Eines Morgens befahl mir Signor Ambrosio mich anzukleiden und ihm in die nächste Kirche zu folgen. Er sagte mir:
„Aimé, ich werde Euch ein grosses Geheimnis enthüllen, welches das Glück Eures Lebens werden kann; vorher jedoch muss ich Gewissheit haben, dass Ihr dieses Geheimnis niemand verraten werdet, deshalb werdet Ihr mir vor dem Altar ein Schriftstück vorlesen, das ich bei mir in der Tasche trage.“
Die gewisse Feierlichkeit, mit der diese einleitenden Worte vorgetragen wurden, die halbdunkele Kirche mit ihren wenigen Betern, der erste Ausgang nach ziemlich langer Zimmerhaft, das alles hatte mich selbst in gehobene Stimmung versetzt. In der Kirche, beim Altar, wo die ewige Lampe vor den geweihten Gaben des heiligen Abendmahles brannte, las ich das Folgende:
„Ich, Jean, Aimé, Ulysse, Bartholomé schwöre vor unserem Herrn Jesus Christus, seiner heiligen Mutter, der heiligen Jungfrau Maria und allen Heiligen, ewiges Schweigen darüber zu bewahren, was ich vom ehrenwerten Signor Ambrosio, Pietro, Ieronymo Scalzarocca erfahren werde, und niemand, weder Bruder, noch Vater, noch Sohn, noch Mutter, noch Schwester, noch Tochter, noch Onkel, noch Neffen, noch sonst einem Verwandten oder einer Verwandten, keinem Freunde, keinem Manne und keiner Frau dasselbe eröffnen, noch mit mir selber, weder mündlich noch schriftlich darüber sprechen, auch nicht sagen werde: „ich könnte etwas erzählen, wenn ich nicht durch ein Versprechen gebunden wäre“, oder: „ich weiss etwas“, oder andere Andeutungen machen werde. Möge Gottes Strafe mich, als einen Eidbrüchigen, treffen, möge ich der Seligkeit des Paradieses verlustig gehen, wenn ich diesen Schwur nicht halte, den ich vor den geweihten Gaben des heiligen Abendmahles, dem unbefleckten Leibe des Herrn, leiste, am Tage der Märtyrer, der Päpste Clytus und Marcellinus, im Monat Aprilis, am sechsundzwanzigsten Tage, zu Venedig. Amen. Das zu halten gelobe ich, Jean, Aimé, Ulysse, Bartholomé. Und alles das ist wahr, wie die ewige Seligkeit der gerechten Seelen und die ewigen Martern der reuelosen Sünder wahr sind. Amen, amen, amen.“
Wir gingen schweigend nach Hause. Nachdem Signor Ambrosio mich in ein kleines dunkeles Zimmer, eine Art Ablegeraum, geführt hatte, zündete er eine Laterne an. Ich erblickte eine ganze Kette von Rädern, Hebeln, Achsen, die allem Anschein nach auf irgendeine geheime Art mit dem Nebenzimmer in Zusammenhang gebracht waren. Die alte Ursula setzte diese Räder mit grosser Anstrengung mittels eines Griffes in Bewegung, wobei ihr der Schweiss in Strömen von der Stirn floss. Ambrosio begann wieder mit einer gewissen Wichtigkeit auf dem pockennarbigen Gesichte:
„Höre, Aimé, ich teile mein grösstes Geheimnis mit dir. Siehst du, diese ganze Anlage ist ein Schritt zum grossen Perpetuum mobile; jedoch der letzte Schritt ist noch nicht getan. Noch fehlt dem grössten Werke des menschlichen Genius die Krone. Den Leuten aber, deren Spott kleinmütig macht, will ich das Werk bereits in der äusseren Gestalt seiner künftigen Vollkommenheit zeigen. Einstweilen ersetzen deshalb meine eigenen Hände, die schwachen Arme dieser alten, mir ergebenen Frau, und von jetzt ab auch die deinen, mein Sohn, den ewigen Stoss der Bewegung.“ Er umarmte mich begeistert, während die schweisstriefende Ursula leise stöhnte.
Bald hatte ich alles erfahren: die Signorine, Bianca und Catharina, waren Hellseherinnen, die täglich von Signor Scalzarocca in magischen Schlaf versenkt wurden, der bekanntlich die menschlichen Fähigkeiten so wundersamer Weise schärft. Diese ihre Fähigkeit benutzte Scalzarocca zu Wahrsagungen und zur Beantwortung von allen möglichen Fragen. Ausser dieser Beschäftigung und der mit dem Perpetuum mobile, trieb er noch Alchemie, zu welchem Zwecke er sich täglich für zwei, drei Stunden ganz allein, selbst ohne mich, den er doch in die Elemente der Magie und der Stellung des Horoskopes einzuführen begonnen hatte, in ein entlegenes Zimmer zurückzog. Ich kam selten aus dem Hause. Bald musste ich das Perpetuum mobile drehen, bald sass ich bei den Damen oder las im Albertus Magnus.