Dritter Abschnitt Autoritäten, gelehrte Zunft und Fortschritt

Schon an anderer Stelle habe ich meine Ansichten über das Versagen der sogenannten Autoritäten nicht minder als der ganzen gelehrten Zunft dem Genialen und Neuen gegenüber ausgesprochen. Der letzte Abschnitt des ersten Bandes dieses Buches enthält genügend Material zum Beweise dafür, daß der Fortschritt sich nicht durch, sondern trotz Autoritäten vollzieht und daß keineswegs nur im Mittelalter, sondern auch heute noch vorgefaßte Meinungen, Theorien und Hypothesen höher bewertet werden, als gut beglaubigte Beobachtungen, falls sie ihnen widersprechen. Dazu kommt das Gesetz der Trägheit, das gerade in Gelehrtenkreisen unverbrüchlich befolgt wird. Weiteres Material in dieser Richtung zu sammeln, war mir eine besondere Freude.

Beginnen wir mit den Naturwissenschaften.

Bekanntlich war Aristoteles das ganze Mittelalter hindurch eine unbestrittene Autorität in allen weltlichen Fragen. Wie wir noch später bei Betrachtung der Universitäten sehen werden, durfte niemand von seiner Lehre abweichen, es sei denn, sie widersprach einem Dogma. Galens Autorität als Arzt war nicht geringer, die der Bibel in allen Fragen ist hinlänglich bekannt. So werden wir denn sehen, daß es vor allem die genannten Autoritäten sind, denen der Fortschritt im harten Kampfe fußweise den Boden abgewinnen muß, um – andere Autoritäten dafür einzutauschen.

Galilei, 25jährig im Jahre 1589 zum Professor an der Universität Pisa ernannt, trat öffentlich gegen Aristoteles auf, indem er durch Vernunftschlüsse bewies, daß alle Körper gleich schnell fallen. Gleichzeitig trat er den experimentellen Beweis an, indem er vom schiefen Turm der Stadt unter anderem eine 100pfündige Bombe und eine halbpfündige Kanonenkugel fallen ließ, die bei der ungefähren Fallhöhe von 70 m kaum eine Handbreit abwichen. Trotzdem vertrauten die peripatetischen Kollegen ihrem Aristoteles mehr, als der direkten Naturbeobachtung, ja, sie empfingen den unbequemen Gegner mit Pfeifen. Dadurch wurde der große Forscher gezwungen, die Universität zu verlassen, um einer Kündigung seines Kontraktes zuvorzukommen. Als er die Jupitermonde entdeckt hatte, scheuten sich die peripatetischen Professoren, in ein Fernrohr zu sehen, aus Furcht, sie könnten diese Beobachtung bestätigt finden! Daß sie später die kirchliche Hilfe in Anspruch nahmen, um den Mann zu vernichten, der es gewagt hatte, das Aristotelische Himmelsgebäude zu stürzen, ist hinlänglich bekannt. Aber auch die wissenschaftlichen »Autoritäten« traten gegen seine Verteidigung des Kopernikus und der Drehung der Erde auf. Der Professor der Philosophie in Pisa, Scipione Chiaramonti (1565–1652), schrieb heftig gegen seine epochemachende Vergleichung des Ptolemäischen und Kopernikanischen Weltsystems und der Peripatetiker Claude Berigard (1578–1663) behauptete, Galilei habe dem Simplicius nicht die stärksten Gründe gegen die Bewegung der Erde in den Mund gelegt.[26]

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Da J. Baptista Benedettis mechanische Entdeckungen wiederholt Aristoteles widersprachen, fanden sie nicht die verdiente Beachtung. Im 16. Jahrhundert mußte die Physik nach Aristoteles oder zur Not, wenn es sich um statische Verhältnisse handelte, nach Archimedes gelehrt werden. Sonst konnte das Werk nicht den Beifall der zünftigen Gelehrten finden und wurde, soweit irgend möglich, totgeschwiegen.[27]

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Tycho de Brahe lehnte das Kopernikanische System ab, unter anderem, weil die Bibel (Josua 10, 12) direkt der Bewegung der Erde widerspräche. Allerdings stürzte er das bisher herrschende Ptolemäische System.[28]

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Peter Ramus (Ramée geb. 1515), ein verdienstvoller französischer Mathematiker, der auch als Lehrer der Beredsamkeit und Philosophie tätig war, griff Aristoteles, dessen Logik er noch nicht einmal gelten lassen wollte, kühn an. Dadurch entfesselte er einen förmlichen Sturm der Entrüstung an allen Universitäten, der für ihn die schlimme Folge hatte, daß er seiner Lehrerstelle in Paris entsetzt wurde und aus der Stadt fliehen mußte. Als er später zurückzukehren wagte und seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm, wurde er in der Bartholomäusnacht 1572 ermordet, wie man sagt auf Anstiften des Carpentarius, seines scholastischen Gegners.[29]

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Newton, der erst im 12. Lebensjahre auf die Schule kam und dort anfänglich als schlechter Schüler galt, veröffentlichte 1687 in seinem berühmten Werke Philosophia naturalis principia mathematica das bereits früher von ihm entdeckte Gravitationsgesetz. Statt nun anzuerkennen, was Newton unwiderleglich bewiesen hatte, daß alle Himmelserscheinungen wenigstens so vor sich gehen, als strebten alle Körper nach dem direkten Verhältnis ihrer Massen und dem indirekt quadratischen Verhältnis ihrer Entfernungen zueinander, negierten seine Cartesianischen Gegner einfach Newtons große Entdeckung.[30]

Später erklärte er kategorisch, »Hypothesen bilde ich nicht«. Durch die Autorität, die dieser Mann, dessen Schüler nach und nach mehr oder weniger alle Physiker wurden, im Laufe der Zeit erlangt hatte, bekamen die Hypothesen lange Zeit einen verächtlichen Beigeschmack und verschwanden mehr als nötig und dienlich aus der Physik.

Cotes, der Schüler Newtons, erklärte, allerdings nicht ohne seines Meisters Verschulden, die Schwere für eine einfachste, vom Schöpfer der Materie direkt eingepflanzte Ursache. Er hält es für irreligiös, nach weiteren Erklärungen derselben zu suchen und so den Schöpfer ganz eliminieren, oder doch ganz begreifen zu wollen. In der von ihm zu Newtons Lebzeiten veranstalteten 2. Auflage der »Principien« erklärte er schon das Suchen nach der Ursache der Schwere oder Vermittlung der Fernwirkung als ein Zeichen des Atheismus![31]

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Huygens veröffentlichte 1690 seine bereits 1678 vor der Pariser Akademie verlesene Abhandlung über das Licht, in der er eine vollständige Undulationstheorie des Lichtes entwickelte, die bis auf einen Hauptpunkt ganz mit unserer jetzigen Lichttheorie übereinstimmt. Huygens setzt nämlich einen höchst feinen und beweglichen, durch das ganze Weltall verbreiteten Stoff, den Äther, voraus. Wird an einer Stelle ein Ätherteilchen in Schwingung versetzt, so teilen sich die Schwingungen allen benachbarten Teilchen mit und durch den Raum pflanzt sich eine Ätherwelle fort, die jenes Teilchen zum Mittelpunkt hat. Trifft eine solche Welle unser Auge, so haben wir die Empfindung von Licht. Dank dieser Theorie gelang es für jede Richtung des in einen Doppelspat einfallenden Lichtstrahles die Richtung auch des außerordentlich gebrochenen Strahles durch Rechnung oder Konstruktion ohne jede weitere Beobachtung zu finden. Dieser Traité de la lumière, bzw. diese Undulationstheorie fand nicht die Anerkennung Newtons. Die Abhandlung wurde von den Physikern einfach totgeschwiegen und blieb in der Folgezeit ohne jede Wirkung. Sie war für ein ganzes folgendes Jahrhundert so gut wie nicht geschrieben. Noch die bedeutenden Geschichtschreiber zu Ende des 18. Jahrhunderts erwähnen das Werk fast nur als Kuriosität![32]

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Jean Richer († 1696) wurde von der Pariser Akademie im Jahre 1671 nach Cayenne geschickt, und kehrte zwei Jahre später von dieser Reise heim. Anfänglich wurde er wegen der Genauigkeit seiner Arbeiten sehr belobt, doch brachte er auch eine Entdeckung mit, die den Akademikern bald sehr unangenehm wurde. Er hatte von Paris nach Cayenne eine gute Pendeluhr mitgenommen, fand aber, daß sie in Cayenne täglich um zwei Minuten zu langsam ging und daß er das Pendel um 1,25 Linien verkürzen mußte. Er glaubte zuerst an einen Irrtum seinerseits, als er aber bei seiner Rückkehr nach Paris das Pendel wieder auf die frühere Länge stellen mußte, behauptete er mit Sicherheit die Veränderlichkeit der Länge des Sekundenpendels mit der geographischen Breite. Richer erklärte diese daraus, daß durch die Umdrehung der Erde die Schwere am Äquator verringert werde und daß auch vielleicht die Erde an den Polen abgeplattet sei und darum die Schwere nach den Polen hin zunehme. Die Akademie aber wollte durchaus nicht an eine Abplattung der Erde glauben. Übrigens widersetzte sich die Pariser Akademie auch dieser Tatsache, als Newton sie 1687 bewies. Man führte die Verlängerung des Pendels auf das heiße Klima zurück, wiewohl Newton nachwies, daß die Ausdehnung durch die Wärme viel zu gering sei.

Für Richer war seine Entdeckung sehr verhängnisvoll. Die eine unbequeme, weil in den Augen der Akademiker der geltenden Theorie widersprechende Beobachtung verringerte den Wert aller übrigen, so daß er schwer darunter leiden mußte und kränkelnd von der Reise zurückgekehrt, hinfort nur mehr geringen Anteil an den Arbeiten der Akademie nahm.[33]

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Thomas Youngs Arbeiten, durch die er zu einem Reformator der Theorie der Optik wurde, hatten zu seinen Lebzeiten gar keinen Erfolg. Henry Brougham (1778–1868) schrieb in der angesehenen Edinburgh Review vom Jahre 1803 sehr ungünstig über seine Arbeiten. Er vermochte in denselben absolut nichts, was den Namen einer Entdeckung, ja nur eines wissenschaftlichen Experiments verdiente, zu finden und konnte seinen Bericht überhaupt nicht schließen, »ohne die Aufmerksamkeit der Royal Society darauf zu lenken, daß sie in den letzten Zeiten so viele flüchtige und inhaltsleere Aufsätze in ihre Schriften aufgenommen habe«. Als William Hyde Wollaston sich für Youngs Interferenztheorie günstig ausgesprochen hatte, äußerte Brougham auch darüber seine Unzufriedenheit, »daß ein so genauer und scharfsinniger Experimentator die seltsame Undulationstheorie angenommen hat«. Die englischen Gelehrten gingen über Youngs Arbeiten ohne weitere Diskussion zur Tagesordnung über, die Deutschen übersetzen sie, ohne Gebrauch davon zu machen und die Franzosen lernten sie gar nicht oder doch nur ganz unvollkommen kennen. Schließlich wurde Young selbst wankend und bereit sein System aufzugeben![34]

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Als Fresnel durch seine Arbeiten die feste Begründung der Undulationstheorie des Lichtes gab, die Theorie der Interferenz und Beugung des Lichtes durch seine meisterhaften Messungen bestätigte, die Gesetze der Reflexion und Brechung des polarisierten Lichtes entwickelte, desgleichen die der Doppelbrechung des Lichtes in Kristallen u. a. m. konnte er doch den vollen Sieg seiner Ansichten nicht mehr erleben. Der gefeierte Physiker Biot vertrat nach wie vor die Emanationstheorie. Ganz ungeheuerlich aber erschien den Physikern die Annahme der Transversalschwingungen des Äthers. Weder Arago noch Laplace noch Poisson konnten sich zu ihr bekehren. Noch bis 1830 blieb die Allgemeinheit der Physiker dabei, daß Emissionstheorie und Undulationstheorie die optischen Erscheinungen ungefähr gleich gut erklären. Brewster lehnte die letztere sogar noch 1833 erbittert ab.[35]

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Als Fraunhofer im Sonnenspektrum die bekannten Linien fand und feststellte, daß sie immer unter denselben Umständen vorhanden waren und unter allen Umständen in denselben Farbentönen liegen blieben, was er im I. Band der Denkschriften für die Münchener Akademie der Wissenschaften 1814/15 veröffentlichte, legten die Physiker den Linien wenig theoretische Wichtigkeit bei. Biot erwähnte sie selbst in der 3. Auflage seines Lehrbuches noch nicht und die ersten Bände von Gehlers physikalischem Lexikon machten auch nur wenig Aufhebens von ihnen.[36]

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Die Theorien der Elektrodynamik und des Elektromagnetismus, die Ampère aufstellte, wurden anfänglich von den Physikern abgelehnt. Biot war des Unterganges dieser Lehren ganz sicher und erhoffte von den Physikern, daß sie ihm seinerzeit die Ehre zollen würden, daß er von Anfang an diese Hypothesen abgelehnt habe.[37]

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Als Sadi Carnot 1824, 28jährig, sein Werk »Réflexions sur la puissance motrice du feu et les machines propres à développer cette puissance« veröffentlicht hatte, durch das er der Vater der neueren Wärmetheorie wurde und in dem er zum ersten Male klar und deutlich die Erschaffung mechanischer nicht bloß, sondern auch physischer Kräfte leugnete und das perpetuum mobile mechanicum so gut wie das perpetuum mobile physicum, wenigstens soweit es thermodynamische Maschinen betraf, für unmöglich erklärte, erfuhr sein Werk völlige Nichtbeachtung. Weder Berzelius noch Gehlers Wörterbuch der Physik erwähnen Carnot. Erst nach der Entdeckung des mechanischen Äquivalents der Wärme fanden seine Arbeiten die verdiente Aufmerksamkeit.[38]

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Die von George Green 1828 gefundene Potentialfunktion wurde überhaupt nicht beachtet, ebenso die Arbeiten Hamiltons über dasselbe Thema nur wenig. Erst als Gauß 1840 die von ihm kurz Potential genannte Funktion bearbeitete, fand sie allgemeine Verbreitung und Anerkennung.[39]

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Faradays Bemerkungen über die Influenz fanden keine ungeteilt günstige Aufnahme und die meisten Physiker, zumal die deutschen, waren mit seiner Gegnerschaft gegen die actio in distans durchaus nicht einverstanden. Man hielt seine Ideen von einer vermittelten Fernwirkung für Gebilde einer ausschweifenden Phantasie oder verkehrt geleiteter Philosophie.[40]

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Euler führte 1762 Licht, Wärme und Elektrizität auf eine allgemeine Ursache, den Äther, zurück. Damit kam er, trotz mancher Mängel der Hypothese, dem Gesetz der Umwandlung der Kräfte sehr nahe und verdient unsere höchste Bewunderung dafür, daß er vor mehr als einem Jahrhundert nicht nur auf eine gemeinsame Wurzel aller Kräfte hinwies, sondern daß es ihm auch gelang, wenigstens teilweise die Erscheinungen aus ihr abzuleiten. Da er jedoch mit Newtons Autorität kollidierte, wußten seine Zeitgenossen sein Verdienst nicht zu schätzen. Bezeichnend ist, daß Priestley in seiner zu London 1772 erschienenen Geschichte der Optik in bezug auf den großen Mathematiker es ablehnt, »den Leser mit bloßen Hypothesen aufzuhalten«.[41]

Graf Rumford (1753–1814) hatte durch Beobachtungen beim Kanonenbohren in den Werkstätten des Militärzeughauses zu München und daran anschließende Versuche festgestellt, daß durch Reiben zweier Körper aneinander unbestimmte, vielleicht unbegrenzte Mengen von Wärme erzeugt werden könnten. Daraus folgerte er, daß man unmöglich diese Wärme selbst als einen Stoff annehmen könne – dies nach der gültigen Phlogistontheorie geschah –, sondern was durch Bewegung immer unerschöpflich erzeugt werden könne, selbst nur Bewegung sei. Daher müsse man alle Wärmeerscheinungen als Bewegungserscheinungen auffassen.

Humphry Davy (1778–1829) prüfte Rumfords Versuche nach und erzeugte Wärme sogar durch Reibung von Eisstücken, wobei sich herausstellte, daß das sich bildende Wasser eine höhere Temperatur erhielt, als die Lufttemperatur gerade betrug. Das war eine glänzende Bestätigung von Rumfords Versuchen. Er stellte eine Vibrationstheorie auf und erklärte alle Erscheinungen der Wärme durch die Annahme, daß in einem festen Körper die Teilchen in beständig schwingender Bewegung sind. Auch Thomas Young, der Wiedererwecker der Undulationstheorie des Lichtes, bekannte sich zur Vibrationstheorie und gelangte zur Überzeugung, daß Licht und Wärme aus ganz gleichartigen Schwingungen bestehen, die sich nur dadurch unterscheiden, daß die Wärmeschwingungen langsamer sind, als die des Lichtes. Trotzdem fühlten sich die Physiker nicht veranlaßt, diesen Behauptungen Youngs eine größere Beachtung zu schenken, als seinen Bemühungen um die Reform der Optik. Die meisten Physiker kehrten, wiewohl sie merkten, daß sich die genannten Versuche mit der Annahme eines Wärmestoffes schwer vereinigen ließen, doch zu ihm zurück. Man betrachtete die Erzeugung der Wärme durch Reibung nur als einen nicht geklärten dunklen Punkt an dem sonst reinen Himmel der herrschenden Theorie, und bemühte sich mit gutem Erfolg, diesen dunklen Punkt ganz zu übersehen.[42]

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Giovanni Battista Guglielmini († 1817) stellte Berechnungen an über die Abweichung fallender Körper von der Lotlinie und fand, daß die östliche Abweichung eines von der St. Peterskirche in Rom 240 Fuß hoch fallenden Körpers durch die Rotation der Erde ½ Zoll von der Vertikalen betragen müsse. In den Jahren 1790 und 1791 machte er diesbezügliche Versuche, die mit den Resultaten seiner Berechnung ziemlich gut übereinstimmten. Wunderbarerweise fand er aber auch gleichzeitig eine, allerdings geringe, südliche Abweichung. Laplace schloß aus dieser Abweichung, die ihm theoretisch unmöglich erschien, nur, daß die ganzen Versuche gänzlich ungenau und ihr Zeugnis für die Achsendrehung der Erde ganz unkräftig sei.

Auch als Benzenberg im Jahre 1802 vom Michelsturm in Hamburg und im nächsten Jahre in einem Kohlenschacht zu Schlehbusch in der Mark die Versuche mit gleichem Resultat wieder aufnahm, gelang es ihm nicht, die meisten Physiker davon zu überzeugen, daß die südliche Abweichung in Zusammenhang mit der Schwere und Rotation der Erde stünde.[43]

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Als es Davy, der übrigens als Lehrling bei einem Chirurgen und Apotheker seine glänzende Laufbahn begonnen hatte, gelungen war, noch vor dem Jahre 1812 das elektrische Bogenlicht zu erzeugen, mit dem er Platina, Quarz, Kalk etc. schmolz, erregten diese Entdeckungen nicht das Aufsehen, das man hätte erwarten dürfen. Ja, theoretisch erschien die kolossale Wärme- und Lichtproduktion bei der geltenden materiellen Theorie der Wärme sogar beunruhigend und unbequem! Man beobachtete hinfort unter den Physikern über dieses Thema Schweigen![44]

Dufay (1698–1733) war es ein Jahrhundert früher nicht besser ergangen. Er hatte u. a. die Verschiedenheit der positiven von der negativen Elektrizität entdeckt. »Das entscheidende Kennzeichen besteht darin, daß sie sich selbst abstoßen und im Gegenteil eine die andere anzieht.« Dieses äußerst wichtige Prinzip fand nicht gleich die verdiente Anerkennung und ist später erst zur Geltung gebracht worden, ohne daß man dabei die Verdienste Dufays anerkannt hätte.[45]

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Der geniale Erfinder Papin, der bereits den Gedanken hatte, Wagen durch Dampfkraft zu bewegen, der Versuche mit einem Taucherschiff anstellte, eine Zentrifugalpumpe erfand, die ohne Ventile und Klappen kontinuierlich das Wasser heben und auch als Blasebalg gut verwendbar sein sollte, der ferner den nach ihm benannten Dampfkochtopf erfand, der aber auch erst der Neuzeit die Dienste leistete, die Papin sich von ihm versprach, hatte den Plan, ein Schiff durch Dampfkraft zu bewegen. Es gelang ihm jedoch nicht, die Royal Society, die überhaupt die Entwicklung der Dampfmaschine wenig beachtete, für seine Idee zu gewinnen. Er starb in Dürftigkeit.[46]

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Im Jahre 1663 erschien aus der Feder des Edward Somerset, Marquis of Worcester, in London ein Schriftchen unter dem Titel: A century of the names and scantlings of such inventions as at present I can coll to mind to have tried and perfected. Hier erwähnt unter No. 68 Worcester eine Maschine, die, mit Dampf betrieben, Wasser in beliebiger Menge auf beliebige Höhe fortdauernd zu heben vermag. Obwohl er auf diesen Vorläufer der Dampfmaschine im gleichen Jahre für sich und seine Erben ein Patent auf 90 Jahre erhielt, geriet die Erfindung mit seinem 1667 erfolgten Tode bereits in Vergessenheit.[47]

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Als Poggendorf im XLVIII. Bande seiner Annalen 1839 (S. 193) einen Aufsatz über Daguerres Erfindung der Photographie brachte, rechtfertigte er die Veröffentlichung folgendermaßen: »Bei dem allgemeinen und, man kann wohl sagen, übertriebenen Interesse, welches die Anzeige von Herrn Daguerres Entdeckung im Publikum gefunden hat...« Das Publikum, d. h. die Nichtzünftler, hat allerdings häufig genug mehr Verständnis für das Neue bewiesen, als die Hochgelahrten.

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Das Telephon, die Erfindung des Autodidakten Philipp Reis, wurde zwar in wissenschaftlichen Werken, ja sogar in populären Schriften erwähnt. Das hinderte aber nicht, daß es allmählich in Vergessenheit geriet. Und zwar so gründlich, daß die mit Unterstützung der historischen Kommission der bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene »Geschichte der Technologie« von Karl Kramarsch (München 1872) weder den Namen des Erfinders Reis, noch die von ihm geprägte Bezeichnung Telephon aufführt. Erst als Graham Bell, der den Apparat verbesserte, auch die Idee für sich in Anspruch nahm, erinnerte man sich in Deutschland des ursprünglichen Erfinders, dessen Tage gezählt waren.[48]

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Die »Edinburgh Review« forderte das Publikum auf, Thomas Gray in eine Zwangsjacke zu stecken, weil er den Plan von Eisenbahnen entwarf.

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Ein so großer Gelehrter wie Sir Humphry Davy lachte über die Vorstellung, daß London einmal mit Gas beleuchtet werden solle.

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Die französische Akademie der Wissenschaften verspottete den großen Astronomen Arago, als er nur das Verlangen stellte, über das Projekt eines elektrischen Telegraphen eine Diskussion zu eröffnen.

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Als Stephenson vorschlug, Lokomotiven auf der Liverpool- und Manchestereisenbahn zu benutzen, führten gelehrte Männer den Beweis, daß es unmöglich sei, zwölf englische Meilen in einer Stunde zurückzulegen. Eine andere hohe wissenschaftliche Autorität erklärte es für gleich unmöglich, daß Meeresdampfer jemals den Atlantischen Ozean durchkreuzen könnten.[49]

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Als die Gasbeleuchtung der Straßen eingeführt werden sollte, eiferte die Kölnische Zeitung in der Nummer vom 23. April 1828 aus theologischen Gründen dagegen. Es sei unzulässig, die von Gott dunkel geschaffene Nacht zu erhellen.

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Helmholtz erklärte im Jahre 1872 als Mitglied einer vom preußischen Staate eingesetzte Kommission zur Prüfung äronautischer Fragen für nicht wahrscheinlich, daß der Mensch, auch durch den allergeschicktesten flügelähnlichen Mechanismus, den er durch seine eigene Muskelkraft zu bewegen hätte, jemals sein eigenes Gewicht in die Höhe heben und dort erhalten könne. Mag der große Gelehrte mit der menschlichen Muskelkraft auch recht behalten haben, so lähmte doch anderseits seine Autorität die aviatischen Bestrebungen überhaupt.[50]

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Der Professor am Polytechnikum in Hannover und dessen nachmaliger Rektor Wilhelm Launhardt (geb. 1832), ein hochangesehener Ingenieur und Fachschriftsteller, warnte seine Zuhörer davor, sich mit den stets vergeblich gewesenen Versuchen zur Erfindung eines Automobils abzuplagen.[51]

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Wenden wir uns nun der Medizin zu, in der es den großen Männern um kein Haar besser erging als in den Naturwissenschaften oder der Technik.

Leopold Auenbrugger (1722–1809), Arzt in Wien, erfand die Perkussionsmethode, über deren Unentbehrlichkeit zur physikalischen Untersuchung des Körpers niemand im Zweifel ist. Und zwar fand er nicht durch Zufall diese großartige Erleichterung der Diagnose, sondern durch Nachdenken und Experiment, dabei ganz unvorbereitet und ohne jegliche Andeutung früherer Beobachter. Er veröffentlichte seine hochbedeutende Erfindung im Jahre 1761 in Wien nach siebenjähriger Vorarbeit unter dem Titel Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos detegendi.

Es handelt sich hier um einen der ersten und glänzendsten Triumphe der anatomischen Forschung, und der Gedanke liegt nahe, daß das auch die Zeitgenossen erkannt hätten. Wer aber das Verhalten der Zunft und Autoritäten dem Neuen gegenüber kennt, wird es weniger erstaunlich finden, daß nur ein einziger Arzt namens Stoll den Wert der Untersuchungsmethode durch Perkussion, wenn auch nicht ihrem vollen Umfange nach, erkannt und dieselbe geübt hat. Van Swieten und de Haën schenkten Auenbruggers großer Leistung keine Aufmerksamkeit. Von einigen Seiten wurde die Entdeckung lächerlich gemacht, von andern mißverstanden. So schrieb unter andern Vogel in einer Kritik der Auenbruggerschen Schrift (Neue med. Bibliothek 1766, VI, S. 89), daß dieses Inventum mit besserem Recht novum antiquum, als novum hätte benannt werden können, da es nichts anderes als die von Hippokrates geübte Sukkussion sei.

Es ist ja eine beliebte Methode, das Neue zunächst als schlecht abzulehnen. Dann den Nachweis zu erbringen, daß es überhaupt nicht neu ist. Leute, deren Sitzorgane in umgekehrtem Verhältnis zu den Denkorganen entwickelt sind, werden auch stets Anklänge in irgendeinem alten Schmöker finden. Vogel war jedenfalls vorsichtig, als er das hohe Alter einer Erfindung festzustellen versuchte, bevor deren Wert anerkannt worden war. Bezeichnend ist das Urteil des berühmten Haller (Göttingische gelehrte Anzeigen 1762, S. 1013). »Alle dergleichen Vorschläge verdienen zwar nicht auf der Stelle angenommen, aber mit Achtung gehört zu werden.« Nur keine Eile!

Da die wenigen günstigen Urteile keine Beachtung fanden, geriet Auenbruggers Erfindung und Schrift in völlige Vergessenheit, bis der große Pariser Arzt Corvisart ihr den ihr gebührenden Platz in der praktischen Heilkunde sicherte. Im Jahre 1808, also ein Jahr vor des genialen Erfinders Tode, aber 47 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, gab er unter dem Titel »Nouvelle methode pour reconnaître les maladies internes de la poitrine par la percussion de cette cavité« eine Übersetzung des Werkes heraus, deren Vorwort bewies, daß er als erster die Bedeutung dieser Erfindung für das Heil der Kranken in ihrem ganzen Umfange vollkommen gewürdigt hatte.[52]

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Ganz ähnlich wie der Perkussion erging es der zur Diagnose nicht minder wichtigen Auskultation. Der selbständige Erfinder der klinischen Auskultation war der bekannte französische Arzt Laënnec (1781 bis 1826). Zwar hatten bereits die alten griechischen Ärzte diese Methode angewandt, sie war aber völlig in Vergessenheit geraten, so daß Laënnecs Erfinderruhm nicht gemindert wird, um so weniger, als er auch das Stethoskop anwandte und sich als Meister in der Determination akustischer Zeichen erwies. Der von ihm in die Auskultation eingeführten Nomenklatur bedienen sich noch die heutigen Ärzte. Sein Werk ist ein vollständiges Handbuch der Diagnostik, zumal in seiner zweiten 1826 erschienenen Auflage. Übrigens gedenkt Laënnec auch der Perkussion, nur daß er die Leistungen dieser Methode für sich allein für eng begrenzt und zweifelhaft hält.

Zunächst fand Laënnec auch bei seinen Landsleuten keine allgemeine Anerkennung. Man eiferte von mancher Seite gegen die »Cylindromanes«. Besonders Broussais (Examen des doctrines médicales ... T. II, Paris 1821) hatte vielfache oft recht kleinliche Bemängelungen und Ausstellungen. Am ersten wurde die neue Methode in England, zuletzt in Deutschland angenommen.[53]

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Franz Anton Mesmer (1733–1815) suchte nachzuweisen, daß die Himmelskörper durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte einen Einfluß auf unser Nervensystem ausüben (de Planetarum influxu 1766). Ferner beschäftigte er sich viel mit Magnetismus, den er für heilkräftig hielt und mit dem er auch Heilungen vollführte. Als er bemerkte, daß auch ohne Anwendung des Magnetes durch bloßes Streichen mit den Händen eigentümliche Wirkungen hervorgebracht wurden, schloß er daraus auf eine von ihm ausströmende, dem Magnetismus verwandte Kraft, die er »tierischen Magnetismus« nannte und in sein Heilsystem aufnahm. (Sendschreiben an einen auswärtigen Arzt über die Magnetkunde, Wien 1775.) Tatsächlich gelang es ihm, Schlaf zu erzeugen, er beobachtete den Somnambulismus und das Hellsehen, ließ mit den Fingerspitzen verschlossene Briefe lesen u. a. m. Andere identifizierten die zugrundeliegende geheimnisvolle Kraft nicht mit dem Magnetismus, sondern, wie Reichenbach mit dem von ihm angenommenen Od, oder wie Kieser, Gmelin, Passavant mit Tellurismus, Siderismus oder Nervenäther.

Doch die Erklärungsversuche der Phänomene haben für uns weniger Interesse, als die Stellung der wissenschaftlichen Welt zu Mesmer. In Wien hatte er wenig Glück. Eine Partei tat das, was dem unbequemen Neuen gegenüber immer das Naheliegendste ist und was deshalb unsere offizielle Wissenschaft auch heute noch den okkulten Phänomenen gegenüber tut: sie leugnete kurzweg alles. Selbst Wiener Augenzeugen (Störck, Barth, Ingenhouß) sprachen sich nicht für die Glaubwürdigkeit seiner magnetischen Kuren aus. Nur wenige Ärzte, die die Vorgänge an Magnetisierten beobachtet hatten, gaben ein, wenn auch nicht absolut günstiges, so doch reserviertes Urteil über die Vorgänge ab. Zwar begründete Mesmer in Wien ein Spital zur Ausübung seiner Heilmethode, mußte die Kaiserstadt aber 1778 verlassen, um sich nach Paris zu begeben. Hier wurde der Magnetismus zur Modesache. Das hinderte aber – und mit Recht – die Gelehrten natürlich nicht, nach wie vor ihm kritisch gegenüberzustehen. Daß die Pariser Akademie der Wissenschaften und die medizinische Fakultät, Instanzen, denen 1784 die Untersuchung übertragen war, und in denen Männer wie Leroy, Bailly, Lavoisier u. a. saßen, die Heilerfolge einfach auf die Macht der Einbildung zurückführten und damit alle Mesmerschen Experimente leugneten, zeugt allerdings nicht von übergroßem Scharfblick. Mesmer sah sich daraufhin gezwungen, nach Deutschland zurückzukehren.

Daß sich Mystik und Schwärmerei der wunderbaren Entdeckung bemächtigten, liegt nahe, ebenso daß dadurch ernste Männer zu erhöhter Skepsis veranlaßt wurden. Tatsächlich fiel bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts der tierische Magnetismus bei den Ärzten in Mißachtung, nachdem er eine Zeitlang Anhänger gehabt hatte. Mesmer aber galt hinfort als Schwindler.

Wir wollen hier natürlich keine Lanze für den tierischen Magnetismus brechen, noch für Reichenbachs Od oder andere Erklärungsversuche. Wohl aber legen wir Gewicht auf die sich auch hier wiederholende Erscheinung, daß Tatsachen geleugnet werden, weil sie in das gerade herrschende System nicht passen, oder weil Phantasten aus ihnen zu weit gehende Schlüsse ziehen.

Doch Mesmer sollte eine, allerdings sehr späte, Rechtfertigung erfahren. Im Jahre 1841 machte der Arzt James Baid (1795–1860) in Manchester die Entdeckung, daß bei einzelnen Individuen durch jedes beliebige Verfahren, das die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkt, ein eigentümlicher Schlaf hervorgerufen werden kann und daß dieses Verfahren sich unter Umständen auch als Heilmittel empfehle. In seiner 1843 erschienenen Schrift nannte er diese Erscheinung Neurypnologie (so der Titel des Buches) oder Hypnotismus. Er beobachtete dieselben Erscheinungen wie beim Mesmerismus, verwahrte sich aber – vielleicht durch das Beispiel jenes gewarnt – mit aller Entschiedenheit gegen die Annahme einer besonderen, vom Arzt ausgeübten, Kraft und betonte, daß sie lediglich auf einer eigentümlichen subjektiven Stimmung beruhe, in der das Individuum durch nervöse Erregung, herbeigeführt durch Konzentration des Geistes auf einen Gedanken, versetzt werde oder sich selbst versetze. Erst im Todesjahre Braids 1860 wurde durch Broca und Azam der Braidismus als ein wichtiger Fortschritt erkannt und der Pariser Akademie der Wissenschaften davon Mitteilung gemacht. Trotzdem blieben diese Erscheinungen bis zum Ende der siebziger Jahre ziemlich unbekannt. Erst durch das Auftreten des gewerbsmäßigen Hypnotiseurs Hansen 1879 angeregt, haben seit 1880 die exakten Untersuchungen von seiten kompetenter Naturforscher die Realität der mit dem Namen Hypnotismus bezeichneten Erscheinungen und die Identität derselben mit den von fremden Zutaten entkleideten Beobachtungen Mesmers außer aller Frage gestellt.[54]

Virchow blieb bekanntlich zeitlebens ein Leugner und Hauptgegner des Hypnotismus.

Bedenkt man nun, daß Suggestion, Hypnotismus, Somnambulismus, Hellseherei und wie diese Erscheinungen alle heißen mögen, seit vielen Jahrtausenden bekannt und geübt sind, daß Mesmer zuerst die Augen des gebildeten Europa mit negativem Erfolg auf seine Experimente richtete und daß nach seinem Tode 70, nach der ersten Veröffentlichung seiner Beobachtungen mehr als 100 Jahre vergingen, dann wird man gegen Negationen von Autoritäten und Akademien nicht minder mißtrauisch werden, als man vorurteilslos an irgendwelche noch so phantastisch erscheinende Behauptungen herantreten wird. Was aber Hypnotismus und Suggestion ihrem Wesen nach sind, weiß man heute ebensowenig, wie in Mesmers Tagen. Man begnügt sich mit Beschreibung der Beobachtungen und Anwendung der gemachten Erfahrungen. Ob das aber prinzipiell den Hypothesen eines Mesmer und Reichenbach gegenüber ein Fortschritt ist, sei dahingestellt. Auch auf diesem Felde wird die Zukunft uns nicht durch, sondern trotz der Autoritäten die Wahrheit entschleiern.

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Die Dialectical Society in London hielt im Jahre 1869 eine große Anzahl von Sitzungen zur Erforschung der sogenannten okkulten Phänomene ab, an denen unter anderen bedeutenden Männern auch Alfred Russel Wallace teilnahm. Die Resultate über Tischrücken, Klopfen, Bewegung von Gegenständen ohne Kontakt etc. waren so erstaunlich, daß mehrere Mitglieder der Gesellschaft sich weigerten, die Schlüsse anzuerkennen, es sei denn, der Chemiker Crookes hätte sie nachgeprüft. Der berühmte Gelehrte unterzog sich dieser Aufgabe mit dem Erfolge, daß er die erstaunlichsten Beobachtungen der Dialectical Society nicht nur bestätigen, sondern sogar ergänzen konnte. Z. B. gelang es, eine Ziehharmonika ohne Berührung zum Spielen zu bringen, Gewichtsveränderungen von Körpern zu erzielen, Tische und Stühle, ja menschliche Körper ohne Berührung in die Höhe zu heben etc. Hatte früher Crookes Bereiterklärung, sich der Nachprüfung zu unterziehen, das Entzücken aller Kritiker geweckt, schlug die Stimmung ins konträre Gegenteil um, als die Hoffnungen, der Gelehrte werde ein neues Zeugnis zugunsten ihrer Ansichten bringen, sich nicht erfüllten. Die Königliche Gesellschaft in London aber, deren Mitglied Crookes ist, und die seine Beteiligung an den okkulten Forschungen gebilligt hatte, solange sie annehmen konnte, es handle sich um Schwindel, nahm seine Schrift nicht an, als er den Bekennermut bewies, das zu bestätigen, was er gesehen hatte. Professor Stokes, der Sekretär der Gesellschaft, weigerte sich, sich mit diesem Gegenstande zu befassen und auch nur den Titel unter den akademischen Publikationen einzutragen. Es war die genaue Wiederholung dessen, was an der Akademie in Paris im Jahre 1853 den Versuchen des Grafen Gasparin gegenüber geschehen war und was die Londoner Gesellschaft einst Franklins Blitzableiter gegenüber getan hatte.[55]

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Als Lombroso den Nachweis erbracht hatte, daß das Pelagra, eine in Italien furchtbare Opfer fordernde Krankheit, durch Vergiftung mit verdorbenem Mais entstehe, wurde diese Theorie jahrelang mit wahrer Wut bekämpft, bis sie sich allgemein durchsetzte. Heute zweifelt niemand mehr daran, daß Lombroso die Ursache des Pelagra richtig erkannte.

Ähnlich ging es ihm mit der Theorie des geborenen Verbrechers, die auch heute noch von vielen abgelehnt wird. Immerhin ist sie ins Strafrecht eingedrungen, z. B. in Ungarn, aber auch in Deutschland, wo man versucht, der Person des Verbrechers Rechnung zu tragen.

Diese einem Aufsatz von Lombrosos langjährigem Freunde A. Pfungst entnommenen Angaben sind auch deshalb interessant, weil der Autor das Eintreten des italienischen Gelehrten für Okkultismus und Spiritismus damit entschuldigt, »daß das Alter seine eminente Beobachtungsgabe, auf die er sich bei den spiritistischen Experimenten blindlings verließ, schon sehr geschwächt hatte« (S. 641). Also auch hier Theorie gegen Beobachtung und Experiment.[56]

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Karl Schleich, der Erfinder der subkutanen Einspritzung zur Erreichung der Anästhesie wurde von den Kollegen heftig bekämpft.

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Lord Lister (geb. 1827), der Vater der modernen Wundbehandlung, der zuerst Desinfektion der Wunde, dann aller mit der Wunde in Berührung kommenden Gegenstände anwandte und empfahl, hatte zwar in Deutschland größeren Erfolg als in seinem Vaterlande, aber auch bei uns wurde seine großartige Entdeckung von einigen bedeutenden Chirurgen skeptisch aufgenommen. Und doch wüteten damals Pyämie (Eiterfieber), Septichämie (Blutvergiftung), Wundrose, Hospitalbrand, Lymphgefäß- und Venenentzündung in entsetzlicher Weise. In Nußbaums Krankenhaus verfielen diesen Infektionskrankheiten alle komplizierten Brüche, fast alle Amputationen. 1872 kam dazu der Hospitalbrand, der sich bis 1874 so vermehrte, daß 80% aller Wunden und Geschwüre von ihm ergriffen, vielfach Knochen abgestoßen, Gefäße angefressen wurden, und zwar in Fällen, die vielleicht wegen eines entzündeten Fingers, einer Schrunde am Kopf oder einer anderen Kleinigkeit ins Spital kamen. »Eine wirklich glatte Heilung hat man vor dem Jahre 1875 auf dieser Klinik nie gesehen.« Wie durch einen Zauber verschwand das alles durch Listers große, von Nußbaum in ihrer Tragweite erkannte Erfindung.[57]

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Der Pfarrer I. F. Esper (1742–1810) hatte in den Gailenreuther Höhlen der Fränkischen Schweiz zwischen den Resten vorweltlicher Tiere auch Menschenknochen entdeckt, und die Fundgeschichte 1774 veröffentlicht. In seinem Werke »Ausführliche Nachricht von neuentdeckten Zoolithen«, das sich durch heute noch vollkommen brauchbare Abbildungen der von ihm entdeckten diluvialen Höhlentiere auszeichnet, hatte er ganz im Sinne der modernen Wissenschaft argumentiert: Der Mensch, dessen Reste mit denen der diluvialen Säugetiere im Höhlenschlamme begraben wurden, muß auch mit diesen Tieren gelebt haben, er war sonach Zeuge der »großen Flut«.

Daß sein Fund falsch gedeutet wurde, war des großen Cuvier (1769–1832) Schuld. Er erkannte zwar die wissenschaftliche Richtigkeit des Esperschen Fundes an, aber für den diluvialen Menschen war in seinem Weltsystem kein Raum. Seine bis vor wenigen Jahrzehnten in der Wissenschaft herrschende Katastrophentheorie nahm gewaltige Erdrevolutionen an, die die organischen Schöpfungen der vorausgehenden geologischen Periode vollkommen vernichteten, so daß durch Neuschöpfung sich nach jeder solchen Revolution die Erde neu bevölkern mußte. Da sei es undenkbar, daß der Mensch, der Periode des Alluviums angehörig, die Katastrophe, die vor 5–10000 Jahren das Diluvium mit Mammut, Elefant, Nashorn etc. vernichtete, überdauert hätte.

Cuviers Autorität wurde noch gestützt durch die der Bibel, deren Sintflutsage er eine gewisse wissenschaftliche Stütze gewährte. Deshalb wurde dieser Katastrophentheorie besonders in England, »wo theologische Vorurteile von jeher die geologischen Anschauungen beeinflußten«, gehuldigt. Sie erschwerte Darwin und Lyell den Sieg der Evolutionstheorie, die uns heute beherrscht.

Ohne Cuvier würde man ohne Zweifel den Homo diluvii testis, den Diluvialmenschen, weiter gesucht haben, wie Scheuchzer (1672–1733) ihn ja bereits gefunden zu haben glaubte. Allerdings erkannte Cuvier in der Versteinerung, die Scheuchzer in einem vortrefflichen Kupfer publizierte und mit dem schönen Vers:

»Betrübtes Bein-Gerüst von einem alten Sünder,

Erweiche Stein und Hertz der neuen Boßheits-Kinder«

zierte, statt eines Kindes, einen 1 m langen Wassermolch.[58]

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Im Jahre 1856 wurde im Devonkalk des Neandertales bei Düsseldorf ein Skelett gefunden, das nach den geologischen Umständen des Ortes zweifellos in außerordentlich hohe Vorzeit hinauf reicht. Heute weiß man, zumal inzwischen in Spy, Krapina, Brünn, La Naulette und anderwärts ähnliche Reste gefunden wurden, daß es sich hier um Überbleibsel einer tiefstehenden fossilen Menschenrasse handelt. Das hatte bereits Dr. Fuhlrott, dem die betreffenden Skelettteile zuerst übermittelt wurden, festgestellt. Daß er damals mit seiner Ansicht vom europäischen Urmenschen nicht durchdrang, lag an den Autoritäten. Professor Mayer in Bonn meinte, die Gebeine rührten von einem 1814 gestorbenen Kosaken her, Professor Rudolf Wagner in Göttingen erkannte in ihnen einen alten Holländer wieder, Dr. Pruner-Bey in Paris aber einen Kelten. Maßgebend blieb die Ansicht Virchows, der größten damaligen Autorität, der die Reste mit einem gichtbrüchigen Greis identifizierte. Ihm war es zuzuschreiben, daß lange Zeit die Anthropologen von der richtigen Deutung abgehalten wurden. [59]

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Abraham Gottlob Werner (1750–1817), hervorragender Mineraloge und Vater der Geognosie, stellte die »neptunische Lehre« auf, d. h. die Hypothese, daß der Ozean der Quell aller Bildungen der Erde sei und jede neue Gestaltung im Mineralreich sich aus dem Wasser bilde. Sein Schüler Voigt bestritt das, besonders mit Rücksicht auf den Basalt, erlitt aber durch Werners Autorität eine Niederlage. Erst nach seinem Tode konnte Buchs und Humboldts Vulkantheorie Boden fassen.[60]

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Über den großen 1751 bei Agram gefallenen Meteorstein schrieb der gelehrte Wiener Professor Stütz 1790: »daß das Eisen vom Himmel gefallen sein soll, mögen wohl 1751 selbst Deutschlands aufgeklärte Köpfe bei der damals unter uns herrschenden Ungewißheit in der Naturgeschichte und Physik geglaubt haben, aber in unseren Zeiten wäre es unverzeihlich, solche Märchen auch nur wahrscheinlich zu finden

An mehreren Museen wurden solche Meteorsteine sogar weggeworfen, »um sich nicht durch das Behalten derselben lächerlich zu machen«.

Im gleichen Jahre 1790 fiel ein Stein bei Juillac in Frankreich nieder, und der Maire dieser Stadt sandte einen mit der Unterschrift von 300 Zeugen versehenen Bericht an die Akademie der Wissenschaften. Aber die Herren Akademiker waren ihrer Sache zu sicher.

Der Referent Bertholon sagte, man müsse eine Gemeinde bemitleiden, welche einen so törichten Maire habe, daß er solche Märchen glaube. Und er fügte hinzu: »Wie traurig ist es nicht, eine ganze Munizipalität durch ein Protokoll in aller Form Volkssagen bescheinigen zu sehen, die nur zu bemitleiden sind. Was soll ich einem solchen Protokoll weiter beifügen? Alle Bemerkungen ergeben sich einem philosophisch gebildeten Leser von selbst, wenn er dieses authentische Zeugnis eines offenbar falschen Faktums, eines physisch unmöglichen Phänomens liest.«

Alle, die den herrschenden Ansichten dieser Gelehrten nicht beistimmen wollten, wurden verlacht.

Der sonst sehr ruhig denkende Gelehrte A. Deluc sagte sogar: Wenn ihm ein solcher Stein vor die Füße fallen würde, müßte er zwar sagen, er habe es gesehen, könne es aber doch nicht glauben. Auch Vaudin sagte, man müsse so unglaubliche Dinge lieber wegleugnen, als sich auf Erklärungen derselben einlassen.

Das war die Ansicht der französischen Akademie, die damals unter dem Vorsitz des berühmten Laplace in der Wissenschaft unbedingt dominierte.[61]

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Als Piazzi im Jahre 1801 die Entdeckung des ersten Planetoiden Ceres machte, wies sie Hegel (De orbitis planetarum, Jena 1801) aus philosophischen Gründen zurück.[62]

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Bekanntlich ist heute noch nicht der Kampf zwischen Lamarckismus und Darwinismus völlig entschieden und wird es wohl auch nur im Sinne einer Verschmelzung beider Lehren werden können. Da ist es nicht nur erstaunlich, daß Lamarcks »Philosophie zoologique«, wiewohl sie in einem naturphilosophischen Zeitalter erschien, fast unbeachtet blieb, mehr noch ist es des großen Darwin Urteil über dieses hervorragende Werk. Er nennt die Philosophie zoologique ein wertloses Buch, aus dem er nicht eine Tatsache und nicht eine Idee entnommen habe. Mit diesem widersinnigen Buche habe Lamarck der Abstammungslehre mehr geschadet als genützt.[63]

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Herbert Spencer (1821–1903), der größte englische Philosoph des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wurde in solchem Maße als Autodidakt behandelt, daß sein bedeutendes Buch »Social Statics«, das im ganzen nur in erster Auflage in 157 Exemplaren erschien, erst in 14 Jahren abgesetzt wurde. Als nach 24jähriger Tätigkeit sein Erfolg gesichert war, lehnte er die dem unstudierten Manne von den Universitäten von St. Andrews, Bologna, Cambridge, Edinburgh und Budapest zugedachte Würde eines Ehrendoktors ab, wie er auch den Antrag der Akademien von Rom, Turin, Neapel, Paris, Philadelphia, Kopenhagen, Brüssel, Wien und Mailand, ihn zum korrespondierenden Mitglied zu ernennen, zurückwies.[64]

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Wie Robert Mayers erste Arbeiten überall totgeschwiegen wurden, und zwar so gründlich, daß weder in akademischen Zeitschriften darüber referiert noch in anderen Werken von ihnen Notiz genommen wurde, so erging es auch ähnlich Helmholtz’ Abhandlung »Über die Erhaltung der Kraft«. Er sagt selbst darüber: »Die Aufnahme meiner Arbeit in Poggendorffs Annalen wurde mir verweigert, und unter den Mitgliedern der Berliner Akademie war es nur C. G. Jacobi, der Mathematiker, der sich meiner annahm. Ruhm und äußere Förderung war in jenen Zeiten mit der neuen Überzeugung noch nicht zu gewinnen, eher das Gegenteil!«[65]

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Auch die prophetischen Worte E. H. Webers, die er im Jahre 1835 über die zukünftigen Funktionen des elektromagnetischen Telegraphen sprach, blieben vom Spott nicht verschont.[66]

Übrigens hat der gleiche große Physiologe Ernst Heinrich Weber zu wiederholten Malen Zöllner gegenüber geäußert, daß von allen wissenschaftlichen Theorien Virchows auch nicht eine einzige das Ende seines irdischen Daseins überdauern würde.

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Als William Jones und Henry Thomas Colebrooke (1765–1857) das Sanskrit erstmalig gründlich studiert, teilweise übersetzt und gefunden hatten, daß es eine reiche Literatur und nicht geringe Verwandtschaft mit den klassischen Sprachen aufwies, stießen sie auf nicht geringen Widerstand. Da sich mit dieser innigen Beziehung des Sanskrits zu den geographisch so weit entlegenen europäischen Sprachen die alten Anschauungen, welche entweder alle Sprachen aus dem Hebräischen ableiteten oder größtenteils von einander isolierten, nicht in Einklang bringen lassen, so ergriff der berühmte Philologe Dugald Steward (1753–1828) den einfachsten Ausweg, indem er die ganze Geschichte mit der Sanskritsprache für eine Lüge erklärte. Er schrieb einen Essay, in dem er zu beweisen suchte, daß sie von den spitzbübischen Brahmanen nach dem Muster des Griechischen und Lateinischen zusammengeschmiedet sei und die Sprache sowohl als auch die Literatur eine Fälschung seien. Diese Ansicht entwickelte noch im Jahre 1840 der Professor in Dublin, Charles William Wall, weitläufig (Göttingische gelehrte Anzeigen 1842 S. 1888).[67]

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Endlich wollen wir die Niederlage nicht vergessen, die sich Autoritäten und Fachleute noch in allerletzter Zeit in der Frage der Wünschelrute holten. Bekanntlich versteht man darunter eine Rute oder auch einen Draht, der in der Hand gewisser besonders dazu disponierter Leute durch heftiges Ausschlagen das Vorhandensein von unterirdischen Wasserläufen anzeigt. Auch Erzlager sollen auf diese Weise auffindbar sein. Das Gerücht von der wunderbaren Kraft der Wünschelrute, die zumeist aus Hasel oder Weide gemacht wird, geht seit Urzeiten im Volke. Statt nun nachzuprüfen und dabei zu finden, daß die Beobachtungsgabe des Volkes, wie sich schon oft zeigte, der der Gelehrten kaum nachsteht, wenn auch die kritische Sichtung mangelhaft ist, wurde das Phänomen von den Gelehrten rundweg als Humbug abgelehnt.

Das geschah auch, nachdem Landrat von Uslar unbestreitbare Erfolge in Südwestafrika aufzuweisen hatte. Im »Prometheus« wurde in den neunziger Jahren ein heftiger Kampf über die Möglichkeit des Phänomens bzw. dessen Wirklichkeit zwischen Theoretikern, die negierten, und Praktikern, die auf die unleugbaren Erfolge hinwiesen, geführt. Besonders ein Ingenieur H. Ehlert konnte sich in gehässigen Angriffen nicht genug tun.

Da griff in den Jahren 1908 und 1909 der Münchner Arzt Dr. Aigner, also natürlich wieder ein Laie, die Frage auf und es gelang ihm durch eine große Zahl praktischer Beweise, die er in Gegenwart von Vertretern des Magistrates erbrachte, festzustellen, daß die Wünschelrute tatsächlich in den Händen von gewissen Leuten die ihr zugeschriebene Wirkung ausübt.

Über die Erklärung des Phänomens mögen sich die Fachleute in die Haare geraten. Das Wichtigste ist die Konstatierung der Tatsächlichkeit. Der dem Mittelalter gemachte Vorwurf, statt die eigenen Augen zu gebrauchen, nach »Beweisen« bei Aristoteles, Galen und anderen Autoritäten zu fahnden, kann auch der gelehrten Zunft von heute nicht erspart werden. Auch sie lehnt schlankweg alles ab, was nicht in ihre Theorien und Hypothesen paßt, statt die Phänomene zu prüfen und von der festen Basis des Experimentes aus die Richtigkeit der Theorien zu untersuchen.[68]

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Nicht nur auf dem weiten Felde der Wissenschaft, nicht minder im Reiche der Kunst deckt sich eine Geschichte der Kritik mit einer solchen der Blamage der Autoritäten und Sachverständigen. Es sei zugegeben, daß gerade in der Musik sehr viel auf den Geschmack ankommt, da es einen objektiven Maßstab entsprechend der wissenschaftlichen Wahrheit nicht gibt. Immerhin ist es amüsant und lehrreich zu sehen, wie auf allen Gebieten der Fortschritt sich nur im harten Kampfe mit dem Bestehenden durchsetzen konnte.

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Im »Musikalischen Wochenblatt« sprach ein zeitgenössischer Leser seine »freimütigen Gedanken« über Mozart aus und zwar nach dessen Don Giovanni:

»Niemand wird in Mozart den Mann von Talenten und den erfahrenen, reichhaltigen und angenehmen Komponisten verkennen. Noch habe ich ihn aber von keinem gründlichen Kenner der Kunst für einen korrekten, viel weniger vollendeten Künstler halten sehen, noch weniger wird ihn der geschmackvolle Kritiker für einen in Beziehung auf Poesie richtigen und feinen Komponisten halten.«[69]

Übrigens beschuldigte man Mozart auch des Plagiats in der Ouvertüre zu Don Giovanni.[70]

Mozart war, wie Brendel in seiner Geschichte der Musik schreibt, den Zeitgenossen ein Buch mit sieben Siegeln. »Man traut seinen Augen nicht, wenn man die damaligen Zeitungen nachliest und kaum hie und da eine dürftige Notiz über ihn findet. Erst die Zauberflöte machte ihn populär.«

Doch selbst das trifft nicht ganz zu. In Schauls Briefen über Geschmack wird gefragt, ob sich der Anfang des zweiten Finales, dem er eine schöne Melodie zugesteht, mit der gesunden Vernunft vertrüge, da drei kleine Knaben in so schweren Halbtönen singen müßten, daß es einem geübten Sänger schwer werde, sie rein zu treffen. Man warf ihm auch vor, für die Instrumente Unmögliches zu schreiben. Einer der drei Posaunisten in der Friedhofsszene erklärte: »Das kann man so nicht blasen und von Ihnen werde ich es auch nicht lernen!«

Beethoven erging es von seiten der Kritik nicht besser. Er hatte das gemein mit allen genialen Menschen, die neue Wege einschlugen. Die Allgemeine Musikalische Zeitung in Leipzig, damals das einzige deutsche kritische Organ von allgemein anerkannter Autorität, schreibt in einer Besprechung der drei Violinsonaten op. 12: »Herr van Beethoven geht einen eigenen Gang; aber was ist das für ein bizarrer, mühseliger Gang! Gelehrt, gelehrt und immerfort gelehrt und keine Natur, kein Gesang[71]

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Im gleichen Organ erschien 1805 über die Eroika folgende verständnisvolle Kritik: »Diese lange, äußerst schwierige Komposition ist eigentlich eine sehr weit ausgeführte kühne und wilde Phantasie. Es fehlt ihr gar nicht an frappanten und schönen Stellen, in denen man den energischen, talentvollen Geist ihres Schöpfers erkennen muß: sehr oft scheint sie sich ins Regellose zu verlieren.«

C. M. von Weber, der Komponist des »Freischütz«, schrieb 23jährig über Beethoven folgendes erstaunliche Urteil: »Die feurige, ja beinahe unglaubliche Erfindungsgabe, die ihn beseelt, ist von einer solchen Verwirrung in Anordnung seiner Ideen begleitet, daß nur seine früheren Kompositionen mich ansprechen, die letzteren hingegen mir nur ein verworrenes Chaos, ein unverständliches Ringen nach Neuem sind, aus denen einzelne himmlische Genieblitze hervorleuchten, die zeigen, wie groß er sein könnte, wenn er seine üppige Phantasie zügeln wollte.«

Die Kreutzersonate (op. 47) wurde zu Beethovens Zeit als unaufführbar erklärt. (Nach Schindler.)

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Als Franz Schubert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien seine große C-dur-Symphonie aus Dankbarkeit für eine ihm dargebrachte Huldigung übergab, wurde sie von den Künstlern der Gesellschaft als unaufführbar abgelehnt.[72]

Tieck nennt den »Freischütz« das »unmusikalischste Getöse, das je über die Bühne getobt ist«. Ludwig Spohr urteilte über die Oper auch ungünstig.

Über die Euryanthe schreibt die »Zeitung für Literatur, Kunst, Theater und Mode«, nachdem sie dem Komponisten Bizarrerie und Mangel an Einheit und Klarheit vorgeworfen hat. »Mangel an Melodie zeige sich da gerade am meisten, wo sie am ehesten zu erwarten gewesen wäre....«

Franz Schubert sagt vom gleichen Werk, daß es »keine Musik, keine legitime Form und Durchführung enthalte, sondern lediglich auf Effekt berechnet sei und weit hinter dem Freischütz zurückstehe.« (Nach La Mara.)

Dem melodienreichen Oberon ging es nicht besser.

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Daß Wagners Tristan für unaufführbar gehalten wurde, ist allgemein bekannt. Merkwürdig ist, daß Mozarts Biograph Otto Jahn in seinen Gesammelten Aufsätzen über Musik nicht nur Tannhäuser ablehnt, sondern Wagner schöpferisches Genie abspricht!!

Der bekannte Tadel gegen Wagner, er übertöne mit seinen Instrumenten die Sänger, findet sich auch schon Mozart gegenüber. Kaiser Josef II. äußerte es gegen Dr. Hersdorf.

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Endlich noch einige Urteile über Goethe.

Im Oktoberheft des Jahres 1832, ein halbes Jahr nach seinem Tode, schreibt im »Sachsenfreund«, einer damals viel gelesenen Monatsschrift, ein Anonymus aus Weimar:

»Unser Goethe ist vergessen, wie zu erwarten war, zu erwarten nicht der Unempfänglichkeit halber, welche die Weimaraner für achtbare Erscheinungen hätten, sondern seiner eigenen Individualität wegen. Der Mensch fühlt sich nur vom Menschlichen angezogen, solange er es hat, und sieht ihm trauernd nach, wenn’s ihm entrissen wird. Menschliches aber hatte Goethe nicht, wie alle wissen, die ihn näher kannten, und nicht, wie eine Handvoll hiesiger Goethemanen, mit Blindheit über ihn geschlagen sind. Er fühlte und litt mit keinem menschlichen Wesen außer ihm, und die großen Interessen der Menschheit waren ihm völlig fremd, insofern nicht etwa im Gefolge derselben die aristokratischen Gesellschaftsverhältnisse bedroht waren, an denen sein Herz hing. Er war eine in sich abgeschlossene Marmorstatue, in welcher nur das große Talent wohnte, die Welterscheinungen, die sich an und in ihr abspiegelten, mit der objektivischen Anschaulichkeit und Vollendung wiederzugeben. Einen Eindruck brachten sie aber nicht auf ihn hervor. Denn dazu gehört das Medium des Gemütes, und das hatte Goethe nicht. Darum kamen seine Ansichten und Maximen, wenn sie ihm einmal über die weniger bewachte Lippe fuhren, dem gemütvollen Menschen fast schauerlich vor, und man hatte Mühe, sich von der ihm innewohnenden Selbstsucht und Härte einen angemessenen Begriff zu machen. Nie tat er einem wohl, der ihm nicht persönlich dienstfertig dafür wurde, und für Wohltaten wußte er seinen größten Gönnern nicht Dank. Das Testament, das er hinterließ, zeugt für jenes, und der Mann, der fast ohne alle unmittelbar geleisteten Dienste Weimar in mehr als 50 Jahren Hunderttausende kostete, vermachte den Armen oder irgendeinem milden Institut bei seinem Tode – nicht einen Heller. Seine Werke, nun ja, sie werden ihn überleben, nämlich die sechs bis acht Bände, in die eine kritische Hand einmal die Weizenkörner sammelt, welche in vierzig und mehr Bänden voll Spreu enthalten sind. Diese Spreu wird aber vergessen werden. Die Nemesis wird auch hier ihr Amt verwalten, wie sie es in Hinsicht seiner häuslichen Verhältnisse tat.«[73]

Des Witzes halber seien diesem klassischen Urteile eines Anonymus noch einige neuere von katholischen Autoritäten angereiht.

Baumgarten S. J. schreibt in »Goethes Lehr- und Wanderjahre« (Freiburg 1882, S. 99) über die Sturm- und Drangperiode:

»Da sitzen nun die Götterjünglinge, Goethe, Lenz, Klinger, Kaufmann, gelegentlich auch Herder und Wieland; von ferne hört man ein Waldhorn, und der Mond hat nichts zu tun, als das phantasiebedürftige Conciliabulum anzuscheinen. Sehen Sie, meine Herren! Hier haben wir die Anfänge unserer unsterblichen deutschen Nationalliteratur, welche alle bisherigen Literaturen und Kulturen eminent in sich begreift, wie der erwachsene Mann alle früheren Stadien des Lebens. Da die Poesie der beiden Sturm- und Drangpoeten Lenz und Klinger sich hauptsächlich in der Analyse der gemeinsten und wütendsten Leidenschaften, toller Liebe, Eifersucht, Unzucht, Kindsmord und anderer schauerlicher Greuel bewegte, und da sie in Sprache und Ausdruck keine Grenzen kannte, so läßt sich denken, was sie in halben und ganzen Nächten in Goethes Gartenhaus verhandelt haben mögen. Gevatter Wieland hatte an solchen Kapiteln auch seinen Spaß.«

Über »Hermann und Dorothea« urteilt Norrenberg in seiner Allgemeinen Geschichte der Literatur (Münster 1884, III. Bd., S. 181):

»Nirgendwo offenbart sich Goethes Gesinnung abstoßender als in ›Hermann und Dorothea‹. Das glaubens- und inhaltsleere, trotz aller Noblesse spießbürgerliche Gesellschaftsleben des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts ist nie mit einer so abschreckend photographischen Treue geschildert worden, als in diesem Epos. Man muß den blasierten Quietismus des Weimarer Lebens kennen, das versumpft in dem deistischen Humanismus, auch in der so nahen Perspektive der tragischen Ereignisse der französischen Revolution nicht im mindesten religiösen oder patriotischen Aufschwungs fähig war, um diese Dichtung zu verstehen. Ich kann mir keine entnervendere Lektüre für die Jugend denken, als ›Hermann und Dorothea‹.«

Der verstorbene Bischof Paul Haffner (Frankfurter zeitgemäße Broschüren II, 9 [1880]) stellt fest:

»Es ist bezeichnend für unsere heutige Bildung, daß von Goethes Schriften diejenigen am meisten gelesen werden, welche an obszönen Stellen am reichsten sind.«[74]

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Heinrich Heine hatte im Jahre 1910, außer dem in den Herzen des Volkes errichteten, noch kein Denkmal in Deutschland. Oder wollen wir das literarische, das der Heinetöter Adolf Bartels Heine und sich errichtet, dafür gelten lassen?[75] Das einzige ihm von der Kaiserin Elisabeth in Korfu geweihte wurde entfernt, nachdem das Achilleion in den Besitz Kaiser Wilhelms II. übergegangen war.

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