Die Mutter der Jugović.

Im Pašalyk Prizren in Altserbien siedelte im Jahre 1891 in aller Stille die osmanische Regierung einige tausend Juden an, die aus dem strenggläubigen, heiligen Russland zur Auswanderung gedrängt worden waren. Wie lange werden die Neusiedler und deren Nachkommen dort in Frieden leben dürfen? Wer weiss es? Schon schielen manche Diplomaten mit ländergierigen Augen nach jenem wunderbar gesegneten Landstrich hin, der zwar noch immer Altserbien genannt, doch derzeit vorwiegend von Albanesen und Bulgaren bewohnt wird. Die Serben namentlich erheben historische Rechtansprüche auf den Besitz des Kosovo polje, des schiefen Feldes oder der Leiten, wie man gut deutsch so ein Gebiet nennt, einer überaus fruchtbaren Hochebene von 70 km Länge und 30 km Breite. Mit Unrecht heisst man das Feld Amselfeld, als ob der slavische Name Kos polje lautete. Nicht durch Amselgesang erlangte jene Hochebene grosse Berühmtheit, sondern durch Abschlachtungen, die sehr gläubige Moslimen und sehr gläubige Christen untereinander auf dem breiten Plane veranstalteten. Berühmt ist der 15. Juni 1389, denn an jenem Tage zertrat Murad I. und sein Sohn Bajazit auf den Leiten die gesamte Serbenmacht und das Serbenreich. Und am 17. bis zum 19. Oktober 1448 zermalmte Murat II. zwischen Priština und Vučitrn das Heer Johann Hunyadis.

Mit unauslöschlichen Zügen prägte sich die Erinnerung an diese zwei Massenniedermetzelungen dem Gedächtnisse der Serben und Bulgaren ein. Noch jetzt zehrt der Patriotismus und Chauvinismus der serbischen Politiker von jenen Niederlagen und er wird sich schwerlich eher beruhigen, als bis eine noch grössere Fremdeninvasion diese alte Geschichte gegenstandlos machen wird. Dem Bauernvolke darf man keinerlei politische Auslegungen seiner Erinnerungen an jene Vorfälle unterschieben; denn ihm sind die Berichte der Guslaren nichts mehr und nichts weniger als hübsche Sagen, die man zum Zeitvertreib anhört. Selbst der Volkforscher kann die einschlägigen Guslarenlieder nur als Sagen auffassen und muss ihnen so gut wie jede pragmatisch historische Bedeutung absprechen. Sie sind ihm nicht viel anderes als ein Ausdruck geistiger Gestaltungkraft der Volkseele, deren Dolmetsche namenlose, weil vergessene Dichter aus dem Volke und Bewahrer der Rede Guslaren sind.

Eine alte Sage (man muss sie sich erst aus Bruchstücken neu zusammensetzen) erzählt von den Bewohnern der Burg Zvečan bei Mitrovica in Altserbien. Dort hauste in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts der serbische Ritter Jug Bogdan (Süd Theodor) mit seiner würdigen Gattin, einem Töchterlein und neun Söhnen, die nach ihm Südsöhne (Jugovići) hiessen. Er war ein mächtiger Streiter, wohlgeübt und erfahren in Mordtaten jeglicher Art, und seine Söhne gerieten ihm nach. Die Tochter Milica verheiratete er an den Landfürsten Lazar und seinen Söhnen verschaffte er Genossinnen in die Hausgemeinschaft. Er war daher zu Hofe und im Reiche gar geehrt und angesehen. Kurz vor der Schlacht auf den Leiten feiert Lazar der Serbenfürst sein Sippenfest1:

Die Herren setzt er an die Tafelrunde,

die Herren und die Ritter allzumal;

zur rechten Hand den greisen Jug Bogdan,

neun Jugović, die Söhne neben ihm.

5— — — — — — — — — —

Den goldnen Becher Wein ergreift der Kaiser

und spricht zur Ritterschaft von Serbien:

— Auf wessen Wohl bring dieses Glas ich aus?

Bring ich’s der Alterschaft zu Ehren aus,

10dann trink ich zu dem greisen Jug Bogdan.

In der Nacht vor dem Auszug der Serben in den Kampf träumt die Fürstin Milica einen garstigen Traum vom Untergang des Heeres, von Schmach und bitterer Qual. Mit angstgepresstem Gemüte wendet sie sich an ihren gekrönten Ehgemahl2:

— O könnt ich nur, Gebieter mein, von dir mir eins erflehen,

dass du mir von den Jugović zurück doch einen liessest!

Wenn schlimmer Zufall irgendwie auf den Leiten walten sollte,

dass ich den Stamm der Jugović für immer nicht verlöre!

5Da sprach zur Fürstin Milica also zur Antwort Lazar:

— Ich kann dir von den Jugović zurück nicht einen lassen.

In Treuen sie gelobten es vom Ungarland dem König,

selbst sänke wohl der Himmel nieder auf die schwarze Heldenerde,

sie täten fangen auf ihn kühn auf ihre Schlachtenspeere.

Nach der Niederlage auf den Leiten zerstoben die Überreste der Armee. Das Guslarenlied erzählt3, Kaiserin Milica sei mit ihren zwei Prinzesschen von Ahnungen geängstigt vom Schloss herabgeeilt, um Kunde über den Ausgang der Entscheidungschlacht zu erlangen. Herzog Vladeta kommt flüchtend hoch auf braunem Renner ihr entgegen. Sie befragt ihn unter anderem:

— So künd mir noch, o du des Fürsten Herzog,

da auf den ebnen Leiten du gewesen,

sahst du nicht wo neun Jugovićen dort,

als zehnten auch den greisen Jug Bogdan?

5Da spricht zu ihr Herr Vladeta, der Herzog:

— Wohl zog ich quer durchs ebne Leitenfeld

und sah die Jugovićen alle neun

und auch den zehnten, Jug Bogdan den Greis.

Sie kämpften mitten in dem Leitenfelde,

10die Arme bis zur Schulter ihnen blutig,

die Schwerter bis zum Griffe blutgebadet;

doch sanken schon ermattet ihre Hände

die Türken auf den Leiten niedermetzelnd.

Kaiserin Milicas Traum war doch in Erfüllung gegangen. Nachstehendes Lied, das ich am 8. Januar 1885 zu Mačkovac in Bosnien nach der Rezitation des Guslaren Gjoko Popović, eines eingewanderten Montenegrers, aufgezeichnet, schildert die Schlussszene der Tragödie. Ein Dichter, ein wahrhaft begnadeter Mensch, hat diese tiefergreifende Episode ausgedacht zur Verklärung unendlichen Mutterstolzes und rätselhafter Mutterliebe. Die Mutter findet ihre Söhne tot auf dem Leichenfelde, und ohne Klagen kehrt sie heim, um ihre Schwiegertöchter und Enkel nicht mit der Trauerbotschaft in Jammer zu versetzen. Ihren eigenen Schmerz ringt sie nieder. Erst als sie die rechte Hand ihres jüngsten Sohnes mit dem Trauring am Finger auf dem Schosse hält, macht sich ihr Schmerz in Worten Luft.

Boga moli Jugovića majka, Der Jugovićen Mutter fleht zu Gott,
da joj Bog da oči sokolove es mög ihr Falkenaugen Gott verleihen
i bijela krila labudova, und weisse Schwanenfittiche gewähren,
da otide na Kosovo ravno auf dass sie auf die ebnen Leiten ziehe
5 i da vidi devet Jugovića. und dort erschau neun Brüder Jugović.
Što molila Boga domolila. Um was zu Gott sie flehte, sie erfleht’ es.
Bog joj dade oči sokolove Es tat ihr Falkenaugen Gott verleihen
i bijela krila labudova; und weisse Schwanenfittiche gewähren;
ona ide na Kosovo ravno. sie zog dahin aufs ebne Leitengeben.
10 Mrtvih nagje devet Jugovića Neun tote Jugovićen fand sie vor,
i više njih devet bojnih kopja, neun Schlachtenspeere ober ihren Häupten,
za kopljima devet dobrih konja, neun gute Rosse hinter all den Speeren,
na kopljima devet sokolova neun Falken auf den Speeren oben sitzend,
i više njih devet ljutih lava. neun Löwen grimmig ober ihnen noch.
15 Tad zanjišta devet dobrih konja Neun gute Rosse huben an zu wiehern,
i zaklika devet sokolova neun Falken stiessen wilde Rufe aus,
i zalaja devet ljutih lava. neun Löwen grimmig fingen an zu bellen.
I tu majka tvrda srca bila, Auch da verharrt der Mutter Herze hart,
da ot srca suze ne pustila; dass ihr vom Herzen keine Zähre kam;
20 već uzima devet dobrih konja sie nahm mit sich neun gute Rosse mit
i uzima devet sokolova und nahm mit sich neun Falkenvögel mit
i uzima devet ljutih lava und nahm mit sich neun Löwen grimmig mit
pa ih vodi svome bjelu dvoru. und holt sie heim zu ihrem weissen Hofe.
Daleko je snaje ugledale Von weitem schon erschauten sie die Schnuren
25 a dilje su prid nju išetale. und eilten zum Empfang ihr weit entgegen.
Zakukalo devet udovica, Neun Witwen schrieen: ‘Weh zu leidigen Tagen!’
zaplakalo devet sirotica. neun Waisenkindlein weinten Jammerklagen.
I tu majka tvrda srca bila, Auch da verharrt der Mutter Herze hart,
da ot srca suze ne pustila. dass ihr vom Herzen keine Zähre kam.
30 Kad je bilo noći u ponoći Als Nacht es ward um Mitternacht herum,
tad zavrišta Damjanov zelenko. schrie wehvoll auf der Apfelschimmel Damjans.
Viče majka ljubu Damjanovu: Die Mutter ruft des Damjans Ehelieb:
— Snavo moja ljubo Damjanova, — O meine Schnur, o Damjans Eheliebste,
što nam vrišti Damjanov zelenko? was schreit so leidig Damjans Apfelschimmel?
35 Il je gladan šenice bjelice quält Hunger ihn nach weisser Weizenfrucht?
il je žedan vode sa Zvečana? leicht lechzt er durstig nach dem Zvečanquell?
Progovara ljuba Damjanova: Zur Antwort gibt des Damjans Eheliebste:
— Svekrvice majka Damjanova! — Lieb Schwiegermütterlein, du Mutter Damjans!
nit je gladan šenice bjelice, es quält kein Hunger ihn nach weissem Weizen,
40 nit je žedan vode sa Zvečana, er lechzt nicht durstig nach dem Zvečanquell,
već je njega Damjan naučio vielmehr, es hatt’ ihn Damjan angewöhnt
do po noći sitnu zob zobati, bis Mitternacht an feine Haferatzung,
ot po noći na drum putovati. von Mitternacht zu reisen auf der Strasse.
Kad u jutro jutro osvanulo, Als morgens früh der Morgen angekommen,
45 osvanulo i sunce granulo, gekommen und der Sonne Licht erglommen,
ali lete dva vrana gavrana, zwei schwarze Raben kamen hergeflogen,
krvava im krila do ramena, die Flügel bis zum Leibe blutgerötet
na kljunove bjela pjena trgla; und ihren Schnäbeln weisser Schaum entquoll;
oni nose ruku od junaka, sie trugen eines Helden Hand daher,
50 na ruci je burma pozlaćena, ein Trauungring vergoldet an der Hand;
bacaju je u krioce majci. sie warfen sie der Mutter in den Schoss.
Uze majka ruku od junaka Des Helden Hand die Mutter nahm entgegen
pa dozivlje ljubu Damjanovu: und rief herbei des Damjans Ehelieb;
— Snaho moja ljubo Damjanova! — O meine Schnur, o Damjans Ehelieb!
55 bi l poznala čija j ovo ruka? wess Hand dies ist, vermöchtest du’s zu sagen?
Al govori ljuba Damjanova: Doch spricht zu ihr des Damjans Ehelieb:
— Svekrvice majko Damjanova! — O Schwiegermütterlein, o Mutter Damjans!
ovo ruka našega Damjana, die Hand dahier gehört ja unserm Damjan,
jer ja ruku po burmi poznajem, denn ich erkenn am Trauungring die Hand,
60 sa mnom burma na vjenčanju bila. der Trauring war mit mir bei meiner Trauung.
Uze majka ruku Damjanovu Des Damjans Hand die Mutter wieder nahm
pa je ruci tijo beśjedila: und führte leise Rede mit der Hand:
— Ruko moja zelena jabuko! — O meine Hand, o du mein grüner Apfel!
Gdi si rasla, gdi si ustrgnuta? wo wuchsest du? wo hat man dich gepflückt?
65 Ti si rasla na kriocu mome, Du bist auf meinem weichen Schoss gewachsen,
ustrgnuta na polju Kosovu! man hat gepflückt dich auf dem Leitenfeld!

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