet sich auf Begriffen; 35 denn sonst ließe sich ungeachtet der Verschiedenheit desselben darüber auch nicht einmal streiten (auf die nothwendige Einstimmung anderer mit diesem Urtheile Anspruch machen).