Fünfter Abschnitt Von Universität und Schule

Die mittelalterlichen Scholaren der Artistenfakultät, also die große Masse, lebte in den Bursen in größtem Zwang. Sie standen den ganzen Tag unter Aufsicht, ihr Aufstehen, Essen und Trinken, Studium, Ausgehen, alles war vorgeschrieben, das Verbot der Wirtshäuser und Tanzräume, des Kartenspiels bestand bei ihnen wie bei unsern Mittelschülern, kurz, sie waren durchaus unfrei im Gegensatz zum modernen Studenten, hinter dem sie an Lebensalter allerdings bedeutend zurückstanden.

Nichts aber wäre falscher, als die Annahme, sie hätten deshalb einen halbwegs anständigen Lebenswandel geführt. So muß ein Heidelberger Statut von 1466 verbieten, daß die Scholaren den Magister während der Vorlesungen durch Geschrei und Schimpfreden störten, oder dadurch, daß sie einen Fuchs zwängen, das Salve anzustimmen oder mit Dreck würfen. Schon früher mußte in Heidelberg verboten werden, in den Vorlesungen mit Steinen zu werfen oder ähnlichen Unfug zu verüben. Wer während der Vorlesung mit Steinen wirft – heißt es dort 1444 – oder andere Unverschämtheiten sich zuschulden kommen läßt, dem soll – man meint das Sitzorgan gegerbt werden. O nein – dem soll eine Vorlesung als versäumt angerechnet werden!

Die groben Späße der Scholaren arteten bisweilen geradezu in Verbrechen aus. Sie plünderten die Gärten der Bürger, drangen nachts in die Häuser, beleidigten die Braut auf dem Zuge zur Kirche, drängten sich in Hochzeitsgesellschaften und wollten hier die Herren spielen, erregten nachts Waffenlärm, indem sie auf die Steine der Straßen schlugen, und griffen die Wächter an und wer sonst über die Straße kam. An allen Universitäten ereignete sich dergleichen Unfug. In Köln, Heidelberg und anderwärts kam es wiederholt zu förmlichen Tumulten, bei denen Sturm geläutet und das Banner entfaltet wurde.

Nur einen Unfug kannte man damals noch nicht, den der späteren Duelle. Von ihnen findet sich keine Spur. Beleidigungen wurden von Magistern und Scholaren auf dem Rechtswege ausgetragen, ohne Schaden an ihrer Ehre. Sonst setzte es tüchtige Prügel ab, was jedenfalls weit verständiger ist, als die Säbelschlägerei und Pistolenschießerei zwischen den dümmsten Grünlingen, die sich in ihrer funkelnagelneuen Ehre jeden Augenblick beleidigt fühlen. Wer den haarsträubenden Unfug und den frivolen Leichtsinn vieler studentischer »Ehrengerichte« kennt, wird das nur bestätigen können.[120]

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Einst frug der Kurfürst Christian von Sachsen Friedrich Taubmann (1565–1613), »was die Studenten in Wittenberg machten? Taubmann stehet von der Taffel auff, gehet mit dem Degen in den Hoff hinunter, hauet in die Steine, grabet etliche auss und wirfft zu dem Churfürsten in die Fenster und schreyet: ›Herunter, du Penal, du Spulwurm‹ etc. Der Churfürst läßt ihm sagen: Er sol nur auffhören, er hätte Bescheids genug.«[121]

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Prinz Wilhelm von Nassau-Dillenburg erzählt in seiner 1694 abgefaßten Reisebeschreibung über die Studenten in Padua: »Padua ist eine weitläufige, aber menschenleere Stadt, in deren Straßen man auch im größten Regen trocken einhergehen kann, unter den Gängen, die vor den Häusern sind. Es ist aber wunderlich, daß dort die Studenten Macht haben, Arme und Beine nicht nur sich selbst, sondern auch Fremden zu zerschießen.

Sobald es Nacht wird, gehen sie gewaffnet in Scharen aus, auf verschiedenen Parteien, und verstecken sich hin und wieder hinter die steinernen Pfeiler. Kömmt einer, so rufen sie ihn an: Qui va li? Da trägt es sich bisweilen zu, daß man zwischen zwei Qui va li? kömmt, und also in der größten Gefahr ist. – Auch dieses läßt die Republik (Venedig) aus Politik zu.«[122]

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Das wilde Leben der Scholaren wurde durch das ihrer Lehrer höchstens noch übertroffen. Da ist verboten, daß ein Magister mit einem Stein, einem Becher oder etwas ähnlichem werfe. Wer nur den Arm zum Werfen erhob, aber nicht warf, hatte zehn neue Groschen Strafe zu zahlen, wer warf, aber nicht traf, hatte acht Gulden zu erlegen, wer aber traf, wurde nach der Größe des Schadens bestraft. Auch Faustschläge und Reißen an den Haaren hatten ihre Tarife! Man stelle sich vor: Professoren! Niemand sollte auch durch das Fenster einsteigen. Tief blicken läßt die Bestimmung, daß kein Lehrer ad commodum suum meretricem (zu seinem Nutzen eine Prostituierte) ins Kollegium mitbringen dürfe. Das war sehr teuer und kostete eine ganze Jahresrente als Strafe, ebenso wie das andere Verbot, das man zu erlassen für nötig befunden hatte: vel actum venereum inibi exercere (den Beischlaf dort auszuüben). Bei den Disputationen aber war das Verbot von Schimpfworten wie ketzerisch, der Ketzerei verdächtig, Eselei oder Dummheit verboten.[123] Leider besitzen wir keine Instanz, die aus den Polemiken unserer Gelehrten die Schimpfereien und Lackelhaftigkeiten entfernte, die immer noch an den sozialen Tiefstand früherer Jahrhunderte unliebsam erinnern.

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Von der kläglichen Finanzlage, in der sich in der Regel die mittelalterlichen Universitäten, Fakultäten und Professoren befanden, gibt eine Vorstellung die Motivierung der Wiener Fakultät für das Unterlassen einer Beschickung der Nürnberger Tagung, auf der der Kaiser über die Berufung eines andern Konzils verhandeln wollte. Sie schreibt am 30. Dezember 1442: »weil die Universitätskasse vollkommen leer sei und die Universität selbst in großen Schulden stecke.«

Mag auch der Wunsch, sich überhaupt zu drücken, bei der Schwarzfärbung mitbestimmend gewesen sein, so beweisen doch die Schwierigkeiten, die die gleiche Universität hatte, um ihren Gesandten 1433 in Basel mit Geld auszustatten, daß Schmalhans Küchenmeister war. Jeder Professor hätte im Durchschnitt jährlich drei Gulden beisteuern müssen. Das ist allerdings sehr viel, wenn man bedenkt, daß der Mindestbesoldete nur 30 Gulden im Jahre an Gehalt erhielt und daß nur die Professoren der oberen Fakultäten – in Wien etwa 30 Gelehrte – Einnahmen von 80–100 Gulden buchen konnten. Ganz wenige unter ihnen zogen bedeutende Revenuen aus Prüfungen, sowie ihrer Praxis als Anwälte oder Ärzte.[124]

Jede Nebeneinnahme war natürlich hochwillkommen. Am meisten warfen die Promotionen in den oberen Fakultäten ab. Der Doktorand war verpflichtet, an die bei der Promotion anwesenden Magister und Doktoren Geschenke zu verteilen, und zwar zumeist ein Paar Handschuhe, wobei auch wohl unterschieden wurde, wer solche aus Hirschleder bekommen solle oder aus einer geringeren Qualität. Auch ein Barett, ein Geldstück oder einige Ellen Tuch waren übliche Geschenke. In Frankfurt wurden zwischen den Doktoren der oberen Fakultäten förmliche Verträge geschlossen, welche z. B. den Doktoren der Medizin das Recht verbürgten, bei der Promotion von Juristen und Theologen mit solchen Geschenken bedacht zu werden und umgekehrt. Dazu mußte der Doktorand Wein und Konfekt den Examinatoren und dem Kanzler liefern und den Doktorschmaus, dem sich bisweilen auch ein Ball anreihte, bezahlen. Da ist es dann kein Wunder, wenn die Kosten einer Promotion enorm waren. So mußte in Leipzig zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Doktor der Rechte bei seiner Promotion für Gelage, Umzüge, Musik und Geschenke die Summe von 250 Dukaten aufwenden.[125]

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Wie kläglich die finanzielle Lage der Professoren war, geht aus einer Klageschrift der Universität Heidelberg von 1462 an den Papst hervor. Sie seien großenteils alte Männer, die von ihrer akademischen Tätigkeit leben müßten und gezwungen wären, zu betteln, wenn der Papst ihnen die mit ihren Professuren verbundenen Pfründen entzöge. Deshalb möchte der Papst ihre unentschiedene Stellung in den wegen der Konzilien entstandenen Parteikämpfen nicht verübeln, da sie auch von ihrem Landesherren abhängig seien. »Wenn wir ihm nur im geringsten entgegentreten, dann verlieren wir unsere Einkünfte.«[126]

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Nach einer Urkunde vom Jahre 1804 erhielt Immanuel Kant folgendes Gehalt: »I. Als Professor der Logik und Metaphysik 1) Salarium 166 Thaler 60 Grsch. 2) Zulage 86 Thlr. 73 Grsch. 16⅕ Pf. 3) Accise 26 Thlr. 50 Grsch. (quartaliter zahlbar). 4) Mühlen-Gefälle (als annuum fällig den 1. April) 4 Thlr. 5) Thalheimsche Gefälle (als annuum fällig den 19. Juni) 17 Thlr. 53 Grsch. 3 Pf. 6) An Getreyde 44 Schffl. Roggen, quartaliter zu berechnen, aber gewöhnlich erst im letzten Quartal zu empfangen. Diese sind im Etat à 40 Grsch. p. Schffl. angeschlagen auf 19 Thlr. 50 Grsch. 7) Aus dem Stipendio Gerhard Janseniano (als annuum fällig den 31. Dezbr.) 75 Grsch. 8) An Zinsen aus der philosophischen Fakultät (halbjährig in Ostern und Michael fällig) 10 Thlr. 88 Grsch. 1⅛ Pf. 9) Ex Signis Initiationis (halbjährlich in Ostern und Michael fällig) nach der Fraktion 27 Thlr. 17 Grsch. 15 Pf. 10) An Censur-Gebühren nach der Fraktion 6 Grsch. 11) An Holz 5 Achtel, welche von der Königl. Holz-Cämmerey im ersten Quartal des Etats-Jahres pränumerando geliefert werden. Diese sind im Etat à 5 Thlr. p. Achtel angeschlagen auf 25 Thlr. Summa als Professor 385 Thlr. 43 Grsch. 17 (1713⁄40) Pf.« Dazu kommt sein Gehalt II. als Senator, der sich in ähnlicher Weise zusammensetzt, in Höhe von 43 Thlr. 59 Grsch. 17 Pf., ferner der als Senior der philosophischen Fakultät in der Höhe von 100 Thalern und endlich eine außerordentliche Zulage aus der kgl. Ober-Schul-Kasse im Betrage von 220 Thalern. Mithin stand sich der größte Denker, den Deutschland, vielleicht die Erde am Ende des 18. Jahrhunderts besaß, auf 749 Thaler, 23 Groschen und 10 Pf. im Jahre![127]

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An der Leipziger Universität gab es im Mittelalter ein großes und ein kleines Kolleg, in denen die Studenten, wie ja damals allgemein üblich, auf Grund besonderer Statuten gemeinsam lebten. Diese Statuten nun bestimmten nicht nur die Reihenfolge, in der bei Tisch die Speisen anzubieten waren, sie enthielten auch die Vorschrift, daß kein Kollegiat in den Vorlesungen oder Disputationen Sätze aufstellen dürfe, die der Mehrheit der Kollegiaten mißfielen. Wer es doch tat und auf die Mahnung nicht hörte, verlor Tisch und Einkünfte, bis er vom Kollegium wieder zu Gnaden aufgenommen war. Es war also möglich, daß im Kleinen – acht Stellen aufweisenden – Kolleg eine Meinung zulässig war, die im Großen Kolleg mit 22 Stellen verboten war und man fand nichts Entehrendes darin, eine wissenschaftliche Ansicht durch einen Majoritätsbeschluß einer derartigen Genossenschaft zu unterdrücken und offen durch solche Mittel auf die Gesinnung zu wirken. Mag es sich auch entsprechend der ganzen mittelalterlichen Methode um die einfältigsten Spitzfindigkeiten gehandelt haben, so war darum die Vergewaltigung der Lehrmeinung nicht geringer.[128]

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Das ist weniger verwunderlich, wenn man weiß, daß jedem mittelalterlichen Universitätslehrer nicht nur die Kleidung, in der er allein Vorlesungen halten durfte, sondern auch Inhalt und Form des Unterrichts genau vorgeschrieben waren. Und zwar nicht etwa bloß das Buch, sondern auch der Kommentar, die Glosse und damit der ganze Gang und Hauptinhalt der Erklärung. Ferner ob und wieviel er diktieren, ob er aus dem Heft vortragen oder wenigstens einen Gedächtniszettel benutzen dürfe. Es war auch verboten, in einer Stunde mehr oder weniger als die von der Fakultät vorgeschriebenen Abschnitte durchzunehmen. War auch meist freier Vortrag gefordert, so tadelt ein Ingolstädter Gutachten von 1507 es doch als verwerfliches Virtuosentum, daß der Doktor Theoderich, ein Jurist, Text und Glossen aus dem Gedächtnis anführe, statt sie aus dem Buch vorzulesen. Der Lehrer war in solcher Weise nach allen Seiten hin gebunden und wurde so sehr nur als Werkzeug betrachtet, daß er nicht nur sich – wie unsere heutigen Volksschullehrer, sofern sie Religionsunterricht zu erteilen haben – den in den vorgeschriebenen Büchern und Kommentaren vertretenen Ansichten anzuschließen hatte, sondern auch Methode und Meinung wechseln mußte, wenn die Fakultät die Bücher wechselte.

So konnte der Streit von zwei Schulen der Kommentatoren über die logischen Lehrbücher zu einem Kampf an den Universitäten und unter den Universitäten werden, wie der berühmte zwischen den Realisten, die sich bei der Erklärung der Aristotelischen Logik und des allgemein gebrauchten Kompendiums des Petrus Hispanus den älteren Kommentatoren, Albertus Magnus, Duns Scotus, Thomas von Aquino u. a. anschlossen, und den Nominalisten, die an Occam anknüpften. Letztere, die auf Wortformen der Begriffe und Verhältnisse des Satzbaues das Hauptgewicht legten, wurden die größten Meister spitzfindiger und sophistischer Dialektik. Es handelte sich lediglich um einen literarischen, keinen spekulativen Parteigegensatz.

Nun ist nichts bezeichnender für das Wesen der mittelalterlichen Universität und den Lehrzwang, den sie ausübte, als die Tatsache, daß die eine Richtung die andere nicht neben sich duldete, vielmehr an der einen Universität nur nach der alten, an der andern nur nach der neuen Methode gelehrt werden durfte.

Als sich Hieronymus von Prag, der sich am 7. April 1406 in Heidelberg hatte immatrikulieren lassen, mit Leidenschaft in einer Disputation zum Realismus bekannte, die Fakultät die Aufstellungen des Hieronymus widerlegen ließ und Hieronymus hierauf wieder antworten wollte, wurde den Studierenden bei ihrem Eide untersagt, dem Akte anzuwohnen! Weiter beschloß die Fakultät, daß fortan kein auf einer andern Universität ausgebildeter Bakkalar oder Magister in die Fakultät aufgenommen werden solle, bevor er sich eidlich verpflichtet habe, keine Frage zu determinieren, ohne vorher dem Dekan seine Aufstellung vorzulegen und zu schwören, sie auf dem Katheder wörtlich und ohne jede Änderung vorzutragen.

Noch im Jahre 1452 mußte sich jeder Magister in Heidelberg bei der Aufnahme in die Fakultät eidlich verpflichten, nur auf Grund der neuen, vor allem durch Marsilius von Padua eingeführten, nominalistischen Methode zu lehren. Einige Lehrer, die den alten Weg für richtiger hielten, mußten ausscheiden. Erst ein Machtwort des Kurfürsten Friedrich beseitigte dieses Monopol.

In Tübingen, das schon 1477 beiden Richtungen gleiche Geltung einräumte, konnte ein Scholar oder Bakkalar nicht, wie seit 1452 in Heidelberg, beliebig bei Lehrern der einen oder andern Partei hören, vielmehr hatte er sich für einen von beiden zu entscheiden und in dem gewählten Wege die Grade zu erwerben.

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Die unbestrittene Autorität des Aristoteles in den weltlichen Wissenschaften wurde sowohl von den Nominalisten, als von den Realisten anerkannt. Beide Parteien stimmten darin überein, daß sich niemand von seiner Lehre entfernen dürfe, es sei denn, einer seiner Sätze widerstreite der Kirchenlehre. In diesem Falle solle man darauf hinweisen, daß Aristoteles nach der bloßen Vernunft urteile, ohne durch den Glauben erleuchtet zu sein. So zu den Scholaren zu sprechen war in Heidelberg ausdrücklich vorgeschrieben. Zugleich wurde jeder neue Magister eidlich verpflichtet, die Worte des Aristoteles und seines Kommentators als feste und gewissermaßen unzweifelhafte Wahrheit zu verkünden.[129]

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Als Petrus Ramus um die Erlaubnis gebeten hatte, in Genf lehren zu dürfen, erhielt er von Beza (1519–1606), dem Nachfolger Calvins, die für die nicht eben freie Stellung der neuen Kirche zu Aristoteles charakteristische Antwort: »Die Genfer haben ein für allemal beschlossen, weder in der Logik, noch in irgendeinem andern Wissenszweige von den Ansichten des Aristoteles abzuweichen.«[130]

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Georg Kaufmann, der hervorragende Kenner unseres mittelalterlichen Universitätswesen, urteilt über die Bedeutung der Hochschulen für die Entwicklung der Wissenschaften wie folgt: »Alle Fakultäten hielten bis ans Ende der Periode (also bis zur Reformationszeit) die Lehrziele und die Lehrmethode fest, die ihre Statuten aus dem 14. Jahrhundert zeigen, und soweit sie neuen Ansprüchen und Regungen Raum ließen, geschah es fast immer auf Drängen von Personen und Behörden, die außerhalb der Universitäten standen, oder ihnen doch nur lose und äußerlich verbunden waren.

Der Scholar, Bakkalaureus, Lizentiat oder Doktor der Medizin des Jahres 1490 war noch ganz mit denselben Büchern, Kenntnissen und selbst Sitten ausgestattet, wie wir ihn im Jahre 1390 verlassen haben.

Genau so verhielt es sich in der Artistenfakultät. Um 1500 verfolgte man ungefähr die gleichen Ziele, wie um 1400 und hatte auch noch dieselben Lehrbücher.«[131]

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Im Jahre 1471 trug sich nach derselben Quelle ein Ereignis zu, das selbst im Mittelalter, das an Sonderbarkeiten gewiß nicht Mangel litt, selten war. Sechs Schustergesellen sandten nämlich der Universität Leipzig einen Fehdebrief! Sie sagten darin, daß ihnen von vier Scholaren Gewalt geschehen sei, ohne daß ihnen dafür Recht geworden wäre. So wollten sie sich denn erholen an allen denen, »dye do Studenten synt, junck adir alt«. Die Landesherren erließen allerdings einen Befehl auf Ergreifung der sechs Schustergesellen, aber merkwürdigerweise unter gleichzeitiger indirekter Anerkennung des Fehderechtes. Nur weil sie nicht zuerst vor den Gerichten über das ihnen angetane Unrecht Klage geführt, sondern gleich Fehde angesagt hätten, wurde gegen sie eingeschritten. Außerdem rief die Universität die geistliche Gerichtsbarkeit gegen die Feinde auf.

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Ernster lief eine Affäre ab, die hier mitgeteilt werden möge, wiewohl es sich nicht um einen Studenten handelt. Sie ist aber überaus bezeichnend für das, was in unserem Mittelalter möglich war.

Ein Müllerknecht namens Klee hatte Forderungen an die Stadt Mühlhausen wegen rückständigen Lohnes. Eigentlich schuldeten zwar Meister ihm das Geld, da er aber ein frecher Bursche war, mit dem die Stadt nichts zu tun haben wollte, kam sie für die Schuld auf und deponierte die fragliche Summe auf seine Klage hin. Er erhob das Geld aber nicht, vielmehr steckte er am 11. April 1466 einen Fehdebrief an das Gatter des Baseler Tores zu Mühlhausen! Also ein einzelner Müllerknecht, der einer ganzen Stadt die Fehde ansagt!

Bald nahm sich seiner der Ritter Peter von Regisheim an, der einige Bürger gefangen setzte und der Stadt seinen Fehdebrief übersandte. Andere Ritter folgten nach, so daß schließlich der Adel des ganzen Sundgaues gegen Mühlhausen in Fehde lag. Die Geschichte zog immer weitere Kreise und wurde Anlaß zum wenige Jahre später erfolgten Zusammenbruch des mächtigen Reiches Karls des Kühnen von Burgund. Kleine Ursache, große Wirkung.[132]

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Auch Differenzen zwischen Gelehrten konnten die unangenehmsten Folgen haben.

Der Professor Flacius in Jena geriet mit seinem Kollegen Victorinus Striegel, einem Anhänger Melanchthons, in Jena über das liberum arbitrium und die sogenannten guten Werke in einen erbitterten Streit, in dem Striegel, der Jenaische Professor Schnepf und der dortige Superintendent Andreas Hugel zum höchsten Zorne ihres Gegners und seiner Partei das »Confutationsbuch« verfaßten. Flacius brachte die Fürsten von Weimar auf seine Seite, und da Striegel nicht zur Zurücknahme seiner Ansichten zu bewegen war, griffen die Fürsten zu einem eigenartigen Mittel, über das uns der Bericht des bekannten Wittenberger Professors Justus Jonas an den Herzog Albrecht von Preußen belehrt.

»Die jungen Fürsten zu Sachsen (Weimar) haben Victorinum bei der Nacht in der Stadt Jena überfallen und samt dem Superintendenten des Orts, Magister Andreas Hugel, einem frommen, gottesfürchtigen, gelehrten, alten Mann, gefänglich, wie man Dieben und Mördern tut, wegführen lassen.... Am heiligen Ostertag nämlich hat man an die hundert Hakenschützen, desgleichen an fünfzig oder sechzig Pferde, unter welchen jedoch keiner von Adel gewesen, in Weimar auf den Abend sich rüsten lassen, ihnen aber nicht angezeigt, wem oder wohin es gelte; denn man hat diese Dinge sehr heimlich gehalten, auch derenthalben zwei Tage zuvor auf der Straße zwischen Weimar und Jena gestreift, den Boten alle Briefe genommen und erbrochen, auch etliche Wandersleute, unter welchen der junge Doktor Cornarius, untersucht und wieder zurück in die Stadt Weimar geführt, auf daß Victorinus ja nicht etwa gewarnt würde und sich (dessen er doch nie willens gewesen) davonmachte. Folgends am Ostermontage, zwischen zwei und drei in der Nacht, sind die Tore der Stadt Jena auf vorangehende fleißige Bestellung geöffnet worden, Reiter und Hakenschützen hineingelassen, welche alsbald in die zwei Gassen, darin Dr. Victorinus und der Superintendent ihre Wohnung haben, gerückt, dem Victorinus mit großem Ungestüm die Türe mit Äxten und Zimmerbeilen aufgehauen, und als der fromme, ehrliche Mann aus Schrecken samt seiner tugendreichen, lieben Hausfrau im Hemde herabgelaufen und gefragt: was da wäre? ob Feuer da wäre? haben die Ölberger geantwortet: Was sollte da sein? Wir sind da und wollen dich losen Bösewicht dahin führen, wohin du gehörst.

Als sein frommes Weib diese Worte gehört, hat sie Zeter und Mordio angefangen zu schreien, durch welches Geschrei sie die Judasrotte also erzürnt, daß einer unter den Ölbergern, sonder Zweifel ein ehrevergessener Schelm, dem armen, erschrockenen, ehrlichen, frommen Weibe eine Zündbüchse vor den Leib gehalten und gesagt: Schweig, du Pfaffenhure, oder ich will eine Kugel durch dich schießen! Welche Schmähung Dr. Victorinus verantwortet; darauf sie ihn einen Schelm gescholten, wodurch er denn nicht unbillig bewegt und wieder gesagt: Ei! bist du ein Schelm, so bleib einer; ich bin kein Schelm!

Dieser Lärm hat nicht lange gewährt, denn die Ölberger haben sich vor den Studenten und der Bürgerschaft, wo sie des Spiels inne und wach würden, sehr besorgt und derwegen so heftig geeilt, daß sie auch dem frommen Manne Victorinus nicht haben Weile gelassen, daß er seine Kleider hätte anziehen können, sondern man hat ihn im Hemde auf den Weg gestoßen und mit Not so lange gewartet, daß man ihm die Kleider hintennach geworfen.

Mit dem Superintendenten hat man etwas gelinder verfahren, und wie der gemeine Laut gehet, so werden sie sehr hart gehalten und nicht so traktiert, wie billig solche Leute, ob sie gleich ein Größeres verwirkt hätten, gehalten und traktiert werden sollten. Gott tröste die frommen, heiligen Leute, wehre und steuere den Teufelskindern, welche die jungen Fürsten auf solche Umwege führen.«

In einem späteren Briefe berichtet Justus Jonas dem Herzog, daß man noch viel brutaler, als er zuerst mitgeteilt habe, gegen die Herren verfuhr: »Man ist nicht allein bei Nebel und Nacht in sein Haus gefallen, Tür und Angel in Stücke zerhauen, sondern die Judasrotte ist dem frommen, ehrlichen Manne Victorinus in seine Schlafkammer gefallen, haben ihn auf einer Seite des Bettes gefunden, ganz bloß und gleich in dem, daß er sein Hemd über dem Haupt und an seinen Leib gezogen. Sein frommes, ehrliches Weib, des seligen Mannes Doktor Schneppii Tochter, haben sie auf der andern Seite des Bettes mutterleibesnackt gefunden, da das fromm tugendreich Weib stumm und bestürzt gestanden wie ein Stock, sich vor Schrecken nicht regen noch besinnen können... Des alles ungeacht haben sie ihr Büchsen und Spieß vor das Herz gehalten und sie mit Schmähworten greulich angegriffen...«

Grund zu diesem Betragen, das selbst dem Redakteur eines regierungsfeindlichen Blatte gegenüber vielleicht sogar in Preußen befremden würde, war die treue Anhängerschaft Victorin Striegels an Melanchthon und die kursächsischen Theologen zu Wittenberg, die Flacius haßte, wiewohl ihn Melanchthon früher mit Wohltaten überschüttet hatte.[133]

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Das Bild, das Küchelbecker von der Wiener Universität noch um 1730 entwirft, spricht Bände über die segensreiche Wirkung der Kirche in wissenschaftlichen Fragen. Galt dort die alleinige Meinung der Kirche, so ist das bei einem orthodoxen Hofe weniger verwunderlich. Aber das war nicht alles. »Wir wollen nur anführen, daß die Auctorität des Heil. Aristotelis in Philosophicis hieselbst ebenfalls infalible ist; Dahero die hiesigen Magistri artium, als unmündige Kinder ihre Vernunfft unter dem »Autos epha« gefangen nehmen und dessen Dogmata beschwehren müssen. Auch in der Jurisprudenz muß man nach der alten einfältigen Leyer derer Canonisten und Civilisten forttantzen und beyleibe keine neuen Meinungen, auch nicht einmal exercitii gratia, statuieren, wo man sich nicht einen Schwarm Jesuiten auf den Halß laden will... In der Medicin hat es fast gleiche Bewandniß, die Moral und Jus Naturae werden allhier schlecht tractiret, und fast nichts als Fabeln und absurde Principia, deren sich ein jeder vernünfftiger Mensch schämen muß, tradiret. Das Jus publicum und die Historie, so wohl die Profan- als Kirchen-Geschichte, können ebenfalls nicht aufrichtig gelehret werden, weil sonst die römische Kirche ziemlich würde censiret werden müssen. Dieses alles ist auch die Ursache, warum so viele österreichische Cavaliers, wenn sie auf Reise gehen, zu Leyden noch eine Zeit lang studieren, und diese Studia daselbst tractiren. Und mit kurtzen: wie ist es möglich, hinter die Wahrheit zu kommen, wo man nicht libertatem sentiendi, ratiocinandi hat. Denn Latein und die Metaphysique alleine machen keinen Gelehrten.«[134]

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Am 23. Juli 1798 erschien eine »Verordnung wegen Verhütung und Bestrafung der die öffentliche Ruhe stöhrenden Excesse der Studirenden auf sämmtlichen Akademien in den Königlichen Staaten«. Friedrich Wilhelm III. von Preußen erteilt darin der Polizei das früher versagte Recht, Studenten zu verhaften, wobei sie sich nötigenfalls militärischen Beistandes bedienen durfte. In keinem Falle sollte gegen Studenten, die sich »Ungezogenheiten und Ausschweifungen« erlauben und »ihren Frevel so weit treiben, daß solcher der öffentlichen Sicherheit gefährlich geworden« auf Geldstrafen oder Relegation erkannt werden, sondern auf Gefängnis oder körperliche Züchtigung. Unter keinerlei Vorwand wird jemand der Zugang zu dem Gefangenen gestattet, selbst der Gefangenenwärter darf sich mit ihm in keine Unterredung einlassen, auch nicht einmal in das Gefängnis kommen, sondern muß mittelst einer Drehmaschine für die Nahrung und Reinlichkeit des Gefangenen sorgen. Bücher und Schreibmaterialien waren nicht gestattet; die Nahrung ist »unveränderlich« gleichförmig. »Die Züchtigung mit Peitschenhieben« muß als »ein väterliches Besserungsmittel angesehen, sie muß im Gefängnisse in Gegenwart des Vorgesetzten vollstreckt, und von diesem mit den nötigen Ermahnungen begleitet werden.«

Diese Strafe wäre unverständlich, wenn man nicht wüßte, wie die Studenten in und außerhalb Preußens damals und früher, aber auch noch später gehaust haben. Bonner Korpsstudenten haben uns noch im Jahre 1910 daran erinnert, daß der alte Geist des Vandalismus in unsern Musensöhnen die Stürme der Jahrhunderte überdauert hat.[135]

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An die großen Disputationen, eine der wichtigsten Institutionen der mittelalterlichen Universität, die bisweilen vierzehn Tage dauerten und in denen Berge leeren Strohs gedroschen wurden, schlossen sich häufig Disputationen über mehr scherzhafte Probleme an. Entsprechend der Liederlichkeit des Klerus und dem wüsten Treiben der Scholaren war auch die Wahl des Themas. So wurde 1494 in Erfurt über das Monopol der Schweinezunft, 1515 ebenda über Säufer und Suff (de generibus ebriosorum et ebrietate) disputiert. In Heidelberg aber verzapfte Joh. Grieb unter Wimpflings Präsidium 1478 oder 1479 seine Weisheit über die Schelmenzunft (monopolium et societas des Lichtschiffs). Im Jahre 1499 aber disputierte man über die Treue der Kokotten (de fide meretricum) und die Treue der Beischläferinnen der Priester (de fide concubinarum in sacerdotes). Daß bei diesen Festakten der Fakultät, die vom Katheder herab gehaltenen Reden von Zoten und unanständigen Schwänken strotzten, versteht sich von selbst.[136]

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Wohin es führt, wenn die Kirche die Universitäten beherrscht, lernten wir im Mittelalter zur Genüge kennen. Jeder Gelehrte brachte seine Studien in irgend welche Beziehungen zu ihr. So glaubte Erasmus Rheinhold in Wittenberg, einer der bedeutendsten Mathematiker der Reformationszeit, die Mathematik nicht höher loben zu können, als wenn er sie als »eine Zier der christlichen Lehre und Kirche« empfahl. Die Astronomie ward zu einer Wissenschaft, deren letzter Zweck die Anbetung Gottes war, wie die Geschichte das ganze Mittelalter hindurch in keinem andern Sinne geschrieben wurde, als dem, Gott und sein Wirken zu verherrlichen.[137]

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A. Weishaupt erzählt, der religiöse Unterricht habe zum Teil darin bestanden, daß die Schüler das Vaterunser rückwärts ohne Anstoß hersagen sollten, oder angeben, wie oft et, in oder cum in dem ersten Hauptstück des Canisius stehen usw.[138]

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Der Exbenediktiner H. Braun, der Schulreformator Bayerns, verfaßte einen Katechismus, der 1769 von der Universität Ingolstadt, 1771 von fünf Ordinariaten und der Universität Salzburg begutachtet war. Ein Kritiker rügte es, daß Braun die lateinische Wendung »ich glaube in Gott Vater« im Glaubensbekenntnis abänderte in »ich glaube an Gott Vater«. Das wird als »lutherisch-deutsch« gescholten. »Warum sollen wir den Glauben der Lutheraner beten?« Der glaubensstarke Mann schließt: »Wann in unser katholisches Land dererlei Katechismus sollen eingeführet werden, wollen wir selbige zusammen sammeln und in das Feuer werfen, damit die liebe Jugend hierdurch nicht verführet werde und sohin fälschlich beten lerne«. Denn die genannte Übersetzung sei eine Verfälschung der wahren Lehre, die »von niemand ohne schwäre Sünde verteidiget und angenommen werden darf«.

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Joh. Adam Freiherr v. Ickstatt, Professor der Rechte in Ingolstadt, wurde als Förderer des Luthertums in öffentlicher Predigt ausgeschrien – und der Pöbel gegen ihn gehetzt (1752), weil er – seinen juristischen Vorlesungen Leitfäden von protestantischen Autoren zugrunde gelegt hatte.

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Uns allen ist noch erinnerlich, wie Ludwig Wahrmund wegen seines Vortrages »Katholische Weltanschauung und freie Wissenschaft« im Jahre 1908, also anderthalb Jahrhunderte später, behandelt wurde. Wie die tiroler Bauern mit Knütteln nach Innsbruck zogen, um, aufgehetzt von ihren Seelenhirten, den Mann zu erschlagen, der es gewagt hatte, Dinge zu sagen, die schließlich jedes Kind mit der Mutterbrust einsaugt, die aber einem unter jahrhundertelang fortgesetzter Verdummung leidenden Volke als Revolution und Anarchismus erscheinen. Wir erinnern uns auch, wie große Parteien den Mann am liebsten totgeschlagen hätten, weil er anders denkt als sie. Die anschließenden Fälle Schnitzer, Tremel, die Modernistenhetze beweisen, daß die Sache blieb, nur die Form hat sich geändert.

Daß es aber sogar eine mächtige Partei gibt, die, wenn auch nicht diese Form, so doch die Opferung des Intellekts der Autorität billigt, ja bewundert, und zwar im 20. Jahrhundert, ist nicht ohne Interesse.

Der Jesuit Donat legt u. a. die Gefahren dar, die aus der Berechtigung jedermanns, sich ein selbständiges Urteil zu bilden, folgten. Die »krankhafte Zweifelsucht« unserer Zeit, sei eine giftige Atmosphäre, die den empfänglichen Geist, der sich lange in ihr aufhalte, anstecke, ohne daß er es merkt.

Man könnte das ja auch so ausdrücken: die Summe der Erfahrungen, die mit den kirchlichen Dogmen kollidieren, ist so groß, daß auch der Blinde es langsam merkt und sich weigert, das Sacrificium intellectus zu bringen.

Köstlich ist die instinktive Angst vor der Wahrheit und dem unaufhaltsamen Vordringen der weltlichen Freiheit im Gegensatz zur kirchlichen Unfreiheit, wie sie sich in Aussprüchen großer Katholiken oder gar Heiliger dokumentiert. »Kardinal Mai« war ein Mann der Wissenschaft. Er sagte – und dafür können wir einstehen –: »Ich habe auch die Erlaubnis, verbotene Bücher zu lesen; ich benutze dieselbe aber nie und habe auch nicht vor, sie zu gebrauchen.«

Als der gelehrte Muratori eine Schrift zur Widerlegung eines häretischen Buches schrieb, entschuldigte er sich in der Einleitung: »Spät gelangte dieses Buch in meine Hände... und ich konnte es nicht über mich bringen, es zu lesen. Denn zu welchem Zwecke anders, als um selbst der Torheit zu verfallen sollte ich die Schriften der Neuerer lesen? Ich suche und liebe solche, die mich in der Religion bestärken, nicht solche, die mich von ihr abwendig machen.«

Der Hl. Franz von Sales dankt in seinen Schriften mit rührender Einfallt Gott dem Herrn, daß er ihn bei der Lesung derartiger Bücher vor dem Verlust seines Glaubens bewahrt habe.

Der gelehrte spanische Philosoph Balmes sagte einst seinen Freunden: »Ihr wißt, daß der Glaube tief in meinem Herzen wurzelt. Und dennoch kann ich kein verbotenes Buch lesen, ohne das Bedürfnis zu fühlen, mich wieder durch das Lesen der Hl. Schrift, der Nachfolge Christi und des gottseligen Ludwig von Granada in die rechte Stimmung zu versetzen.«

Während es überall für verdienstvoll um nicht zu sagen anständig gilt, sich durch Gründe überzeugen zu lassen, während der vorwärtsstrebende Mensch begierig alles in sich aufnimmt, was ihm hilft, alte Irrtümer gegen neue Wahrheiten einzutauschen, wird also heute noch in der Kirche der am höchsten angesehen, der sich gewaltsam Scheuklappen vorbindet und der Wahrheit aus dem Wege geht.[139]

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Bekanntlich herrscht an unseren Universitäten nicht nur Lern-, sondern auch Lehrfreiheit. Autoritäten, ein jurare in verba magistri existiert de jure nicht mehr. Wohl aber de facto. Oder wie läßt sich die Tatsache, daß weder Atheisten, noch Sozialdemokraten, noch an protestantischen Universitäten, z. B. Halle, Katholiken – und zwar auch für Lehrfächer, die mit der Kirche weder direkt noch indirekt etwas zu tun haben – zugelassen werden? Es ist dieselbe Sache in anderer Form: Aufrechterhaltung des Status quo um jeden Preis und Bekämpfung des Geistes mit materiellen statt mit geistigen Waffen.

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Werfen wir noch einen flüchtigen Blick auf den Unterricht des Volkes.

In der Zirkularverordnung über die Garnisonschulen vom 31. August 1799 entwickelt Friedrich Wilhelm von Preußen u. a. folgende Gedanken: »... Ein mit diesen Eigenschaften ausgerüsteter Soldat wird auf seinem Platze gewiß ein brauchbarer Diener des Staates, und zugleich ein glücklicher Mensch sein, wenn niemand das Bestreben nach höheren Dingen in ihm zu erwecken sucht. Der Keim zur Unzufriedenheit mit seinem Stande wird sich aber in eben dem Grade entwickeln, in welchem man seinen wissenschaftlichen Unterricht weiter ausdehnt. Nur wenige Menschen der unteren Volksklasse sind von der Natur so sehr verwahrloset, daß sie nicht die Fähigkeit haben sollten, etwas mehr zu leisten, als ihr Stand von ihnen erfordert, und sich dadurch auf irgendeinem Wege über denselben zu erheben. Ein zu weit gedehnter Unterricht wird das Gefühl solcher Fähigkeiten in ihnen rege machen, durch deren Anwendungen sie sich leicht ein günstigeres Schicksal, als das eines gemeinen Soldaten ist, würden verschaffen können...«[140] Die Antwort war – Jena!

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Im selben Geiste war der Volksschulunterricht gehalten. Der Hofprediger Sack, der einer Verbesserung des Volksschulwesens das Wort redete, erörterte noch die Frage, ob Lesen und Schreiben Lehrgegenstand sein sollen, da doch der Nutzen dieser beiden Kenntnisse für den Landmann sehr gering sei, während hingegen die Anpreisung der Taten der Landesfürsten unbedingt von der Schule besorgt werden müsse.[140] Das ist ja auch noch in unserm Geschichtsunterricht nicht gerade nebensächlich.

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Übrigens, war nach dem Lehrermaterial zu urteilen, die von Friedrich Wilhelm gefürchtete Gefahr einer Überladung des Volkes mit gelehrter Bildung nicht sehr groß. Invalide Soldaten versahen vielfach den Unterricht und ihre Vorbereitung bestand darin, daß man sie fürs Einpauken von Gesangbuchversen eine Zeitlang abrichtete. Nebenbei hatten die Landlehrer noch allerlei andere Erziehungspflichten, z. B. die erst 1802 ihnen abgenommene, den Hebammen einen Katechismus für Geburtshilfe zu erklären!

Das Diensteinkommen der Landlehrer in der Mark Brandenburg betrug zu Beginn des 19. Jahrhunderts: in zwei Fällen zwischen 220 und 250 Taler jährlich, dagegen in 155 Fällen unter 10 Talern; 182 bezogen zwischen 10 und 20 Talern, 263 zwischen 20 und 40 Taler, 167 zwischen 40 und 60 Taler, 131 zwischen 60 und 80 Taler. 92 zwischen 80 und 100 Taler und 151 über 100 Taler. Das war allerdings ein gewaltiger Fortschritt gegenüber den Zuständen von 1774, denn damals besass die Kurmark nur 49 Landlehrer mit mehr als 100 Talern Jahresgehalt, 184 aber bezogen 10 Taler und weniger, 111 weniger als 5 Taler und 163 gar kein Gehalt. Deshalb betrachteten die Lehrer den Unterricht als Nebensache und übten dabei ihren Beruf aus. In der Kurmark besassen 1806 2026 Dörfer weder Schule noch Lehrer. Friedrich Wilhelms Bestrebungen hatten somit durchschlagenden Erfolg. Übrigens war auch in väterlicher Weise dafür gesorgt, daß die Kinder nicht durch Studium des Lesens und Rechnens dem geistigen Hochmut überliefert würden. Die Teilnahme an diesen Stunden war nämlich wahlfrei und kostete erhöhtes Schulgeld, das viele Eltern zu zahlen nicht in der Lage waren.[141]

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Auch auf den Gymnasien war zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Unterricht selbst für uns, so wenig wir darin verwöhnt sind, hinlänglich befremdlich. Franz Neumann (1798–1895) erzählt z. B. in seiner bekannten, von seiner Tochter Luise veröffentlichten Lebensgeschichte (Tübingen 1904), daß er auf dem Berliner Gymnasium lateinische Pflanzennamen hätte lernen müssen, ohne auch nur zu wissen, daß er nun botanischen Unterricht habe.

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Zum Schluß noch eine Tatsache, die zu denken gibt. Bekanntlich besitzt München in der Person des Schulrats Kerschensteiner eine Koryphä allerersten Ranges. Wie sehr trotzdem der Geist des Hl. Bureaukratius in unserem Schulwesen steckt, erhellt daraus, daß einige Schulen den Unterricht ruhig weiter erteilten und die Kinder im Klassenzimmer beliessen, als Graf Zeppelin am 1. und 2. April 1909 sein Luftschiff über München lenkte![142]

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