Vierter Abschnitt Die „Dilettanten“ und Outsider

Die immer fortschreitende Spezialisierung der Wissenschaften, deren Umfang in gleicher Proportion zunimmt, wie der Gesichtskreis ihrer Vertreter sich verengert, hat nicht nur zu einer kaum je dagewesenen Unterschätzung des gesunden Menschenverstandes, ja des Genialen geführt, sie geht auch mit einer übermäßigen Hochschätzung der technischen, handwerksmäßigen Routine einher. Nur was der Spezialist leistet, vermag sich heute durchzusetzen. Unter diesen Umständen scheint es nicht zwecklos, den Beweis zu erbringen, daß auf allen Gebieten nicht dem Fachmann, sondern dem »Dilettanten«, dem Outsider die größten Entdeckungen und Erfindungen zu danken sind. Daß eine Reihe der Größten Autodidakten waren, ist nicht ohne Interesse.

Während sich um den Fachmann, der immer mehr zum Handwerker wird, die hohen Mauern seiner Spezialdisziplin im immer enger werdenden Kreise schließen, ist es das verächtlich »Dilettant« genannte Genie oder doch Talent mit weitem Horizont, das allein die Flugkraft besitzt, sie zu überwinden. Gleicht letzteres dem Entdecker neuer Länder, so ist es der

Zünftler, der dort Käfern und Läusen nachjagt, um sie in dicken Folianten zu edieren.

Diesem schon wiederholt von mir ausgesprochenen Gedanken mögen die Beweise nun folgen.

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Otto von Guericke (1602–1686), der größte deutsche Physiker des 17. Jahrhunderts, war von Beruf Jurist, wenn er sich auch kurze Zeit in Leyden neben neueren Sprachen mit Physik, angewandter Mathematik, Mechanik und Fortifikationslehre beschäftigt hatte. Im Jahre 1626 trat er in das Ratskollegium seiner Vaterstadt Magdeburg ein, wurde dann Schutz- oder Kriegsherr der Stadt, in welcher Stellung er während der Belagerung durch Tilly (1631) vollauf seine Pflicht tat, wurde später Generalquartiermeister und Ingenieur Gustav Adolfs, beteiligte sich am Wiederaufbau der Stadt Magdeburg, wo er eine Schiffbrücke über die Elbe legte und trieb daneben Ackerwirtschaft und Bierbrauerei. Im Jahre 1646 wurde er zum Bürgermeister erwählt und vorzugsweise zu diplomatischen Geschäften verwandt. So nahm er auch an den Friedensverhandlungen in Osnabrück teil. Erst seit 1660 konnte er nach vielen Missionen in Ruhe zu Hause leben. Seine physikalischen Versuche konnte er also nur neben seinem Berufe ausführen!

Guericke kam zu seiner Erfindung der Luftpumpe im Bestreben, den alten philosophischen Streit über die Existenz eines leeren Raumes zu entscheiden, und zwar als erster auf experimentellem Wege. Er wies durch seine Versuche sowohl die bedeutende Größe des Luftdrucks, wie die Elastizität der Luft nach, und zwar erbrachte er den öffentlichen Beweis 1654 auf dem Magdeburger Reichstage, also mitten in seiner anderweitigen Berufstätigkeit. Vielleicht machte er alle seine Entdeckungen bereits in den Jahren 1632–1638, jedenfalls sind alle vor 1663 abgeschlossen. Dieser Dilettant erfand ferner 1657 oder 58 ein Wasserbarometer, 1661 das Manometer, bestimmte die Schwere der Luft, bewies, daß zum Brennen Luft gehöre und die Flamme die Luft verzehre, konstruierte eine primitive Elektrisiermaschine, die hinreichte, um die Tatsache des elektrischen Abstoßens und Leuchtens zu finden und vervollständigte die magnetischen Kenntnisse seiner Zeit. Ferner stellte er zuerst im Mittelalter die Meinung auf, daß die Wiederkehr der Kometen sich bestimmen lassen müsse.[76]

Wie Herr Professor A. Gudemann mir mitzuteilen die Liebenswürdigkeit hatte, war auf letzteren Gedanken bereits Seneca (nat. Quaest. 7, 25, 7) gekommen. »Es wird einmal jemand kommen, der beweist, in welchen Teilen die Kometen umlaufen, warum sie so getrennt von den anderen umlaufen, wie viele und in welcher Beschaffenheit sie sind.«

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Simon Stevin (1548–1620) war ursprünglich Kaufmann, dann Steueraufseher in seiner Vaterstadt Brügge, endlich Oberaufseher der Land- und Wasserwerke in Holland, dann Generalquartiermeister. Er erwarb sich große Verdienste um das Artillerie- und Befestigungswesen, erfand den Segelwagen und den Segelschlitten, stellte 1586 die erste richtige Theorie über die schiefe Ebene auf, deutete den Satz vom Parallelogramm der Kräfte an, erklärte das Gleichgewicht in kommunizierenden Röhren, führte die Dezimalbruchrechnung 1596 ein und sprach schon aus, daß dadurch die Dezimalteilung von Maßen, Gewichten und Münzen nötig würde. Endlich erwarb er sich als Geograph und durch die unter dem Namen Hylokinese veröffentlichten Prinzipien der tellurischen Morphologie Verdienste.[77]

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J. Baptista Benedetti (1530–1590) hatte nie eine Schule besucht und nur unter Tartaglia die vier ersten Bücher des Euklid gelesen, wonach er sich dann allein weiterbildete. Trotzdem ließ er schon mit 23 Jahren das bedeutende Werk »resolutio omnium Euclidis problematum« erscheinen, in welchem er alle Probleme des großen Griechen mit einer Zirkelöffnung lösen lehrte. In einem späteren Werke bewies er Kenntnis der Beharrung eines Körpers auch in der Bewegung, behauptete, daß alle Körper ohne Rücksicht auf ihr Gewicht von gleicher Höhe in gleicher Zeit zur Erde fallen und daß im Kreise geschwungene Körper, sich selbst überlassen, in der Tangente des Kreises fortgehen. Endlich löste er die Aufgabe vom schiefen Hebel.[78]

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Giambattista della Porta (1538–1615), ein reicher neapolitanischer Edelmann, betrieb die Physik als Liebhaberei. Trotzdem haben wir in ihm den Erfinder der camera obskura und einer Art laterna magica zu erblicken. Er erkannte auch zuerst, daß man in einem Hohlspiegel die Brennpunkte aller Strahlen, die in der Nähe der Achse einfallen, ohne merklichen Fehler in den Mittelpunkt des Halbkreises setzen könne. Porta wurde später von der Inquisition der Zauberei und übernatürlicher Kräfte angeklagt.[79]

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Der Begründer der Pflanzenphysiologie war Stephan Hales (1677–1761), ein sehr tüchtiger Theologe und Pfarrer in verschiedenen Grafschaften. Noch einmal zeigte sich in ihm der originelle Erfindergeist und die gesunde, urwüchsige Logik der großen Naturforscher aus Newtons Zeitalter. Sein »Statical essays« (1727) war das erste umfangreiche, ganz der Ernährung und Selbstbewegung der Pflanzen gewidmete Werk. Es berücksichtigte zwar die ältere Literatur, teilte aber doch im wesentlichen neue Untersuchungen des Verfassers mit. Eine Fülle neuer Experimente und Beobachtungen, Messungen und Berechnungen vereinigen sich hier zu einem lebensvollen Bild.[80]

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Halley (1656–1742), übrigens der Sohn eines Seifensieders, hatte bekanntlich die Wiederkehr des nach ihm benannten Kometen, der auch in diesem Jahre erschien, im Jahre 1703 berechnet und auf den Anfang des Jahres 1759 vorherbestimmt. Alle Astronomen Europas suchten daher, als das Jahr 1758 seinem Ende sich näherte, den Himmel mit Fernrohren ab, jedoch vergeblich. Anders der Bauer Johann Palitzsch (1723–1788). Schon als Hüterjunge hatte er sich für die Sternenwelt interessiert, dann sich durch Selbststudium ansehnliche astronomische Kenntnisse erworben. Als nun der Siebenjährige Krieg sein Vaterland Sachsen heimsuchte, versteckte er seine primitiven astronomischen Instrumente, aus Furcht, sie könnten ihm gestohlen werden. Um die Weihnachtszeit 1758 trat in der Kriegsführung eine Pause ein. Diese benutzte er dazu, um sein Fernrohr auszugraben und die Stelle des Himmels abzusuchen, wo er den Komet erwartete. Tatsächlich entdeckte er ihn als erster als nebeligen Stern im Sternbild der Fische. Damit hatte der Bauernastronom einen Vorsprung vor der ganzen Welt gewonnen und sein Name wurde überall genannt. In Paris sah man ihn erst vier Wochen später. Palitzsch blieb hinfort mit der Londoner Akademie in ständiger Korrespondenz. Übrigens war er nichts weniger als einseitig, besaß vielmehr bedeutende botanische und physikalische Kenntnisse, die ihn dazu befähigten, im Großen Garten zu Dresden einen Süßwasserpolypen zu entdecken. Er errichtete auch als erster in Sachsen 1775 einen Blitzableiter und zwar auf dem Schloßturm in Dresden. Er blieb bis zu seinem Tode, durch zahlreiche Ehrungen ausgezeichnet, ein schlichter Landmann.[81]

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Thomas Young (1773–1829) studierte Medizin und betrieb nur nebenbei mathematische, physikalische, botanische und philologische Studien. Von 1801 bis 1804 war er Professor an der Royal Institution, von 1811 bis zu seinem Tode war er Arzt am St. Georges-Hospital in London. Seine wissenschaftlichen, überall wertvollen Arbeiten betreffen Mechanik, Optik, Wärmetheorie, Akustik, theoretische Chemie, die Bewegung des Blutes, den Schiffbau, die mittlere Lebensdauer des Menschen, die Dichte der Erde, das wahrscheinlich richtigste Resultat aus mehreren Beobachtungen, die Ursache der Schwere, Ebbe und Flut, die Figur der Erde, die Mondatmosphäre. Er leistete auch wichtige Dienste für die Entzifferung der Hieroglyphen. Außerdem war er schriftstellerisch tätig, ein gründlicher Kenner der Musik, ausgezeichneter Maler und geübter Reiter, der gegen Kunstreiter Wetten gewann. Er war ein Vorkämpfer gegen die Emissionstheorie, von der er sich bereits 1801 in einer der Royal Society vorgelegten Abhandlung zugunsten der Undulationstheorie lossagte. Schon in seiner 1800 erschienenen akustischen Abhandlung hatte er eine epochemachende Entdeckung gemacht, die ihn zum Reformator der Theorie der Optik werden ließ: die Interferenz von Wellenbewegungen.[82]

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Humphrey Potter war, wie berichtet wird, an der Konstruktion der ersten praktisch tätigen Dampfmaschine, die 1711 zu Wolverhamton für einen Herrn Back zum Heben von Wasser aufgestellt wurde, beteiligt. Und zwar sei er als Knabe mit dem Auf- und Zudrehen der Hähne, welche den Dampf oder das kalte Wasser vom Dampfzylinder abschlossen, beauftragt gewesen. Weil ihm diese Manipulationen zu langweilig wurden, habe er die Hähne durch Bindfäden so mit dem Balancierer der Maschine verbunden, daß dieser statt seiner das Umstellen derselben zur richtigen Zeit besorgte. Daß diese geniale Erfindung der Vervollkommnung der Dampfmaschine vorausgehen mußte, ist hinlänglich bekannt.[83]

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Der geniale Erfinder Denys Papin (1647–1710, vgl. S. 54) war studierter Mediziner.

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Maupertuis (1698–1759) war ursprünglich Soldat und zwar von 1718–1723. Er entdeckte das Prinzip der kleinsten Wirkung, nach dem alle mechanischen Probleme analytisch zu lösen waren.[84]

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Benjamin Franklin (1706–1790) war der Sohn eines unbemittelten Seifensieders, besuchte, da er früh seinem Vater im Geschäft helfen mußte, eine mittelmäßige Schule mit nur geringem Erfolg und erwarb sich später seine Kenntnisse ohne Lehrer. Ohne jegliche Gymnasial- oder gar Universitätsbildung, allein durch Selbststudium, brachte er es nicht nur zu einem hervorragenden Staatsmann, sondern auch zu einem epochemachenden Gelehrten. Seine Erfindung des Blitzableiters und andere große Taten sind zu bekannt, um hier näher dargelegt zu werden. Sicher ist, daß die Welt es nur dem Fehlen der gelehrten Zunft und des Befähigungsnachweises in Amerika zu danken hat, wenn dieser seltene Mann seinen Fähigkeiten gemäß Großes leisten durfte.[85]

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Doch wie so oft zwei Personen gleichzeitig ein Problem lösen, so auch beim Blitzableiter. Gleichzeitig und unabhängig von Franklin wurde er auch in Europa erfunden, und zwar von Prokop Divisch zu Prenditz bei Znaim im Jahre 1750. Der Erfinder war wieder kein Fachmann, sondern ein Pfarrer.[86]

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Luigi Galvani (1737–1798) war Professor der Medizin und beschäftigte sich besonders mit vergleichender Anatomie und Physiologie. Ist die Tatsache, daß hier wieder kein Fachmann, sondern ein Outsider eine der großartigsten Entdeckungen machte, schon bemerkenswert genug, so sind es die Nebenumstände nicht minder. Wie er in seiner 1791 erschienenen Schrift »De viribus electricitatis in motu musculari commentarius« erzählt, trug sich die Geschichte seiner Entdeckung folgendermaßen zu: »Ich zerschnitt einen Frosch..., legte ihn, ohne etwas zu vermuten, auf die Tafel, worauf die Elektrisiermaschine stand, die gänzlich vom Konduktor getrennt und ziemlich weit davon entfernt war. Als aber einer meiner Zuhörer die Spitze des Messers von ungefähr ein wenig an die inneren Schenkelnerven brachte, wurden die Muskeln aller Glieder sogleich zusammengezogen, als ob sie von heftigen Konvulsionen ergriffen würden. Ein anderer von den Anwesenden glaubte zu bemerken, es geschähe nur zur Zeit, wenn der Konduktor einen Funken gäbe. Er bewunderte die Neuheit der Sache und machte mich, der ich eben etwas ganz anderes vorhatte, aufmerksam darauf.«

Wer der »andere von den Anwesenden« war, ist niemals mit Sicherheit festgestellt worden. In Bologna ging das Gerücht, es sei die eigene Gattin Galvanis gewesen. Danach gebührte ihr ein nicht geringes Verdienst an dieser unsterblichen Entdeckung.[87]

Wie Wilhelm Ostwald in seiner »Entwicklung der Elektrochemie« erzählt, verdankte Galvani gerade der Lückenhaftigkeit seiner Kenntnisse diese Entdeckung, da die damaligen Theorien, wenn er sie gekannt hätte, eine Erklärung des Phänomens geboten hätten.

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Etienne Louis Malus (1775–1812) war auf der polytechnischen Schule gebildet, wurde 1796 Kapitän im Geniekorps, erkrankte als Teilnehmer an der ägyptischen Expedition an der Pest, wurde, nach Frankreich zurückgekehrt, von 1806–1808 Unterdirektor der Fortifikationen in Straßburg und im folgenden Jahre Examinator an der polytechnischen Schule in Paris. Dieser Offizier entdeckte die Polarisation des Lichtes, was er schon 1808 dem Institute von Frankreich mitteilte. Er gab auch alle Methoden an, die zu einer richtigen Beschreibung und Messung der Polarisationserscheinungen dienlich sind.[88]

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Augustin Jean Fresnel (1788–1827), der in höchst genialer Weise die Anwendung der Undulationstheorie auf die Polarisation und Doppelbrechung des Lichtes bewerkstelligte, war Ingenieur, also ebenfalls kein Fachmann.[89]

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Johann Fraunhofer (1787–1826) war der Sohn eines armen Glasers, in dessen Geschäft er so viel helfen mußte, daß er bis zum 14. Jahre des Lesens und Schreibens unkundig blieb. Nachdem er schon vorher bei einem Spiegelmacher und Glasschleifer in der Lehre gewesen war, kam er 1806 in das mechanisch-optische Institut von Utzschneider in Benediktbeuern, in das er 1809 als Teilhaber eintrat. Als die Anstalt 1819 nach München verlegt worden war, wurde er dort Professor. Die genialen Arbeiten dieses Selfmademan über das Spektrum, sowie seine Fernrohre sind hinlänglich bekannt. Zu beachten aber ist, daß viele dieser großen Entdecker nicht nur Dilettanten im Sinne der Zunft waren, sondern auch im jugendlichsten Alter in bahnbrechender Weise die Wissenschaft förderten.[90]

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Besonders das mathematische Talent zeigt sich häufig sehr früh. So bezog William Thomson, der von nahezu beispielloser Frühreife war, im Alter von 10 Jahren die Universität. Gauß schrieb seine 1804 erschienenen »Disquisitiones Arithmeticae«, die höchste seiner Leistungen, als Primaner. Evariste Galois, dem manche die größte mathematische Begabung aller Zeiten zuerkennen wollen, schrieb eine Reihe von Arbeiten als 20jähriger Jüngling innerhalb von drei Wochen, einer ihm bis zu einem Duell, in dem er fiel, verbleibenden Frist. Die Pariser Akademie, die diese Arbeiten gegenwärtig herausgibt, ist bereits bis zu ihrem achten Bande gekommen!

Niels Henrik Abel schrieb seine ersten Abhandlungen mit 18 Jahren und starb mit 27 Jahren, nachdem er seinen Namen gegen den des großen Gauß gestellt hatte. William Thomson aber löste noch als Knabe an der Universität Glasgow eine Preisaufgabe über die Gestalt der Erde und behandelte in Cambridge mit 18 Jahren in einer grundlegenden Abhandlung die Analogie der Theorie der Wärmeleitung in festen Körpern mit der der elektromagnetischen Anziehung streng mathematisch.[91]

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Hier mag auch an die bekannte Tatsache erinnert werden, daß Pierre Fermat (1601–1665), ein so hervorragender Mathematiker, daß bis heute noch trotz eines Preises von 100000 M. es nicht gelingen wollte, seine berühmte Gleichung elementar zu lösen, Jurist war.

André Marie Ampère (1775–1836) wuchs auf einer kleinen Besitzung seiner Eltern bei Lyon auf. Hier war der Knabe viel auf sich selbst angewiesen und versuchte seinen Wissensdurst durch das Studium des großen Dictionnaire von D’Alembert und Diderot zu stillen, dessen 20 Bände er gründlich und ohne Auslassung durcharbeitete. Später – nach der Hinrichtung seines Vaters war er ein Jahr in geistige Apathie verfallen – regte ihn die Botanik und das Studium der lateinischen Dichter vor allem an. Um sich eine Lebensstellung zu schaffen, wurde Ampère 1796 Privatlehrer der Mathematik in Lyon und studierte in den Mußestunden die Chemie von Lavoisier. Dieser geniale Autodidakt wurde Lehrer der Physik an der Zentralschule zu Bourg im Jahre 1807, später Professor an der polytechnischen Schule zu Paris. Von 1800–1820, wo seine elektrischen Untersuchungen begannen, beschäftigte er sich viel mit mathematischen Arbeiten. Über ihn urteilt Maxwell (Lehrbuch der Elektrizität, Berlin 1883, II, S. 216): »Ampères Untersuchungen, durch die er die Gesetze der mechanischen Wirkungen elektrischer Ströme aufeinander begründete, gehören zu den glänzendsten Taten, die je in der Wissenschaft vollbracht worden sind. Theorie und Experiment scheinen in voller Macht und Ausbildung dem Hirn des ›Newton der Elektrizität‹ entsprungen zu sein. Seine Schrift (Théorie des Phénomènes etc.) ist in der Form vollendet, in der Präzision des Ausdrucks unerreichbar, und ihre Bilanze besteht in einer Formel, aus der man alle Phänomene, welche die Elektrizität bietet, abzuleiten vermag, und die in allen Zeiten als Kardinalformel der Elektrodynamik bestehen bleiben wird.«[92]

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Die Voltasche Säule wurde von Cruikshank (1745–1800), Arzt und Chemiker seines Zeichens, verbessert durch einen Trog, in den 60 aufeinandergelötete Plattenpaare von Zink und Silber eingelassen wurden. Die Zwischenräume zwischen den Plattenpaaren füllte er mit salzsaurem Ammoniak. Eine bedeutende Verbesserung brachte Wilkinson, ein Londoner Wundarzt, an, indem er diese Trogapparate in ihrer äußeren Einrichtung den heutigen Tauchbatterien annäherte. Weiter auf diese Details einzugehen ist zwecklos. Desto interessanter aber die Feststellung, daß zwei so wichtige Fortschritte elektrotechnischer Art von Nichtfachleuten herrühren.[93]

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Chladni (1756–1827), der Vater der Akustik, der unter anderem die nach ihm genannten berühmten Klangfiguren entdeckte, studierte auf den Wunsch seines Vaters Jura und erst nach dessen Tode Naturwissenschaften. Erst im Alter von 19 Jahren fing er an, Klavier zu spielen und erfand 1790 im Euphon ein neues Toninstrument, mit dem er als Virtuose Kunstreisen machte, von deren Ertrag er sich ein beträchtliches Vermögen ersparen konnte.[94]

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Thomas Johann Seebeck (1770–1831), der Entdecker des heute Thermoelektrizität genannten »Thermomagnetismus«, hatte Medizin studiert, lebte dann als Privatmann in Jena, Bayreuth und Nürnberg und wurde 1818 Mitglied der Berliner Akademie. Also auch er war kein Fachmann; so wenig wie Carnot, der Vater der neuen Wärmetheorie, insofern dieselbe mathematisch ist und man die Größenverhältnisse der Wirkungen betrachtet. Er war nach Absolvierung der polytechnischen Schule 1814 französischer Genieoffizier, trat 1819 als Leutnant in den Generalstab ein und wandte sich, da er nicht befördert wurde, dem Studium der Wärmeerscheinungen zu. Nachdem er 1828 seinen Abschied genommen hatte, starb er 1832 im Alter von 36 Jahren. Aus hinterlassenen Papieren geht hervor, daß er bereits den Satz von der Erhaltung der Kraft allgemein ausgesprochen hat, in der Form, »daß die bewegende Kraft in der Natur eine unveränderliche Größe ist, daß sie im eigentlichen Sinne des Wortes weder geschaffen noch zerstört wird«.[95]

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Michael Faraday wurde 1791 als Sohn eines Hufschmiedes geboren. Im Alter von 13 Jahren trat er bei einem Buchhändler und Buchbinder ein, um dort acht Jahre zu bleiben. In seinen Mußestunden las er Mrs. Marcets Gespräche über Chemie und aus der Encyklopädia Britannica die Abhandlungen über Elektrizität und bemühte sich auch, die dort angegebenen Versuche zu wiederholen. 1810 und 1811 erlaubte ihm sein Meister, an einigen Abenden populäre Vorlesungen eines Herrn Tatum über Physik zu besuchen. 1812 hörte er die vier letzten Vorlesungen Humphrey Davys. Auf Grund seiner Ausarbeitung der gehörten Vorlesungen, die er an Davy sandte, erhielt dieser Autodidakt 1813 die Stelle eines Assistenten am Laboratorium der Royal Institution, trat dann mit Davy eine größere Reise an und hielt 1816 seine erste Vorlesung. 1824 wurde er, nicht ohne vorheriges Widerstreben Davys, zum Mitglied der Royal Society gewählt, und nun folgten die Ehren schnell.

Faraday war einer der bedeutendsten Naturforscher aller Zeiten, dessen Entdeckungen zahllos sind. Er hatte auch schon die klare Einsicht in die Einheit aller Naturkräfte, welche die moderne Physik erst nach längerer Zeit und nach vielen Kämpfen sich erworben hat. Die Idee der gegenseitigen Umwandlungsfähigkeit der Naturkräfte war bei seinen bedeutendsten Entdeckungen der leitende Gedanke.[96]

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George Green (1793–1841), der 1828 die Potentialfunktion zur Bestimmung physikalischer Kräfte zuerst einführte, war Sohn eines Bäckers und Müllers und setzte anfangs das Gewerbe seines Vaters fort, um später in Cambridge zu studieren.[97]

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Siméon Denis Poisson (1781–1840) wurde in der Jugend zu einem verwandten Chirurgen in die Lehre geschickt, da der Familienrat ihn der geistigen Anstrengungen eines Notariates nicht für gewachsen hielt. Hier war er gänzlich unbrauchbar. Als er 1798 in die polytechnische Schule eintrat, behauptete er immer den ersten Platz, wurde bereits 1800 Repetent und 1806 Professor. Er hat sich um die mathematische Mechanik große Verdienste erworben.[98]

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Julius Robert Mayer (1814–1878), der Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, aus dem er die Äquivalenz von Arbeit und Wärme folgerte und das mechanische Äquivalent der Wärme berechnete, war Arzt. Als Schiffsarzt machte ihn 1840 in Java die veränderte Farbe des Venenblutes darauf aufmerksam, daß zwischen dem Stoffverbrauch und der produzierten Wärme im menschlichen Körper ein direkter Zusammenhang bestehen müsse. Seiner Arbeit »Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur« versagte Poggendorff die Aufnahme in seine Annalen der Physik und Chemie, wie er auch keine der späteren Arbeiten Mayers abdruckte.

Also auch der Entdecker eines der größten physikalischen Gesetze war kein Fachmann, sondern ein junger Arzt.[99]

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Das andere Genie, das sich mit diesem Thema befaßte, das uns in ungeahnter Weise einen Einblick in die Ökonomie des Weltalls eröffnet, und der auch das Glück hatte, Anerkennung zu finden, war ebenfalls kein Physiker, sondern der Besitzer einer Bierbrauerei: James Prescott Joule (1818–1889). Er begründete die mechanische Wärmetheorie auf experimentellem Wege und zwar in völliger Unabhängigkeit von Mayer.

Die Hauptabhandlung des 32jährigen erschien 1850, nachdem er bereits 1843 Gedanken geäußert hatte, die an Kühnheit den Mayerschen von 1845 fast gleichkamen. Übrigens war Joule auch der Begründer der Kinetischen Theorie der Gase.[100]

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Auch H. Helmholtz, der dritte Große auf diesem Felde, war, als er im Jahre 1847 seine Abhandlung »Über die Erhaltung der Kraft« veröffentlichte, in der er mathematisch das Gesetz bewies, nicht Physiker oder Mathematiker, sondern ein junger Arzt. Helmholtz, 1821 geboren, studierte Medizin, wurde 1843 Militärarzt in Potsdam, 1848 Lehrer der Anatomie an der Kunstakademie in Berlin und erst 1871 – nach verschiedenen anderen Stellen als Professor der Physiologie – Professor der Physik in Berlin.[101]

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Leclerc de Buffon (1707–1788) studierte Mathematik und Physik und war Intendant des Jardin royal des plantes in Paris. Wiewohl er also nicht Geologe von Fach war, ja auf geologischem Gebiete nur in beschränktem Maße als Beobachter und Forscher tätig war, bekämpfte er bereits die Annahme einer universellen Sintflut und erkannte u. a., daß ein Teil der in der Erde begrabenen Fossilien zu erloschenen Arten gehört. Auch lehrte er die Abplattung der Erde an den Polen und Erhöhung am Äquator. Zittel sagte von Buffon: »Ein Vergleich der Epoques de la nature (1778) mit den zum Teil kindischen Hypothesen seiner Vorgänger und Zeitgenossen zeigt am deutlichsten die geistige Überlegenheit des großen Naturforschers.« Die Grundgedanken dieses Outsiders haben sich als richtig bis heute bewährt.[102]

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Leopold von Buch (1774–1852) galt mit vollem Recht für den größten Geologen seiner Zeit. Weder er noch Alexander von Humboldt (1769–1859), dessen Auftreten durch die Anregung, die er auf weite Kreise ausübte und der in Deutschland der jungen Wissenschaft viele Freunde und Anhänger zuführte, wie das Buffon und Cuvier in Frankreich getan hatten, nicht hoch genug zu veranschlagen ist, haben je ein öffentliches Lehramt bekleidet. In völlig unabhängiger Lebensstellung widmeten sie sich ganz der Wissenschaft, darin ihrem großen englischen Kollegen Lyell (1797–1875) gleichend.

Die größten Geologen waren also entweder überhaupt nicht Fachleute im strengen Sinne oder doch nicht zünftige Gelehrte.[103]

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Der französische Ingenieur Claude Chappe hatte einen optischen Telegraphen im Jahre 1792 konstruiert, der schon zwei Jahre später zwischen Paris und Lille fertiggestellt wurde, um bald in der Länge von etwa 5000 km sich durch ganz Frankreich zu ziehen. Die 300 km von Paris nach Toulouse wurden in 20 Minuten durch die Zeichensprache zurückgelegt. Da aber nur an hellen Tagen, wenn es weder regnete noch schneite, telegraphiert werden konnte, war die Benutzung der Linien vom Zufall abhängig. Darüber sprach im Jahre 1809 der bayerische Minister Graf Montgelas in Gegenwart des Professors der Anatomie Thomas Sömmering. Da dieser sich in seinen Mußestunden mit allen möglichen Dingen beschäftigte, kam er auch auf den Gedanken, die Elektrizität zu verwenden und konnte schon acht Wochen später der bayerischen Akademie der Wissenschaften einen von ihm erfundenen elektromagnetischen Telegraphen vorführen, den ersten elektrischen Telegraphen, den es je gegeben hat. Wenn auch das System unpraktisch oder doch sehr kostspielig war, so hatte er zweifellos das Verdienst, gezeigt zu haben, daß man die Elektrizität überhaupt zum Zwecke der Telegraphie benutzen könne.

Merkwürdig ist aber, daß ein so genialer und weitblickender Mann wie Napoleon sich allein abfällig über die Erfindung äußerte und sie wegwerfend als »une idée germanique« bezeichnete. Oder sollte ihn die Unvollkommenheit im praktischen Sinne dazu bewogen haben?[104]

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George Stephenson (1781–1848), der Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, der auch die erste Eisenbahn zur Beförderung von Personen zwischen Stockton und Darlington baute, fing seine glänzende Laufbahn als einfacher Dampfmaschinenwärter an.[105]

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Samuel Morse (1791–1872) war Maler. Auf der Heimreise von Europa, wo er die Mal- und Zeichenschulen studiert hatte, nach Amerika, entwarf er 1832 einen Drucktelegraphen und das nach ihm benannte, aus Punkten und Linien bestehende Zeichensystem. 1837 erhielt er auf seine Erfindung ein amerikanisches Patent und baute 1843 die erste Versuchslinie zwischen Washington und Baltimore ein. Die Erfindung dieses Autodidakten und Outsiders wurde bekanntlich allgemein eingeführt.[106]

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Der Erfinder des Kehlkopfspiegels war nicht etwa ein Arzt, sondern der berühmte Gesanglehrer Manuel Garcia (1805–1906). Diese Erfindung ermöglichte erst die Laryngoskopie.[107]

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Wie die Erfinder des Luftballons, Joseph Michel Mongolfier (1740–1810) und Jacques Etienne Mongolfier (1745–1799) Papierfabrikanten waren, so die der drei lenkbaren Luftschiffe, des starren, halbstarren und unstarren Systems, sämtlich nicht Fachmänner, sondern, wie jedermann weiß, die Offiziere Graf Zeppelin, Major Groß und Major von Parseval.

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Übrigens war der erste, der einen noch dazu erfolgreichen Versuch zur Konstruktion eines lenkbaren Luftschiffes machte, ein armer römischer Schuster, der im Palazzo Aldobrandini wohnte. Dort besuchte ihn Le Bar, der Erzieher Napoleons III., mit seinem Zögling am 18. November 1823. Die Flugmaschine bestand aus zwei Teilen, von denen der eine den Ballon in horizontaler Richtung halten, während der andere die Sicherheit der Fahrt verbürgen sollte.[108]

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Daguerre (1783–1851), der im Jahre 1838 die Erfindung der Photographie machte, d. h. das Licht zur Bildererzeugung zwang, war nicht nur kein Fachmann, sondern sogar »eigentlicher Fachkenntnisse bar« und seines Zeichens Maler. Ursprünglich war er Steuerbeamter gewesen. Übrigens hatten sich schon vorher Physiker (Davy und Wedgewood) erfolglos damit beschäftigt.[109]

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Foucault (1819–1868) veröffentlichte seine berühmten Pendelversuche »Démonstration physique du mouvement de rotation de la terre au moyen du pendule« im Jahre 1850, also 31jährig. Er bekleidete damals die Stellung eines Redakteurs des wissenschaftlichen Teiles des Journal des Débats.

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Die ersten Versuche zur Umwandlung der Elektrizität in Töne machte 1837 Page (1812–1868). Er war seines Zeichens Agent und Patentanwalt in Washington. Ph. Reis (1834–1874) trat 1850 als Lehrling in ein Farbwarengeschäft zu Frankfurt a. M. ein und studierte privatim seit 1853 Mathematik und Naturwissenschaften. Um das Jahr 1860 konstruierte der erst 24jährige Autodidakt das erste Telephon, an dem er seit 1857 gearbeitet hatte. Das erste praktisch verwendbare Telephon aber konstruierte der Taubstummenlehrer Graham Bell, geb. 1847 in Boston, im Jahre 1876. Also kein einziger Physiker, sondern ausschließlich »Dilettanten«, von denen noch dazu kein einziger das 30. Lebensjahr erreicht hatte, waren die Erfinder dieses außerordentlichen Verkehrsmittels.[110]

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Die beiden Weltfirmen Siemens & Halske in Berlin und Karl Zeiß in Jena sind aus bescheidenen mechanischen Werkstätten hervorgegangen und verdanken ihre Blüte dem Eintritt von Männern, die außerhalb der Zunft standen. Dort des Artillerieoffiziers Werner Siemens (1816–1892), dessen Erfindungen und Verbesserungen, besonders auf dem Gebiet des Telegraphenwesens, außerordentlich zahlreich sind; hier des Universitätsdozenten Ernst Abbe. Karl Zeiß (1816–1888) selbst besaß keine Universitätsbildung, sondern hatte vor der Prima das Gymnasium verlassen, um dann in mechanischen und Maschinenwerkstätten zu lernen.[111]

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Der Erfinder des Zweirades, Karl von Drais (1784–1851), war von Beruf nicht etwa Mechaniker, sondern badischer Forstmeister. Er war auch der erste, der eine Schreibmaschine, und zwar auf stenographischer Grundlage, konstruierte.[112]

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Charles Darwin (1809–1892), über dessen Leistungen sich wohl jedes Wort erübrigt, war in der Schule des Dr. Buttler in Shrewsbury ein so schlechter Schüler, daß sein Vater ihn mit 16 Jahren herausnahm und Medizin studieren ließ. Da er auch da nichts leistete, widmete er sich nach zwei Jahren in Cambridge der Theologie, in der er nach drei Jahren das Baccalaureusexamen bestand. Nebenher interessierte er sich für Mineralien, Pflanzen, Muscheln, Insekten, aber auch für Münzen und Siegel, die er sammelte. Auch Geologie, Botanik und besonders Zoologie zog er in den Bereich seines Interesses, ohne aber den Vorsatz, Geistlicher zu werden, um dieser Liebhabereien willen, zu denen noch leidenschaftliche Liebe zur Jagd kam, aufzugeben. Nach seinem eigenen Geständnis »würde er sich damals für verrückt gehalten haben, wenn er in den ersten Tagen nach Eröffnung der Rebhuhnjagd zugunsten von Geologie oder einer anderen Wissenschaft auf die Jagd hätte verzichten wollen«. Als für die fünfjährige Weltumseglung des englischen Kriegsschiffes »Beagle« ein Naturforscher gesucht wurde, empfahl Professor Henslow Darwin. Da aber dessen Vater kein rechtes Vertrauen zur Ernsthaftigkeit des Jünglings hatte, schrieb er ab, und nur dem Zufall ist es zu danken, daß aus der Reise doch etwas wurde. Tatsächlich trat er sie (1831) an, ohne in irgendeiner der vier Wissenschaften, auf welche er während der Reise hauptsächlich sein Augenmerk zu richten hatte: Zoologie, Botanik, Geologie und Paläontologie, ein abgerundetes Schulwissen zu besitzen. Dafür besaß er allerdings den freien, durch keine Lehrmeinungen beeinträchtigten Blick für die Erscheinungen der Umgebung, ein Gewinn, der fürstlichen Lohn trug. So hat der in der ersten Hälfte der Zwanziger stehende Forscher, der schon vor der Reise die Flimmerlarven der Moostierchen und das Keimen der Pollenschläuche entdeckt hatte, auf ihr die Theorie der Entstehung der Korallenriffe, ja, seine Deszendenztheorie aufgestellt. Der große Forscher und edle Mensch hat niemals ein öffentliches Lehramt bekleidet.[113]

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Darwin mag uns daran erinnern, daß außer den bereits oben genannten noch eine Reihe von schlechten Schülern mit ihren Erfolgen im späteren Leben ganz zufrieden sein konnten. Bekanntlich war J. J. Rousseau ein solcher Ausreißer, der nach einer jämmerlichen Schulbildung seinem Meister, einem Kupferstecher in Genf, 16jährig durchging, später Bedienter wurde, sich auch eine Zeitlang einem Hochstapler anschloß und sich als schon berühmter Mann vom Notenabschreiben nährte.

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Liebig erzählt von sich selbst, daß er als Schüler keine Erfolge hatte. Bürger wurde als zwölfjähriges Bürschchen von der Stadtschule zu Aschersleben geschwenkt, der große Dichter Shelley erlebte auf der Schule zu Eton ein gleiches Schicksal und nochmals auf der Universität zu Oxford. Auch Edgar Poe wurde relegiert. Schiller ging bekanntlich von der Karlsschule durch, der Turnvater Jahn aber entfloh dem Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin.

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Van Erpecum, ein Schüler an der Höheren Schule in Batavia, machte die Beobachtung – es dürfte 1902 gewesen sein –, daß in einem bis zum Rande mit Wasser und darin herumschwimmenden Eisstückchen gefülltem Gefäß das Wasser nicht überfloß, als das Eis schmolz. Daraus folgerte er das »Gesetz der permanenten Oberfläche«, das er mit Hilfe seines Lehrers in den Sitzungsberichten der Kgl. Niederländischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte.[114]

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Wie die genialsten Gedanken und Beobachtungen in den Naturwissenschaften und der Technik von Dilettanten bzw. Outsiders stammen, also von Männern, die nicht der gelehrten Zunft angehörten und häufig das Gebiet nur im Nebenfach bestellten, sahen wir eben. Ja, wir trafen auch in späteren Jahrhunderten eine Reihe von Männern, die auf vielen Gebieten geniale Bahnbrecher wurden, wie das in der Renaissance so häufig war. Ebenso verhält es sich auch in den Geisteswissenschaften. Auch hier ist der Beweis nicht schwer zu erbringen.

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William Jones (1746–1794) war es, der sich zuerst eine eindringende Kenntnis des Sanskrit erwarb und in wesentlich richtigen und geschmackvollen Übersetzungen erprobte. Er führte Cakuntala so gut wie die Gesetze des Manu und Teile der Rigveda in die europäische Literatur ein. Natürlich war er nicht Philologe oder Orientalist von Fach, sondern Oberrichter in Fort William in Bengalen.[115]

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Der erste, der Sanskrit und seine Literatur in wahrhaft philologischem Sinne behandelte – schreibt Benfey – und dadurch einen sicheren Grund für eine Sanskritphilologie legte, war Henry Thomas Colebrooke (1765–1837). Auch er war Jurist, nämlich Richter in Mirzapoor in Indien, dann politischer Resident am Hofe von Berar.[116]

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Der erste Entzifferer der Keilinschrift war der klassische Philologe Georg Friedrich Grotefend (1775–1853). Die größten Kenner der Keilinschriften räumen ihm nicht nur die Priorität der Entzifferung, sondern auch die Größe der Entdeckung an sich ein, wie sie auch die Bedeutung seiner Methode für die weiteren Entzifferungsversuche anerkennen. Schon im Jahre 1802, also 27jährig, legte Grotefend seine ersten Entzifferungsresultate der Göttinger Akademie der Wissenschaften vor. Das erstaunlichste war nun, daß dieser Mann, der die Genialität besaß, die seit Jahrtausenden schweigenden Steine zum Reden zu bringen, gar nicht Sanskrit konnte![117]

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Der Ruhm, den rechten Weg zur Entzifferung der Hieroglyphen gefunden und weiter gegangen zu sein, gebührt dem englischen Arzt Thomas Young, von dessen Genialität im Reiche der Naturwissenschaften wir schon früher Zeugen waren. Er veröffentlichte 1815 in dem Cambridger »Museum criticum« eine mutmaßliche Übersetzung des ganzen demotischen Teils der Inschrift von Rosette, die Entzifferung sämtlicher darin vorkommender Eigennamen und außerdem die Erklärung von 80 andern Wörtern und ein aus diesen Erklärungen sich ergebendes demotisches Alphabet. Er entdeckte sogar, daß viele Wörter nicht alphabetisch, sondern symbolisch geschrieben seien. Eine außerordentliche Förderung ließ Jean François Champollion le jeune (1790 bis 1832) der Entzifferung der Hieroglyphen angedeihen, ja, er ist der eigentliche Vater der neuen Wissenschaft geworden. Er war seit 1809 Professor der Geschichte in Grenoble. Ihm glückte die Entzifferung 1822, also in seinem 32. Lebensjahre.[118]

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Enden wir hier das Kapitel. Wohl niemand wird mehr bestreiten wollen, daß uns der Beweis gelang. Und doch können wir mit einem Trostwort schließen.

Die Universitäten sind im allgemeinen nicht schlechter geworden. Sie verbannen heute die Genialität nicht weiter von sich als in früheren Jahrhunderten. Sie waren immer eine Organisation der Mittelmäßigkeit.

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Das sei zum Schluß durch Beispiele und Worte eines berufenen Kenners belegt.

Georg von Peurbach, dem bereits Padua und Bologna einen Lehrstuhl für Astronomie angeboten hatten, las in Wien als Magister der Artistenfakultät 1434–1460 vorzugsweise über römische Dichter. Nur 1458 hielt er eine mathematische Vorlesung. Sein großer Schüler Regiomontanus war an keiner Universität, sondern in Nürnberg tätig, da er an den damaligen Universitäten wenig Förderung seiner Studien zu finden meinte. Georg Kaufmann konstatiert, daß »die Wirksamkeit der beiden großen Astronomen und Mathematiker, die den Ruhm der Wiener Universität zu bilden pflegen, der Wiener Universität nur lose verwandt waren, daß ihre Studien außerhalb des Rahmens ihrer akademischen Tätigkeit lagen, und daß sie die Ordnung des mathematischen Unterrichts in Wien nicht umgestaltet haben.«[119]

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Es ist immer dieselbe Sache: Von der Universität und der gelehrten Zunft gering geschätzt oder bekämpft, wird der »Dilettant« nach seinem Tode mit Gewalt zum Professor und Kollegen gestempelt. Denn, wollte die gelehrte Zunft auf die Outsider verzichten, dann wäre das gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die größten Förderer der Wissenschaft.

Anm. Hierzu ist in meinem Buch: »Dinge, die man nicht sagt«, das Kapitel: »Kunst und Dilettantismus« zu vergleichen, das noch eine Reihe Ergänzungen liefert.

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