Sechster Abschnitt Zensur und Prüderie

Am 26. April 1794 erließ König Friedrich Wilhelm II. von Preußen folgendes »Reskript an das Kammergericht wegen der Mißbräuche, die bei der Zensur zu deren Verteilung überhand genommen«: »daß dem Unwesen, welches seit einiger Zeit mit Schriften getrieben wird, die entweder den Grund aller Religion überhaupt angreifen, und die wichtigsten Wahrheiten derselben verdächtig, verächtlich oder lächerlich machen wollen, oder aber die christliche Religion, die biblischen Schriften, und die darin vorgetragenen Geschichts- und positiven Glaubenswahrheiten, für das Volk zu Gegenständen des Zweifels oder gar des Spottes zu machen, sich unterfangen, und dadurch zugleich die praktische Religion, ohne welche keine bürgerliche Ruhe und Ordnung bestehen kann, in ihren Grundfesten erschüttern; im gleichen solchen Schriften, worin die Grundsätze der Staats- und bürgerlichen Verfassung angetastet, Maßregeln der Regierung aus unrichtigen und gehässigen Gesichtspunkten dargestellt, Ungehorsam und Widerspänstigkeit gegen Gesetze und Obrigkeiten verteidigt, oder doch die Gemüter zu unnützen Grübeleien über Gegenstände, welche die Fassung- und Beurteilungskraft des großen Haufens der Leser übersteigen, aufgefordert, und zu unrichtigen Anwendungen mißverstandener theoretischer Sätze verleitet werden, mit dem größten Ernst und Nachdrucke entgegengearbeitet, gegen diejenigen aber, welche den ergangenen Zensur-Gesetzen auf irgend eine Art zuwiderhandeln, nach aller Strenge dieser Gesetze, ohne die geringste Nachsicht oder Schonung verfahren werden soll.«[143]

In dem »General-Privilegium und Gülde-Brief für die Schwarz- und Weiß-Nagel-Schmiede zu Alt-Stettin, auch für sämtliche Schwarz- und Weiß-Nagel-Schmiede in Vor- und Hinter-Pommern. De Dato Charlottenburg, den 29. July 1802« heißt es im Artikel XXI:

»Alles Korrespondieren mit anderen ein- oder ausländischen Gewerken, soll sich das Gewerk bei schwerer Strafe enthalten, wenn aber besondere Umstände etwa dergleichen erforderten, soll es mit Zuziehung des Beisitzers, auch wohl nach Befinden mit Vorwissen des Magistrats, selbst geschehen, wie denn auch, wenn von den anderen ein- oder ausländischen Gewerken Schreiben einliefen, solche unerbrochen an den Beisitzer gebracht, in dessen Gegenwart eröffnet, und die Antwort mit demselben verabredet werden soll.«

Aber die preußische Regierung hatte nicht nur Angst vor eventuellen Verschwörungen der Zünfte und hielt sie deshalb unter ständiger polizeilicher Kontrolle, sie fürchtet auch die Gesellen und verbietet ihnen deshalb das Briefeschreiben.

Der Artikel XXXIV des genannten Privilegs lautet:

»Alles Briefwechselns mit andern Gesellschaften oder sogenannten Brüderschaften haben sich die Gesellen bei empfindlicher Strafe zu enthalten, weshalb ihnen auch kein Siegel gestattet wird. Die etwa von anderen ein- und ausländischen Brüderschaften eingehenden Schreiben sollen aber nach der Verordnung vom 23. März 1799 sofort dem Magistrat in Vorschlag genommen, und von demselben nach Befinden des Inhalts die Aushändigung an die Gesellen oder deren Kassierung verfügt werden.«[144]

*

Im Jahre 1794 las in Zelle eine Gesellschaft mit Vergnügen den Moniteur, den sie aus Bremen erhielt. Seit Mitte Mai des Jahres blieb das Blatt aber aus. Die Zellische Gesellschaft wandte sich daher an ihren Lieferanten und erhielt die Antwort, daß der Moniteur, sowie alle französischen Zeitungen den kaiserlichen Postbeamten »bey nahmhafter Strafe und nach Befinden der Kassation« zu debitieren verboten wären. »Von dem Verbote sind blos Fürstlichkeiten, wirkliche Minister und Gesandte an fremden Höfen ausgenommen, an deren offene Adressen die Zeitungen gehen müssen.« Schon in anderen deutschen Provinzen war ein ähnliches Verbot vorhergegangen. Mit diesen Mittelchen hoffte man die Wirkungen der grossen Revolution fern zu halten. Allerdings nimmt Archenholz »eine Abwesenheit der Weisheit« bei Erlaß dieser Maßnahme an.[145]

*

Zur Zeit des Vatikanischen Konzils kam der Verlagsbuchhändler Josef Bachem zum hochbetagten Präses des Priesterseminars in Köln, Dr. Westhoff, um ihm sein Bedenken gegen das Unfehlbarkeitsdogma vorzutragen. Der Greis zeigte ihm darauf in der Bibliothek des Seminars nicht weniger als sechzehn Katechismen, die im 18. Jahrhundert in der Erzdiözese Köln in Gebrauch gewesen waren und die sämtlich und ohne Ausnahme die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit in Sachen der Glaubens- und der Sittenlehre klar und deutlich vortrugen. Erst die preußische Zensur, wie sie vor 1848 bestand, hat diese Lehre aus dem kirchlichen Katechismus gestrichen! [146]

Die historisch-politischen Blätter begannen im Jahre 1840 (S. 586) einen Artikel folgendermaßen: »In Preußen sind nun fast alle katholischen Journale und Zeitungen verboten und, um die Sache ab ovo zu beginnen, hat man, willkommene Gelegenheit ergreifend, buchhändlerische Interdikte gegen künftig erscheinende noch ungeborene Werke in Maße geschleudert oder ihre Verbreitung in einer Weise erschwert, daß es einem Verbote gleichzuachten ist.«

Unter der Maske des Liberalismus hat bekanntlich Bismarck im sogenannten Kulturkampf aufs rücksichtsloseste die katholische Presse verfolgt, wie er ja unbeschadet seiner sonstigen kaum zu überschätzenden Größe skrupellos und gewalttätig gegen alles vorging, was sich ihm nicht beugte. Deshalb zieht Bismarck als endlosen Kometenschweif, in dem wir heute noch leben, jene Atmosphäre des Servilismus und der Duckmäuserei nach, die nicht weniger Sklavennaturen züchtete, als der Absolutismus. Doch war die kleinstaatliche Vergangenheit uns in einem voraus: wer wegen seiner Meinungen in Reuß jüngere Linie verfolgt wurde, siedelte in die ältere Linie über und konnte seiner Überzeugung treu bleiben. Im geeinten Deutschland reichte Bismarcks Arm überall hin.

Damals veranstaltete die Frankfurter Zeitung eine Zählung der Verurteilungen wegen Preßvergehen. Wiewohl sie auf Vollständigkeit nicht im entferntesten Anspruch macht, stellt sie im Januar 1875 21, im Februar 35, im März 39, im April 42 verurteilte Zeitungsherausgeber fest. Es wurden also in vier Monaten 137 Pressdelinquenten mit Geldbußen oder Gefängnis bestraft. Außerdem fanden in derselben Zeit 30 Konfiskationen von Zeitungen statt. Gegen vier Redakteure der Germania waren einmal zu gleicher Zeit Prozesse und Bestrafungen im Gange. Aber mehr als das: In mindestens drei katholischen Blättern haben sich nachweislich Bedienstete der Berliner Geheimpolizei in Stellungen von Mitredakteuren eingeschmuggelt, bisweilen sogar über Jahr und Tag hinaus. Sie hatten nicht nur Spionendienste, sondern auch solche als agents provocateurs, die die Leiter der katholischen Blätter zu extremen Äußerungen anzutreiben versuchten, zu verrichten.[147]

Im Jahre 1845 erschien folgender Katalog: »Index librorum prohibitorum. Katalog über die in den Jahren 1844 und 1845 in Deutschland verbotenen Bücher. Erste Hälfte.« Die zweite Hälfte erschien 1846. Wiewohl der Index nicht vollständig ist, da die Verbote von Zeitungen und Zeitschriften nicht aufgenommen wurden, enthält er 437 durch 570 Verbote untersagte Schriften. Man sieht, die weltliche Regierung kann es auch.

*

Nicht viel besser als gegen die katholische Kirche verfuhr man gegen die Sozialisten. Nachdem gegen sie ein Ausnahmegesetz geschaffen war, erschien 1886 ein förmlicher Index librorum prohibitorum. Er lautet: »Sozialdemokratische Druckschriften und Vereine verboten auf Grund des Reichsgesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878« (1886). Zwei Jahre später erschien ein Nachtrag. Nach den amtlichen Angaben kommen im Durchschnitt 130 verbotene Schriften je auf ein Jahr, also wurden in den zwölf Jahren des Bestehens des Gesetzes rund 1500–1600 Drucksachen verboten.[148]

*

Doch nun zum römischen Index!

Auf ihm stehen neben Rankes »Römischen Päpsten« Kants »Kritik der reinen Vernunft« gegen die schon Friedrich Wilhelm II. von Preußen in einer Kabinettsorder unter Minister Möller eingeschritten war, und Baruch Spinoza. Für letzteren ist das nichts Außerordentliches, da zwischen 1656 und 1680 über 500 scharfe Verbote gegen die Schriften dieses großen und edlen Juden erlassen worden waren.[149]

Man kann ohne Übertreibung sagen, daß in den letzten Jahrhunderten nicht ein einziger großer Denker oder Dichter lebte, dessen Name nicht auf einem der katholischen Indices zu finden war oder ist. Wer bei Reusch das Namenverzeichnis durchblättert, glaubt sich in eine geistige Ruhmeshalle versetzt.

*

Im Jahre 1890 sollte im Lessingtheater in Berlin Sudermanns »Sodoms Ende« aufgeführt werden. Wiewohl nun Preßfreiheit auch in Preußen besteht und der Artikel 27 der preußischen Verfassung jedem Preußen das Recht der freien Meinungsäußerung verbürgt und ausdrücklich verfügt, daß eine Zensur nicht eingeführt werden dürfe, existiert sie doch. Und zwar nach einer Polizeiverordnung vom 10. Juli 1851 – also anderthalb Jahre nach der Verfassung erlassen – in der festgesetzt wird, daß die Erlaubnis zur Veranstaltung einer öffentlichen Theatervorstellung beim kgl. Polizeipräsidium schriftlich nachgesucht werden müsse.

Das hatte Oskar Blumenthal, der Direktor des Lessingtheaters, auch mit »Sodoms Ende« getan. Als kein Bescheid von der Polizei einlief, aber alles für die erste Aufführung, mit Kainz und in Gegenwart des Dichters, vorbereitet war, wurde Blumenthal stutzig. Drei Tage vor dem Aufführungstermin fuhr er nach dem Polizeipräsidium, wo ihm mitgeteilt wurde, daß der Theaterzensor die Erlaubnis bereits unbedenklich erteilt hatte, als der Präsident, Freiherr von Richthofen, sich das Werk hatte kommen lassen und die öffentliche Aufführung verbot. – Blumenthal ging darauf zum Polizeigewaltigen persönlich, um die Gründe für das Verbot zu erfahren. Es entwickelte sich folgendes Gespräch, das er selbst veröffentlicht:

»Ich höre soeben, Herr Präsident, daß mir drei Tage vor der ersten Aufführung Hermann Sudermanns Drama »Sodoms Ende« verboten werden soll?«

»Das stimmt!«

»Und daß Sie persönlich das Verbot verfügt haben?«

»Stimmt auch!«

»Ja, aber bedenken Sie die Situation eines Bühnenleiters, Herr Präsident! Vierzehn Tage angestrengter Bühnenproben... ein Gastspiel mit Joseph Kainz für diese Novität abgeschlossen... der ganze Spielplan der nächsten Wochen darauf aufgebaut... selbstverständlich kein Ersatzstück vorbereitet... die Erfolge des früheren Repertoires ausgeschöpft... das Haus für die ersten drei Vorstellungen schon vollständig ausverkauft... und nun diese Ratlosigkeit auf der Höhe der Saison, in der besten Zeit des Theaterjahres.«

»Alles sehr traurig, aber die Behörde kann auf Privatinteressen keine Rücksicht nehmen.«

»Aber warum das Verbot, warum?«

»Weil es uns so paßt.«

»Ich verstehe vollkommen, Herr Präsident... Sie wollen mir durch diesen Lakonismus ins Gedächtnis rufen, daß nach der polizeilichen Verordnung vom 10. Juli 1851 die Behörde nicht verpflichtet ist, für das Verbot eines Stückes Gründe anzugeben...«

»Na, da wissen Sie ja also Bescheid!«

»Ich meine aber nur, Herr Präsident, daß doch immerhin die Möglichkeit vorliegt, durch behutsame Änderungen die Bedenken, die zu diesem Verbot geführt haben, aus der Welt zu schaffen. Vielleicht sind es nur einige gewagte Stellen, um die es sich handelt?«

»O nein!«

»Oder einzelne Szenen?«

»Auch nicht!«

»Ja, aber was sonst?«

»Die janze Richtung paßt uns nicht.«[150]

So geschehen in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Wie glücklich eine Kunst, die unter polizeilicher Obhut stehen darf!

Blumenthal war hierauf beim Minister des Innern, Herrfuth. Er las das Stück, veranlaßte einige kleine Milderungen und riet Blumenthal, es wieder dem Polizeipräsidenten zu unterbreiten.

Die Antwort des Polizeipräsidenten vom 27. Oktober 1890 – die Unterredung hatte am 23. stattgefunden – lautete:

»Ew. Wohlgeboren!

erwidere ich auf das gefällige Schreiben vom 24. d. M. bei Rückgabe der Anlage desselben, ergebenst, daß ich auch nach nochmaliger Erwägung mich nicht veranlaßt sehen kann, die Genehmigung zur Aufführung des Dramas »Sodoms Ende« zu erteilen, da dasselbe in seiner ganzen Anlage und Durchführung geeignet erscheint, das sittliche Gefühl zu verletzen, dieses sittenpolizeiliche Bedenken daher durch die von Ihnen angebotene Streichung einzelner besonders anstößiger Stellen nicht behoben werden kann.«

Am 31. Oktober hob der Minister des Innern diese Verfügung auf, nachdem eine Generalprobe nur in Gegenwart dreier Ministerialräte über die Existenzberechtigung der »neuen Richtung« entschieden hatte, ein Eingreifen, das nicht ohne Tadel von allerhöchster Stelle geblieben ist. »Sie hätten sich fragen sollen,« sagte der Kaiser dem Minister, »ob Sie auch in Begleitung Ihrer Tochter jede Szene anhören könnten

*

In Blumenthals und Kadelburgs Schwank »Die Großstadtluft« wurde durch Reskript vom 26. November 1891 angeordnet, die Verse zu streichen: »Nun bin ich ledig aller Erdenplag’. Mich kann kein Glück, kein Hoffen mehr betrügen. Und wenn einst naht der Auferstehungstag, ich bleibe liegen.« Die Polizei fürchtete, sie könnten durch Verspottung des Auferstehungsglaubens ärgerlich wirken![151]

*

Da wird es sich hinfort empfehlen, es so zu machen wie die Venezianischen Autoren des 18. Jahrhunderts.

Unter ihnen herrschte ein sonderbarer Brauch, von dem Keyßler berichtet: »Bey den italienischen Opern ist noch zu bemerken, daß die Verfertiger ihrer Texte gemeiniglich auf den ersten Blättern der gedruckten Exemplare sich mit einer ausdrücklichen Protestation verwahren, wie sie im Herzen rein katholisch wären, und man die im Texte vorkommenden Worte von Idolo, Numi, Deità, Fato, Fortuna, Adorare und dergleichen nicht anders als poetische Scherze anzusehen habe.«[152]

*

In dem Schauspiel »Falsche Heilige« verläßt eine junge Frau ihren Gatten, weil sie erfahren hat, daß er vor seiner Verheiratung eine Gouvernante verführt hat. Ihr Onkel, ein Pariser Lebemann, faßt seine Meinung in folgende Worte zusammen: »Ich bitte Sie! Da will sich meine Nichte von ihrem Mann scheiden lassen, weil er früher einmal, vor der Ehe, eine Gouvernante... Ja, das ist doch einfach lächerlich! Wann soll man denn mit einer Gouvernante eine Liebschaft haben? Vor der Ehe darf man nicht. In der Ehe kann man nicht. Nach der Ehe will man nicht.... Oder sollen die Gouvernanten vielleicht überhaupt abgeschafft werden?«

Gottlob rettete der Stift des Zensors Deutschlands Sittlichkeit durch Tilgung dieser furchtbaren Stelle. Von diesem Tage an wurden bisweilen die Aufführungen des Lessingtheaters von dem Revierwachtmeister mit dem Textbuch in der Hand überwacht, und jede Abweichung vom polizeilich gestatteten Text zur Kenntnis des Zensors gebracht. Man hatte diese schrecklichen Worte nämlich von der Bühne aus nochmals zur großen Heiterkeit des Publikums gesprochen, was Blumenthal eine sehr scharfe Vermahnung eingetragen hatte.[153]

*

Mit Recht wird unsere Jugend vor allem Unsittlichen behütet. Hier hat der Zensor eine besonders dankbare Aufgabe, der er sich mit größter Gewissenhaftigkeit unterzieht.

In den »Liedern für die deutsche Volksschule«, herausgegeben vom Bezirkslehrerverein München, Heft 1, 2, 3 (München 1894 ff.), besitzen wir ein Werk, dessen segensreiche Wirkung auf die Seelen unserer Kinder nicht hoch genug zu bewerten ist. Zwar heißt es auf S. 4 im II. Heft ausdrücklich: »Stets wurde darauf gesehen, die Volkslieder nach Melodie und Text in ihrer ursprünglichen Form wiederzugeben«, aber darum nur keine Angst! Selbst die keusche Seele eines Lizentiatus Bohn kann das Buch ohne Gefahr für ihren Frieden lesen. Das werden wir beweisen.

Hölty, augenscheinlich ein recht frivoler Geselle, singt in seinem »Mailied« (I, 27):

»Haltet Tanz

Auf grünen Auen,

Ihr schönen Frauen!«

So ein Skandal! Nun, Ballhorn – pardon! der Bezirkslehrerverein war sich der drohenden Gefahr für die Knaben der 1. und 2. Schulklasse bewußt und griff mit anerkennenswerter Energie selbst zur Leier und die Muse küßte ihn mit hörbarem Schmatzen. Er singt:

»Pflückt einen Kranz

Und haltet Tanz

In grünen Hainen,

Ihr lieben Kleinen.«

Für diesmal wären also die Kinder noch vor den Fallstricken der Erotik bewahrt geblieben.

Daß in Goethes »Frühzeitiger Frühling« (III, 79) die obszöne letzte Strophe:

»Saget, seit gestern,

Wie mir geschah,

Liebliche Schwestern,

Liebchen ist da!«

gestrichen wurde, versteht sich von selbst. Nun hat aber derselbe greuliche Heide auch ein »Sommerlied« gedichtet, in dem die gefühlsrohe Strophe:

»Ach, aber da,

Wo Liebchen ich sah,

Im Kämmerlein,

So nieder und klein –!«

vorkommt. Das schreit ja geradezu nach Umdichtung. Gottlob verhallte der Ruf nicht ungehört. Todesmutig bestieg der Herausgeber den Pegasus und machte seinem gequälten Herzen in folgenden Perlen Luft:

»Als ich im Hei-

Mattale dich sah,

O Hüttelein,

So nieder und klein.«

Wie schön!!

Eichendorff in seiner ganzen Leichtfertigkeit offenbart sich im »Frohen Wandersmann« (II, 10). Er wagt da zu singen:

»Die Trägen, die zu Hause liegen,

Erquicket nicht das Morgenrot,

Sie wissen nur von Kinderwiegen,

Von Sorgen, Last und Not ums Brot.«

»Kinderwiegen«, man denke! Natürlich waltete der Zensor seines Amtes. Wie hätte er auch die Phantasie der ihm anvertrauten Jugend durch solch schlüpferige Bilder vergiften lassen dürfen?

Starken Toback setzt Arndt in seiner »Frühlingslust« (III, 36) seinen Lesern vor. Die 6. Strophe lautet:

»Juchei! alle Welt!

Juchei in Liebe!

Liebeslust und Wonneschall,

Erd’ und Himmel halten Ball.«

Liebeslust – Wonneschall und dann noch einen Ball! Das ist entschieden zu viel. In der richtigen Erwägung, die sträflichen Orgien dieser Welt dürfen nicht in die Schule verpflanzt werden, strich der Herausgeber. Schade, daß wir so um eine Bereicherung unserer Poesie gekommen sind. Wie schön hätte er das umdichten können! Aber vielleicht war es doch besser so, wenn auch nicht für unsere Literatur, so doch für die Unverdorbenheit der Kinder.[154]

*

Der preußische Kultusminister hat das »Lesebuch für höhere Mädchenschulen« von Karl Hessel, das bereits in 6. Auflage vorliegt, für die paritätische höhere Mädchenschule in Kreuznach verboten wegen konfessioneller und moralischer Bedenken. Ausdrücklich sind zwei Bedenken ersterer Art angeführt: erstens heißt es in Peter Roseggers humoristischer Erzählung »Der Gansräuber«, daß die Staudenbäuerin bei der Nachricht von der Ermordung ihrer Martinsgans entrüstet ausgerufen habe: »Das ist ja eine Todsünde gegen den heiligen Martinus!« Es ist ohne weiteres klar, daß eine solche mangelhafte Beschlagenheit der Staudenbäuerin in der Dogmatik mit Rücksicht auf die verhängnisvollen Wirkungen auf die Seelen der höheren Töchter nicht geduldet werden kann.

Dann hat auch Freiligrath in seinem berühmten Gedicht »Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt’ an Blüte«, in dem er die Völker und Länder mit Blüten vergleicht, in höchst sträflicher Weise auf den paritätischen Charakter der Schule nicht Rücksicht genommen.

Er spricht nämlich den Gedanken, mit Luthers Auftreten sei eine Blütezeit angebrochen, als Zukunftsaussicht des Reformators aus. Vor katholischen Ohren! Man denke! Wie könnten da die Seelen der armen Schäflein in Anfechtungen fallen!

Die schrecklichen Verse lauten:

»Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!

Regt sich’s im Schoß! Dem Bersten scheint sie nah,

Frisch, wie sie Hermann auf den Weserwiesen,

Frisch, wie sie Luther vor der Wartburg sah!«

Nicht minder gefahrdrohend wie für das Glaubensleben der Kinder ist das genannte Buch für ihre Moral. In dem Märchen vom Schlaraffenland heißt es nach Bechsteins Erzählung, dort flögen gebratene Tauben den Leuten ins Maul, auch müsse man sich durch einen Reisbrei durchfressen, um ins Land zu kommen. Solche Ausdrücke, sagt der Minister – übrigens mit Recht –, dürften Mädchen nicht in den Mund nehmen. Aber einen solch gesegneten Appetit, daß man sich durch einen Reisberg durch»essen« kann, hat doch nicht jeder!

In Hebels Gedicht »Der Schneider in Pensa« wird erzählt, wie ein wohlhabender deutscher Schneider 1812 badische Soldaten zu Pensa in Rußland bewirtet habe. Es heißt da, der Schneider habe sich schon vorher auf solche Einquartierung gefreut; er liebte sie, sagt Hebel, schon zum voraus ungesehenerweise, wie eine Frau ihr Kindlein schon liebt und ihm Brei geben kann, ehe sie es hat.

Diesen Satz bezeichnet der Minister als anstößig![155]

*

Die Tugendhaftigkeit unserer Zeit macht keineswegs vor der Kastration von Gedichten und Volksliedern halt. Sie hat auch rückwirkende Kraft. Jeder wahre Tugendheld muß sein Herz höher schlagen hören, wenn er wahrnimmt, daß nichts so klein oder kleinlich ist, daß die Sittlichkeit sich nicht seiner bemächtigt.

Ein Beispiel für viele: Ungezählte Jahre stand in den Schülerverzeichnissen, die den Jahresberichten der bayerischen Gymnasien angehängt sind, unter der Rubrik »Stand des Vaters« Privatier etc. Das ist nunmehr insofern geändert, als bei unehelichen Kindern in diesem Falle Privatiere stehen würde, also der Stand der Mutter! Die Folge dieser sittenstrengen Maßnahme ist klar. Die Kinder werden mit der ihnen eigenen Grausamkeit sich die Schande der Eltern, oder das, was die Spießbürger so zu nennen pflegen, vorwerfen und damit einen Wermuttropfen in die Seele des schuldlosen Opfers träufeln. Aber was schadet das weiter? Wenn nur die Moral gerettet wurde![156]

*

Mit der Prüderie der Behörden und Geistlichkeit kontrastiert ganz merkwürdig das Verhalten in der Beichte. Der Redakteur der Aschaffenburger Zeitung Pepi Matthes hat vor einigen Jahren unter dem Titel »Wenn Kinder beichten. Eine Anklage« ein Schriftchen herausgegeben, das inzwischen recht selten geworden ist und in dem er seine Erfahrungen mit dem Beichtstuhl voller Entrüstung veröffentlicht. Seine Zentrumsgegner denunzierten ihn darauf, er wurde in eine sehr unangenehme Untersuchung verwickelt und die Schrift konfisziert. Aber da es ihm gelang, den Wahrheitsbeweis zu erbringen, mußte das Verfahren nach § 184 Abs. 1 RStrGB. eingestellt und die Broschüre frei gegeben werden.

Statt nun, daß die Frommen voller Entrüstung sich vom System der Beichte oder mindestens dessen Handhabung abgewandt hätten, verfolgen sie Matthes heute noch mit Feuereifer nach dem altbewährten deutschen Prinzip, nicht den Brandleger zu bekämpfen, sondern den Passanten, der »Es brennt« ruft.

Bezeichnend für die Kampfesweise ist u. a. der in Nr. 410 der Münchener Neuesten Nachrichten vom Jahre 1909 abgedruckte Brief des Gymnasialrektors Dr. J. Straub. Darin heißt es: »... Wohl aber begab ich mich vor einiger Zeit... zu sämtlichen hiesigen Buchhandlungen und erklärte dort, ich müßte den Schülern das Betreten ihrer Geschäftsräume unter Androhung der schwersten Strafen verbieten, wenn sie das angedeutete Preßerzeugnis auf Lager hielten. Damit tat ich lediglich meine Pflicht und erfüllte einen ausdrücklichen Auftrag des k. Staatsministeriums. Auch an Herrn Bürgermeister Dr. Matt wandte ich mich mit der Anfrage, ob von Polizei wegen gegen die Verbreitung solcher Produkte nicht vorgegangen werden könnte.«

In diesem Schriftchen, dessen Wahrheit also gerichtlich festgestellt wurde, finden sich folgende Proben aus der Beichte:

Ich war 14 Jahre alt und legte meine Osterbeichte ab.

»Hast du Unzüchtiges getan?«

»Nein.«

»Hast du dich niemals angerührt?«

»Nein, nur wenn ich’s mußte.«

»Hast du niemals mit der Hand dich an schamhafter Stelle angefaßt, jenen Teil in die Hand genommen und hast so gesündigt?«

»Aber nein.«

»Hast du nie etwas Besonderes aus deinem schamhaftesten Teil kommen sehen oder das gefühlt, wenn du im Bett lagst?«

»Nein, Hochwürden.« – – –

Schon oft hatte ich so etwas von Kameraden gehört, die der Beichtvater auch so ausgefragt hatte. Aber ich verstand all das nicht. Am Abend nach jener Beichte lag ich unruhig im Bett. Es war mir so heiß, so schwül.

Meine Beichte fiel mir ein.

Ich warf Bett und Decke zurück, damit ich nicht so heiß bliebe.

Ich mußte am nächsten Morgen kommunizieren. Ach, wie ist das, wenn man so ist, wie der Beichtvater heute gesagt hat? Ich preßte die Schenkel aufeinander. Es half nichts. So war ich noch niemals.

»Hast du...?« »Hast du...?« »Tatest du...?«

Die Fragen gingen mir immer schneller durch den Kopf. »Vater unser...« Meine Sinne waren nicht beim Beten, sondern bei der Beichte.

Die Hand... »Hast du noch nie...?« »Hast du niemals...?«

Gott, Gott, wie reizten mich diese Fragen, so oft ich daran dachte. – – –

Am nächsten Morgen konnte ich nicht kommunizieren. »Ich habe aus Versehen nach 12 Uhr noch ein bißchen Brot gegessen,« belog ich meinen Religionslehrer.

Bei der nächsten Beichte aber mußte ich antworten: »Ich habe es getan.«

*

Wie Matthes bei einem Augustiner einige Zeit später beichtet, der ihn gleich fragt, wo er wohnt und sich nach den Töchtern der Wirtsleute erkundigt, erzählt er folgendermaßen:

»Die eine heißt Emmy und die andere Anna?«

»Ja.«

»Hast du mit diesen noch nicht unschamhaft verkehrt?«

»Nein.«

»Hast du sie nicht mit lüsternen Blicken angesehen? Auch das ist eine Sünde.«

»Nein.«

»Hast du sie nicht, auch nicht wie zum Scherz, an der Brust gefaßt? Oder am Schenkel, oder gar dazwischen, über oder unter dem Kleid, oder dorthin lüstern gesehen?«

»Nein.«

Matthes bekam drei »Vaterunser« und »Gegrüßet seist du, Maria«, nebst einem Rosenkranz als Buße auf.

Hinfort konnte er die Töchter seiner Wirtsleute nicht mehr so ruhig ansehen.

*

Wir wollen den Fall des Pater Sanktes, eines Religionslehrers an unteren Klassen, der sich an seinen Schülern sittlich verfehlt, übergehen, da einzelne Entgleisungen überall vorkommen können. Ob Sanktes wirklich, wie er klagte, in der Beichte von der Versuchung besiegt wurde, bleibe dahingestellt. Wichtiger ist die Feststellung des Matthes, daß er von sämtlichen Beichtvätern mit alleiniger Ausnahme von zweien, mit ähnlichen Fragen gequält wurde. Sogar ob sie mit ihrer Schwester zusammen geschlafen hätten, wurden die Buben gefragt.!!

Ein Schüler erhängte sich aus Furcht vor den Folgen des Lasters, das er in der Beichte gelernt hatte.

Ein Beichtvater fragt: »Hast du dich nie, vielleicht unter einem harmlosen Vorwand, an den Beinen gefaßt?«

»Nein, nein.«

»Hast du niemals ein Mädchen geküßt?«

»Ja.«

»Hast du dabei sinnliche Gefühle erweckt, indem du vielleicht deine Knie oder deinen Körper an sie gepreßt hast, oder deine Brust? Oder hast du mit deiner Zunge zwischen ihren Lippen geleckt?«

»Aber nein.«

»Hast du auf einem Schoße einer weiblichen Person gesessen und dabei Böses gedacht?«

»Nein.«

»Auch bei deiner Mutter nicht?«

*

Von der Art eines Ordensgeistlichen, die Beichte bei Mädchen anzuhören, berichtet Matthes:

Die kleine Bertha war Erstkommunikantin und wird, nachdem der Pater jedes Gebot einzeln durchgegangen ist, auch nach dem sechsten gefragt.

»Hast du niemals mit Buben gespielt?«

»Ja, oft.«

»Hast du sie auch berührt?«

»Ja.«

»Sie dich auch?«

»Ja.«

»Natürlich, um Schlechtes zu tun!«

»Aber nein, nein, so nicht! Gespielt, so gespielt halt, Nachlaufen, Verstecken, Fangen und so, und so anderes.«

»Lüge nicht! Ich habe es gesehen, wie dich Buben angegriffen haben.«

»Aber nein, nein!«

»Hast du dich selbst angegriffen?«

»Ja; nein, so nicht, wie Sie wieder denken!«

»Gewiß, du hast es getan! Ich weiß es. Du hast dich angerührt.«

»Aber nein doch, nein!«

»Sagst du gleich ja? Willst du gleich ja sagen? Nun, wird es bald, willst du ja sagen?«

Dabei polterte der Beichtvater wider das Gitter, das ihn von seinem Beichtkind trennte. Und bebend kam es da von den Lippen:

»Ja.«

»Nun, mit der Hand oder mit dem Stöcken.«

Keine Antwort.

»Mit der Hand oder mit dem Stöcken?«

Wieder schwieg die Kleine.

Da polterte Hochwürden wieder und leise sagte das Kind:

»Mit der Hand.« Nur, damit Hochwürden zufrieden war.

»Sag, hast du auch mit einem Hund dich abgegeben?« usw. usw.

*

Man kann sehr freie Ansichten haben und wird doch voller Empörung sich von dieser systematischen Jugendverderbnis abwenden. Gesellt sich dazu aber die Scheinheiligkeit und Prüderie der schwarzen Rotte, dann kann der ehrliche Mann nur bedauern, sich voll Ekel abwenden zu müssen, statt mit einem kräftigen Fußtritt die ganze Gesellschaft an die Luft zu setzen.

Aber was nützt die Keuschheit in Worten, wenn die in Werken fehlt! Wenn es auch sehr zu beklagen ist, daß in dieser Hinsicht nicht so viel geschieht, wie zur Reinhaltung der Literatur, so ist doch schon der Anfang zu begrüßen. Die Keuschheitsgürtel werden nämlich wieder modern! Das beweist nachstehende Geschichte. Heil allen Tugendhaften! Halleluja!

Der Apotheker Parat wurde im Februar 1910 in Paris zum Gegenstand des Interesses der ganzen Welt, weil sich herausstellte, daß er aus Eifersucht seine Frau in Ketten legte und durch Keuschheitsgürtel ihre Treue sich sicherte. Würde es sich hier um die wahnsinnige Handlung eines einzelnen handeln, dann könnten wir sie so wenig unter die Kultur-Kuriosa aufnehmen, wie die Prozesse in Madrid im Jahre 1892 und in Paris 1899 aus dem gleichen Grunde. In beiden wurden die Männer bestraft, weil ein gewaltsamer Zwang vorlag. Es handelt sich hier aber keineswegs um Unica, vielmehr sind noch heute Keuschheitsgürtel bei uns in Gebrauch. Es existiert sogar eine Industrie, die solche »Edozone« erzeugt. Dem Pariser Korrespondenten des Berliner Tageblattes fielen zwei solcher Geschäftsanzeigen in die Hände, aus den Jahren 1879 und 1885, die eine aus Paris, die andere aus einem Orte im Departement Aveyron. In ihnen werden Keuschheitsgürtel je nach der Ausführung im Preise von 120–380 Frs. angeboten. Die Verfasser der Prospekte waren zweifellos geschichtlich unterrichtete Persönlichkeiten. Der eine rechtfertigt sein Angebot wie folgt: »Man wird sagen, ein verrücktes Unternehmen: aber wer ist verrückter, der Mann, der die Zwangsjacke erfunden hat, oder der Wahnsinnige, dem sie angelegt werden muß?«

Dr. Cabanès, der bekannte Sammler von geschichtlichen Kuriositäten, erzählt, daß es in Paris Fabrikanten gibt, die diese merkwürdigen Instrumente auf Bestellung anfertigen und Ehemänner und Liebhaber, die sie für teures Geld kaufen und natürlich ihren Freundinnen anlegen. Das schönste Exemplar, das Cabanès gesehen hat, war ein Gürtel mit kostbarem Goldbeschlag und ziseliertem Schloß und wurde zum Preise von 500 Frs. von einer Demimondaine der Rue de Penthicore einem Sammler zum Kaufe angeboten.[157]

Share on Twitter Share on Facebook