Siebenter Abschnitt Frömmigkeit

Alle frühmittelalterlichen Heiligen zeichneten sich schon in früher Jugend durch hohe Begabung aus, so daß sie an Sitten und Erfahrung Greisen glichen. Juvenis senex, greisenhafter Jüngling, war, anders wie heute, höchstes Lob und daher stehende Redensart. Dieser Abgeklärtheit entsprach auch der Tatendrang, der dem hl. Bernward von Hildesheim wiederholt den Ehrentitel einer »mater ecclesiae«, dem Sankt Johann sogar den einer »virgo egregius«, einer ausgezeichneten Jungfrau einträgt. Auf einem Gebiet aber kannten Erfindungsreichtum und Energie der frommen Männer keine Grenzen: auf dem der Sonderbarkeiten. Quaeque extrema semper appetiit (Was es nun Sonderbares gab, erstrebte er immer), heißt es von Angilram[158], und das trifft den Nagel auf den Kopf. Es waren wirklich auch für ihre Zeitgenossen sonderbare Heilige, und doch ist die Art ihres Wirkens, da es in fast gleicher Weise stets wiederkehrt, so charakteristisch, ja sogar typisch, daß es wohl mit in erster Linie dazu führte, ihnen Heiligenqualitäten zu verleihen, lag ihm doch das tiefernste Bestreben zugrunde, durch Überwindung der Welt den Himmel zu erobern. Diese Eroberung, im strategischen Plane bei allen gleich, wird taktisch verschieden in Angriff genommen.

Am harmlosesten erscheint uns das Streben, ein »Bild« der Demut und Milde abzugeben. Kein Abschied ohne Tränenfluten, keine Verzeihung, ohne daß die Umstehenden mit dem am Boden sich Windenden nicht mitgeweint hätten. Die Kunst, nach Belieben zu weinen – wir reden despektierlich in solchen Fällen von Krokodilstränen –, die gratia lacrimarum galt als eine jener Himmelsgaben, die nur dem Erwählten zuteil werden. Kaiser Otto III. und der hl. Bernward weinten beim Abschied so heftig, daß sie sich schämten, unter die Leute zu gehen, Alfkerus weinte, wenn er die hl. Messe las, so ausgiebig, daß der größte Teil seines Körpers naß wurde; Eid von Meißen hatte vom vielen Weinen immer entzündete Augen. Eine Gelegenheit, in Tränen zu zerfließen, durfte, wer nur einigermaßen auf Heiligkeit oder Heiligmäßigkeit Anspruch erheben wollte, niemals ungenutzt vorübergehen lassen. Ob es sich um Reue, Erbitten einer Gnade, Beichte, Messe oder Gebet handelte, wer nur irgend konnte, weinte. Die Tränenfröhlichkeit besonders des 10. Jahrhunderts kann kühn mit der der Wertherzeit in Konkurrenz treten. So tadelt Adam von Bremen an den Dänen, daß sie Tränen und Wehklagen aus Reue oder sogar für Tote verabscheuten. (Mon. germ. SS. VII, p. 336.)

Ernster schon waren die Kasteiungen durch Geißelung, Entzug des Schlafes, Hunger und Durst, besonders wirksam aber die Handlungen, die dem Bestreben, der Niedrigste von allen zu sein, ihr Dasein verdankten. Adalbert von Bremen bittet seinen Feind, der ihn mißhandelt, um Verzeihung.[159] Johann von Gorze hat über jeden heiteren Augenblick nachträglich die schwersten Gewissensbisse. Er putzt (wie auch der hl. Adalbert) seinen Mitbrüdern oder gar dem Gesinde die Stiefel, sogar gegen deren Willen, buttert, bis ihm der Schweiß kommt und flickt in den nächtlichen Mußestunden Netze, ja, er reinigt oft die Latrinen! Ganz ähnlich handelt Angilram.[160] Die Königin Mathilde begibt sich nur scheinbar zur Ruhe, verläßt vielmehr ihr Lager, sobald alles schläft und tut die Nacht durch Gutes, um dann morgens, von niemand bemerkt, wieder ihr Lager aufzusuchen. Sie dringt auch heimlich in die Zellen, um beim Baden der Armen behilflich zu sein, während sie sich selbst Bäder versagt.[161] Der stolze Adalbert von Bremen wusch vor dem Schlafengehen 30 und mehr Bettlern die Füße. Ähnliches hatte schon die Tochter König Chilperichs von Burgund, Chrotechilde, getan, wie Fredegar erzählt. Brun von Köln, der Bruder Ottos des Großen, sitzt im Schafpelz unter Königen.[162] Fast keiner aber gönnt sich den damals so beliebten Genuß eines Bades, und doch berichten die Biographen von der Schönheit ihrer Helden!

Diese Kasteiungen müssen für sehr harmlos gelten im Vergleich zur Sitte der ersten Christen, sich zu entmannen. Justinus erzählt von dem Gesuche eines Christen in Alexandrien an den Präfekten Felix: er möchte einem Arzt gestatten, ihn zu entmannen. Denn ohne diese Genehmigung durften die Ärzte die Operation nicht vornehmen. Origenes entmannte sich selbst und das Konzil zu Nicäa von 325 sah sich genötigt, Stellung zu nehmen zu der Frage dieser Verstümmelung.[163]

Rühmend erzählt der Biograph vom hl. Ulrich, daß er sich zwar das Gesicht wusch, aber nicht badete, außer an drei Festtagen im Jahre. Dafür wusch er aber eigenhändig 12 Armen die Füße. Der Königssohn Brun war nicht weniger wasserscheu wie Johann von Gorze, der auch Medikamente verschmähte. Angilram badete auch nicht.[164] Waren die frommen Männer so auch zu Lebzeiten keine Nasenweide der frommen Gemeinde, so holten sie das doch im Tode nach. Denn dann entströmten – das müssen wir wohl oder übel den Chronisten glauben – den Särgen der frommen Männer liebliche Düfte. Von Eid, Ansfrid, Evergerius von Köln und Udalrich wird es wenigstens ausdrücklich erzählt.[165]

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Das Weinen gehörte auch noch zur Zeit der Kreuzzüge selbst beim Militär zur Frömmigkeit. Der Chronist erzählt: »Es war Sitte im Heere, daß in jeder Nacht, ehe sie sich zum Schlafen niederlegten, ein dazu bestimmter Mann mit lauter Stimme inmitten des Heeres den gewöhnlichen Spruch rief: ›Hilf, heiliges Grab!‹ In diesen Ruf stimmten alle ein, wiederholten ihn, streckten mit reichlichen Tränen die Hände zum Himmel empor und erflehten Gottes Barmherzigkeit und Hilfe. Dann hub der Herold selbst wieder an, indem er wie vorher ausrief: ›Hilf, heiliges Grab!‹ Und alle wiederholten es; und als er gleichfalls zum dritten Male rief, so taten es ihm alle nach mit großer Herzenszerknirschung und unter Tränen. Wer würde dies in solcher Lage nicht tun? da doch schon diese Tatsache zu berichten Tränen den Hörern entlocken kann. Durch diese Anrufung schien das Heer sich gar sehr gestärkt zu fühlen.[166]«

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Die durch Schönheit, Klugheit, Sittenstrenge und Frömmigkeit ausgezeichnete Athenerin Irene wurde durch den Tod ihres Gemahles, des Kaisers Leo IV., im Jahre 780 für ihren zehnjährigen Sohn Regentin des byzantinischen Reiches. Als der Sohn regierungsfähig geworden war, ließ sie die Truppen auf die noch nie dagewesene Formel »Solange du lebst, werden wir uns deinen Sohn als Kaiser nicht gefallen lassen« schwören. Doch der Staatsstreich mißlang, Irene wurde von der Regierung entfernt, und Konstantin VI., der zuerst sieben Jahre mit Karls des Großen Tochter Rothrude verlobt gewesen war, kam endlich zur Herrschaft. Aus Gutmütigkeit verzieh er schon nach einem Jahre seiner Mutter und setzte sie wieder in ihre bevorzugte Stellung ein. Nach fünfjähriger Wühlarbeit gegen den tapferen Sohn machte sie ihn unpopulär. Dann riet sie ihm, seine Gemahlin zu verstoßen und die schöne Hofdame Theodote zu heiraten (795). Jetzt war der Kaiser verloren. Die Kirche trat wegen des ungesetzlichen Schrittes gegen ihn auf, Irene nahm ihn gefangen und ließ ihm in demselben Purpurgemache des Kaiserpalastes, in dem sie ihm das Leben gegeben hatte, durch den Henker die Augen ausstechen! Wiewohl die Verstümmelung mit besonderer Grausamkeit ausgeführt war und in der Absicht, seinen Tod zu veranlassen, ohne der Mutter das Odium der Mörderin aufzuladen, lebte der Kaiser noch einige Jahre. Irene aber nahm mit Ignorierung ihres Geschlechtscharakters den Titel »Kaiser« an. Doch schon 802 fiel sie, deren Ehrgeiz eine Ehe mit Karl dem Großen im Bereiche der Möglichkeit gehalten hatte, als Opfer einer Revolution. Sie starb einsam und verlassen 803 auf Lesbos.

Die byzantinischen Schriftsteller finden für diese Kaiserin kaum ein Wort des Tadels. War sie doch die Wiederherstellerin der Bilderverehrung. Als Heilige gehört sie dem Himmel der griechisch-katholischen Kirche an.[167]

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Robert von Arbrissel (Albresec in der Bretagne), der Stifter des Ordens von Fontaevraud hatte eine sonderbare Probe seiner Keuschheit ersonnen. Er ging nicht nur in Bordelle und bewog durch seine Predigt die Prostituierten, fromm zu werden – und zwar so viele, daß er für sie drei Klöster errichten mußte, von denen deshalb das eine de la Magdelaine benannt wurde, er schlief auch öfter zwischen zwei Nonnen – nackt natürlich, gemäß der damaligen Sitte –, bloß um die Kraft des Willens über das Fleisch zu erproben.

Der Abt Gottfried von Vendome tadelte ihn wegen der unklugen Erfindung dieses neuen Martyriums; Marbod, Bischof von Rennes, aber ermahnte ihn, sich solchen Verführungen nicht auszusetzen, die den guten Ruf, wenn auch nicht die Seele verwundeten. Er tadelte ihn auch, daß er in haarigem Fell und zerrissenen Kleidern, mit halbnackten Hüften, langem Bart, abgeschnittenem Haupthaar und bloßen Füßen gehe.[168]

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Das Mittelalter in seinem Kinderglauben suchte Befreiung von Sünden, weniger durch innere Einkehr, als dadurch, daß es durch weite Reisen, nach Rom, Jerusalem oder an andere geheiligte Orte, räumlich der Gnadenquelle nahte. Jeglicher Schmerz, jede Form irdischer Qual, selbst jedes Verbrechen konnte sich hoffend nach Rom wenden, um zu den Füßen des Papstes Erlösung zu empfangen. Aber neben wahrhaft Reuigen, die in hellen Haufen jahrhundertelang den Weg über die Alpen einschlugen, befand sich auch manch räudiges Schaf. Ja, die damaligen Anschauungen trieben entsittlichte Menschen, fluchwürdige Verbrecher, die heute in Gefängnissen sorgfältig vom Kontakt mit der Mitwelt ferngehalten werden, zu solchen Pilgerfahrten, trugen sie ihnen doch neben der Hochachtung vor freiwilliger Buße auch noch sicheren Unterhalt ein.

Der Schuldige ward in die Welt geschickt, versehen mit einem Schein seines Bischofs, welcher ihn als Mörder oder Blutschänder offen bezeichnete, ihm seine Reise, ihre Art und Dauer vorschrieb, und ihn zugleich mit einer Legitimation, entsprechend unseren Pässen, versah. Er zeigte seine Legitimation allen Äbten und Bischöfen der Orte vor, durch welche er kam. Diesem Verdammungs- und gleichzeitigen Empfehlungsbrief verdankte er überall gastliche Aufnahme. Deshalb hüllten sich nicht selten Gauner, die gar kein schweres Verbrechen begangen hatten, in die Maske der scheußlichsten Untat. So hatten sie Gelegenheit zu sorgenfreier Reise und Aussicht auf betrügerischen Gewinn. In Ketten, mit schweren Eisenringen um Hals und Arme, halbnackt zogen sie mit ihren falschen Pässen durch die Länder, stellten sich auch vielfach besessen, warfen sich vor den Heiligenbildern der Kirchen und Klöster nieder und erlangten, indem sie durch deren Anblick plötzlich zur Besinnung gekommen zu sein vortäuschten, von den beglückten Mönchen Geschenke.

Bezeichnend für die Sitten, die in solchen Pilgergesellschaften herrschten, ist, daß schon 744 der Erzbischof Bonifazius von Mailand an Cutbert von Canterbury schrieb, die Synode möge den Frauen und Nonnen solche Reisen untersagen, »weil viele von ihnen zugrunde gehen, wenige aber unberührt heimkehren. Denn es gibt in der Lombardei nur sehr wenige Städte, desgleichen in Franzien oder Gallien, in denen sich nicht eine Ehebrecherin oder Prostituierte aus englischem Stamme befindet.«

Viele erlagen also den Versuchungen der Pilgerfahrten. Deshalb verbot auch die Synode von Friaul 791 bereits den Nonnen, nach Rom zu pilgern.[169]

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Wahre Frömmigkeit römischer Observanz, überall zu finden, wo die kasuistische Pseudomoral der Kirche herrscht, lehrt uns ein niedliches Geschichtchen kennen, das ebensogut heute passiert sein könnte, wie im Jahre 1580 und überaus bezeichnend ist für die Denkweise weitester Kreise unter dem segenspendenden Krummstab.

Montaigne erzählt: »Un quidam etant avecques une courtisane, et couché sur un lit et parmi la liberté de cete pratique-là, voila sur les 24 heures l’Ave Maria soner: elle se jeta tout soudein, du lit à terre, et se mit à genous pour faire sa priere. Etant avecques un autre, voila la bone mere (car notammant les jeunes ont des vielles gouvernantes, de quoi elles font des meres ou des tantes), qui vient hurter à la porte, et avecques cholere et furie arrache du col de cette jeune un lasset qu’elle avoit, où il pandoit une petite Notre-Dame, pour ne la contaminer de l’ordure de son peché; la jeune santit un’extreme contrition d’avoir oblié à se l’oster du col, come ell’avoit acostumé.«[170]

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Als Montaigne in der Karwoche 1581 in Rom weilte, sah er eine ungeheure Prozession mit Fackeln – er schätzt deren Anzahl auf 12000 –, die sich, in Büßerkompanien geteilt, gegen St. Peter bewegte. Musikkapellen waren im Zuge verteilt und Lieder wurden unausgesetzt während des Marsches gesungen. Inmitten jeder Gruppe, deren es wenigstens 500 gab, schritt eine Reihe von Büßern, die sich mit einem Tau (corde) den Rücken in bemitleidenswerter Weise blutig schlugen.

»Das ist ein Rätsel, das ich noch nicht recht verstehe, aber alle sind braun und blau geschlagen (meurtris) und grausam verwundet und martern und schlagen sich unaufhörlich. Sehenswert ist ihre Fassung, die Sicherheit ihrer Schritte, die Festigkeit ihrer Worte (denn ich hörte mehrere sprechen) und ihr Gesicht (denn mehrere waren in der Straße barhäuptig). Es erweckte keineswegs den Anschein, als seien sie in einer schmerzvollen Tätigkeit, noch in einer ernsten begriffen, und junge Leute von zwölf oder dreizehn Jahren waren darunter. Dicht bei mir war ein sehr Junger mit angenehmem Gesicht; eine junge Frau sprach ihr Bedauern aus, ihn sich so verwunden zu sehen. Er wandte sich zu uns und sagte ihr lachend: ›Genug, sage dir, daß ich das für deine Sünden tue und nicht für meine eignen.‹ Sie zeigen bei dieser Tätigkeit nicht nur keine Angst oder Zwang, sondern sie tun es mit Freude oder mindestens mit solcher Gleichgültigkeit, daß du sie sehen kannst, wie sie sich mit anderen Dingen beschäftigen, lachen, sich auf der Straße zanken, laufen, springen, wie es in einem so großen Gedränge, wo die Reihen in Unordnung geraten, passiert. Unter ihnen gibt es Leute, die Wein tragen, um ihnen zum Trinken anzubieten: niemand nimmt einen Schluck. Man gibt ihnen auch Zuckerwerk, und die, welche Wein tragen, nehmen häufig davon in den Mund und dann spucken sie ihn wieder aus und benetzen damit das Ende ihrer Geißel, das aus einem Strick besteht und sie sind derart mit Blut beklebt, daß man sie begießen muß, um sie auseinander zu bringen; einige blasen den Wein auf ihre Wunden. Nach ihrem Schuhwerk und Strümpfen zu urteilen sind es Leute sehr niederen Standes, die sich für diesen Dienst vermieten, wenigstens die Mehrzahl. Man sagte mir wohl, daß man ihre Schultern mit etwas polstert, aber ich habe die Wundmale zu frisch gesehen und die Attacken so lange fortgesetzt, daß es kein Heilmittel zur Beseitigung der Empfindung gibt. Und wozu würde man sie mindern, wenn alles Spiegelfechterei wäre?«[171]

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Keyßler, der 1730 in Rom war, erzählt: »Am grünen Donnerstag kamen etliche geistliche Brüderschaften und eine volkreiche Prozession von andern Leuten nach der St. Peterskirche. Unter dieser Gesellschaft fanden sich zehn bis zwölf maskierte Personen, welche ihre entblößten Rücken mit vielen Riemen, an deren Enden eiserne Stifte waren, also zerschlugen, daß man es nicht ohne Ekel ansehen konnte, und die Stellen, wo sie sich etwas aufgehalten hatten, an dem Blute auf dem Fußboden der Kirche zu erkennen war. Hinter einem jeden solchen eigenmächtigen Märtyrer oder im Beichtstuhle dazu verurteilten Missetäter, wurde eine brennende Fackel getragen und oftmals an den zerfleischten Rücken gehalten, damit das Blut nicht gerinnen sollte.«

In einer unterirdischen Kapelle der Jesuiten bekam jeder Eintretende, hinter dem die Türe gleich verschlossen wurde, tüchtige Geißeln, »die sich in sieben bis acht Ende oft geknüpfter Reifschnüre verteilten«. Ein Jesuit erinnerte – es war Karfreitag – an die Leiden Christi und forderte zur Nachahmung auf. Die Lichter wurden ausgelöscht, die Litanei gesungen und jedermann geißelte sich. Und zwar geschahen die Ermahnungen und die darauf folgenden Geißelungen dreimal.[172]

Welche Ähnlichkeit mit dem alljährlich im Orient stattfindenden Umzug der Perser zur Erinnerung an Alis Tod!

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Übrigens ließen sich auch Herrscher geißeln. Kaiser Heinrich III. legte nie seinen königlichen Ornat an, bevor er sich dieser Züchtigung unterworfen hatte. König Otto IV. ließ sich auf dem Totenbette bis aufs Blut schlagen und noch der große Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598–1650) ließ mit eigener Hand Schläge auf seinen entblößten Rücken fallen.[173]

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Keyßler erzählt von einer sonderbaren Sitte, die in Loretto herrschte. »Die Kastraten, so in der Musik der Santa Capella gebraucht werden, lesen hier gleichfalls Messe, und tragen währen der selbigen ihre abgeschnittenen Testiculos und andere dergleichen Pertinentien in einer Schachtel in der Tasche bey sich, vermuthlich weil sie nach der Mathematik werden behaupten wollen, daß 99⁄100 und 1⁄100 allezeit ein Ganzes ausmachen. In Rom höret man von dergleichen Gewohnheit nicht, in dem oberen Theile von Italien aber ist die Sache nicht ungewöhnlich.«

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Die Maranen, d. h. zwangsweise getaufte Juden der Pyrennäenhalbinsel, die im geheimen noch dem Glauben ihrer Väter anhingen, heirateten auch in der Regel untereinander und mußten deshalb häufig die päpstliche Ehedispens einholen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erlebten diese Maranen eine religiöse Renaissance. Sie ließen sich einen gewissen Rabbi Falcon aus Jerusalem kommen, um die vollkommene Wahrung der orthodoxen Riten und Gebräuche zu gewährleisten. Damals traten viele noch im Alter zum Judentum öffentlich über und ließen sich beschneiden. Sehr sonderbar aber ist der Brauch, daß manche, die wegen vorgerückten Alters vor den Schmerzen einer Beschneidung zurückscheuten, wenn sie sich auch offen zum Judentum bekannten, diese Operation nach dem Tode an sich vornehmen ließen. Jakob de Mezas hat in seinem »Mohelbuche« seit dem Jahre 1706 zahlreiche solche Fälle registriert.[173]

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Der Professor der Dogmatik P. Lépicier, angestellt an der Propaganda fidei in Rom, schrieb 1909 unter dem Titel »De stabilitate et progressu dogmatis« ein Buch. Er vertritt darin die Ansicht, daß ein Ketzer nicht nur exkommuniziert, sondern von Rechts wegen auch getötet werden dürfe. Denn er sei, wie Aristoteles sagt, schlimmer als ein wildes Tier, das zu töten ja auch keine Sünde sei. Daß die Kirche das Recht habe, einen Ketzer zum Tode zu verurteilen, unterliegt dem milden Apostel der christlichen Liebe nicht dem geringsten Zweifel (S. 174 f.). »Diejenigen katholischen Apologeten irren von der Wahrheit ab, die da sagen, die Schuld an solchen Sentenzen (Hinrichtung von Ketzern) sei der weltlichen Inquisition zuzuschreiben, oder die feigerweise zugestehen, die Kirche habe, dem Zeitgeist folgend, in dieser Sache in etwas ihr Recht überschritten« (S. 183 f.). Auch vertritt er die Ansicht, man solle Ketzer und Abtrünnige mit Gewalt in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückführen (S. 190 f.).

Die Propaganda hat die Aufgabe, Missionare auszubilden und ihre Zöglinge genießen besondere Auszeichnungen. Die von Kardinal Hergenröther herausgegebene Enzyklopädie der katholischen Theologie sagt zum Ruhme der Propaganda: »Noch mehr muß das Institut eine Zierde in den Augen derjenigen sein, welche zu ermessen wissen, was seine Zöglinge seit der Gründung des Hauses Großartiges geleistet haben zur Erfüllung des Wortes: Eunte docete omnes gentes – Gehet und lehret alle Völker –, nicht bloß unter schweißvoller apostolischer Arbeit, sondern auch mit dem Opfer des Blutes.«

Daß letzteres gebracht wird, wenn auch wohl weniger von den Bekehrern, als von den Bekehrten, darüber können wir uns nach Lépiciers Ausführungen beruhigen.

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Doch wir wollen unsere Blicke abwenden von mittelalterlicher Beschränktheit, wie sie in diesen Anschauungen sich äußert und wie sie auch die klugen Jesuiten[174] heute nicht mehr vertreten. Erbauen wir uns lieber am Beispiel eines ebenso frommen, wie aufgeklärten Mannes, dessen Name in Deutschland genannt wird, wenn es gilt, einen Zeugen für die Wohlvereinbarkeit strenger Kirchlichkeit mit wahrhaft modernem Empfinden aufzurufen. Wir meinen natürlich den Kardinal Fischer in Köln. Durchdrungen von wahrhaft sittlichem Geiste, Catos Vorbild nachahmend, doch, was sage ich, überflügelnd, verbot er den Klosterschwestern zu – baden! Diese hochmoralische Bestimmung ist heute noch in Kraft. Richten wir unsere Herzen auf an diesem Beispiel wahrer Frömmigkeit und Keuschheit![175]

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Ja, wir sind wahrhaft fromm. In der Schule beginnt der innere Drang, später sorgen Staat und Kirche dafür, daß das Feuer weiterglimmt, ja lodert. Oder geht das nicht zwingend daraus hervor, daß es uns nicht genügt, wenn ein Mathematiklehrer Mathematik versteht, sondern daß er auch in der Religion beschlagen sein muß? Kann man sich überhaupt etwas Gräßlicheres denken als ketzerische Mathematik oder – fast gerade so schlimm – Mathematik, vorgetragen von einem Ketzer? So denken auch manche deutsche Staaten, vor allem Preußen, und fordern deshalb vom Lehramtskandidaten der Mathematik und der Naturwissenschaften ein Examen in der Religionslehre zum Beweise dafür, daß er auch gut – heucheln kann.

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Doch nix genaues weiß man nicht – auch nicht darüber, ob die Kinder zeitlebens der Mutter Kirche mit der von einem herrschsüchtigen Klerus so sehr erwünschten Treue anhängen werden. Deshalb ist es gut, sich rechtzeitig vorzusehen. So dachte auch Bischof Benzler von Metz und erließ im Frühjahr 1909 einen Hirtenbrief gegen die Mischehen. Priester sind nun einmal – das bringt das Amt so mit sich – friedfertige Leute, und besonders die Männer, die Christi Namen täglich hundertmal im Munde führen, zeichnen sich durch Sanftmut vor andern Sterblichen aus. Sie suchen Trennendes zu überbrücken, Gegensätze zu mildern. Gesellt sich nun zur christlichen Liebe auch noch die fürs Vaterland, die Einsicht, daß die Blutbäder und brennenden Städte in Deutschlands Vergangenheit uns für alle Zeiten ein Memento zurufen, wohin konfessioneller Hader führt, dann werden wir des glaubensstarken Bischofs Hirtenbrief doppelt zu schätzen wissen.

Er empfiehlt darin wärmstens eine »Eine verbotene Frucht« betitelte Schrift. Hier wird den Pfarrern geraten, sie möchten am Kommunionstage den Kindern die schriftliche Erklärung abfordern: »Ich verspreche an diesem schönsten Tage meines Lebens, daß ich niemals eine gemischte Ehe eingehen werde«!!!

Die so vergewaltigten Kinder sind elf bis dreizehn Jahre alt!

Um aber auch im späteren Alter den Gefahren der Verseuchung oder Ansteckung durch Andersgläubige – hu! – möglichst wenig ausgesetzt zu sein, gründet man konfessionelle Klubs. So etablierte sich vor etlichen Jahren in Kissingen ein Kränzchen katholischer Kurgäste, und neuerdings tat sich auch in Juist eine Vereinigung katholischer Kurgäste, ein katholischer Strandklub auf.[176]

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An den bayerischen Gymnasien herrscht Kirchenzwang. Er gründet sich auf den letzten Passus des § 1 der »Disziplinarsatzungen für die Schüler der Studienanstalten im Königreich Bayern«, mit dem harmlosen Wortlaut: »Religiosität betätige der Schüler in seinem ganzen Lebenswandel, insbesondere auch in der Ausübung der religiösen Pflichten seines Bekenntnisses.

Alle Sonn- und Feiertage haben die Schüler dem Gottesdienst ihrer Konfession mit Andacht beizuwohnen.«

Die Forderung der erzwungenen »Andacht« bringt wenigstens eine humoristische Note in die Tragik der Anwendung des Paragraphen unter ultramontaner Herrschaft. Denn sie ist barbarisch. Tagesausflüge ohne vorhergehende Genehmigung des Religionslehrers oder Konrektors sind unzulässig! Eine nachherige Erlaubnis wird nicht erteilt. Also ist der Familienvater, der wegen des schlechten Wetters am Samstag den projektierten Sonntagsausflug fallen ließ, nicht in der Lage, seinen Kindern doch die Erholung zu gönnen, wenn das Wetter sich aufheitert!

Ein Schüler wurde sogar bestraft, weil er einen anderen als den vorgeschriebenen Gottesdienst mitgemacht hatte!

Einem anderen wurde verboten, am Samstag zu seinem in der Nähe Münchens wohnenden Vater zu reisen, um wenigstens einen Tag wöchentlich im Elternhause zuzubringen. Und das, wiewohl sich der Vater für den Besuch der dortigen Messe verbürgte! So blieb dem armen Jungen nichts anderes übrig, als erst nach dem sonntäglichen Gottesdienst zu fahren.

Im Jahre 1906 mußten die Schüler eines Realgymnasiums auf den zweitägigen Besuch der Landesausstellung in Nürnberg verzichten, weil der Professor keine Bürgschaft dafür übernehmen konnte, daß seine Zöglinge an beiden Feiertagen die Messe besuchen würden!

Wie in der bayerischen Abgeordnetenkammer festgestellt wurde, gibt es in der Pfalz ein Gymnasium, das eine höchst sinnreiche Kontrolle der Schüler eingeführt hat. Jeder erhält eine Karte, ähnlich den Abonnements bei den Friseuren. Verläßt der Schüler die Kirche nach absolviertem Gottesdienst, dann wird die Karte geknipst!

Und doch bestreitet der bekannte Staatsrechtslehrer Max von Seydel, daß hier ein Verstoß gegen die verfassungsmäßig garantierte Gewissensfreiheit vorliege. Das alles sei kein Zwang, denn niemand sei verpflichtet, sich der Staatsanstalten zu bedienen!

Der Gelehrte vergaß, daß nicht jeder als Vanderbild geboren ist.

Und doch ist das alles herzlichst zu begrüßen. Wird doch so eine Generation erzogen, die voller Begeisterung für die Trennung von Staat und Kirche eintreten wird.[177]

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Doch nicht nur die Seelen müssen vor ketzerischem Gift bewahrt werden. Wem es ernst mit seiner Religion ist, wer weiß, was er ihr schuldet, der macht hier nicht halt. Er breitet die liebenden Arme der Mutter Kirche auch über – Würste aus. So lesen wir in einer im März des Jahres 1910 im Tauber- und Frankenboten, einem in Tauberbischofsheim in Baden erscheinenden ultramontanen Intelligenzblatt: »... auch das kaufende Publikum soll darauf sehen, daß es seine Ware bei Bäckern, Metzgern und Kaufleuten in Zentrumsblättern eingepackt bekommt

Zum Verpacken der Würste mögen sich diese Geistesprodukte allenfalls noch eignen.

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Im Jahre 1908 (das Jahrhundert ist zu beachten!) erschien im Verlage von Ludwig Auer in Donauwörth unter dem Titel »Die Ehe; eine Unterweisung über die sittlichen, religiösen und hygienischen Pflichten für Erwachsene, besonders für Braut- und Eheleute« ein Buch, das mit dem bischöflichen Imprimatur der Augusta Vindelicorum vom 13. Februar 1908 (Generalvikar Dr. Göbl) versehen ist, in elfter Auflage.

In diesem frommen Werke wird natürlich auch auf die Wichtigkeit der Nottaufe hingewiesen (S. 218 ff.), sowie auf die Maßregeln, die zu ergreifen sind, wenn ein Kind bei der Geburt zu sterben droht. Seine Seele muß doch davor bewahrt werden, ins Fegefeuer zu kommen!

Jeder sogenannte Abgang, mag er noch so unförmlich sein und vielleicht auch gar keine Gestalt haben, ist nur ein verbildetes Menschenwesen und seine Seele ist für den Himmel bestimmt. Ist der Abgang der Fehlgeburt auch klein und weiß man auch nicht, ob das Wesen noch lebt, so öffne man die dasselbe umgebende Hauthülle und tauche es in das Wasser, wobei man die Taufworte spricht und die Bedingung beifügt: »Wenn du lebst.« Diese Nottaufe bewirkt geistliche Verwandtschaft, die ein Ehehindernis bildet!

Wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes wird die Schrift von J. Neth »Die Verwaltung des Priesteramtes« wörtlich zitiert. Sie lautet:

»Wenn bei schweren Geburten zu besorgen steht, es möchte das Kind sterben, ehe es vollkommen geboren wird, und wenn es möglich wird, demselben mit Wasser beizukommen, so taufet es im Mutterleibe mittels einer Röhre oder Spritze, wie sie jede Hebamme haben soll, oder durch einen Schwamm, den ihr über das Kind im Mutterleibe auspreßt, und sprechet dabei die Worte: ›Wenn du der Taufe fähig bist, usw....‹ Sollte es sich ereignen, daß nach gespendeter Taufe im Mutterleibe zwei oder mehrere Kinder zur Welt kommen, so daß man nicht weiß, welches von ihnen die Taufe im Mutterleibe empfangen habe, so müßt ihr jedes derselben bedingungsweise »Wenn du nicht schon getauft bist«... wiedertaufen«.

Diese Anweisungen sind dem gewissenhaften Verfasser des Ehebüchleins anscheinend nicht ausführlich genug. Sein Geist (sit venia verbo!) treibt ihn daher, zu der bezeichneten Stelle des Textes folgende Anmerkung zu setzen, deren Wert nur der nicht zu würdigen versteht, der allen Christentumes bar ist.

Sie lautet: »Das ist übrigens von Unkundigen kaum durchführbar. Es müssen ja die das Kind umgebenden Eihäute zuerst zerrissen sein, damit das Taufwasser das Kind treffe und nicht die Eihäute. Da könnte man leicht eine Verletzung hervorrufen. Die Taufe im Mutterleibe, von nicht genau unterrichteten Personen vorgenommen, hat einen sehr zweifelhaften Wert, und ist wohl nie Gewißheit gegeben, ob das Kind wirklich getauft ist. Erst wenn der Kopf teilweise geboren ist, resp. sichtbar ist, kann er vom Schleim gesäubert werden und weiß man, daß das Taufwasser auch wirklich das Kind trifft.«

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Aber nicht nur fürs Seelenheil des präsumptiven Täuflings, auch für das Wohl der Mutter ist der gewissenhafte Autor besorgt, denn er gibt die hygienische Vorschrift: »Um die Gefahr einer Infektion zu vermeiden, muß das Wasser abgekocht und ganz rein sein; desgleichen das zur Verwendung kommende Instrument.«

Welche Fülle von Frömmigkeit, gepaart mit weltlicher Weisheit, lebt doch unter uns! Aber in dieser gottlosen Zeit muß der wahre Christ das Tageslicht scheuen, damit dort glaubensloses Gesindel (†††) Unfug treibt und der christkatholischen Menschheit ein Dorn im Auge ist. Darum wählte der Verfasser die Anonymität. Schade, wir hätten ihn so gerne mit dem Höllentopographen Professor Bautz künftiger Heiligsprechung empfohlen.

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