V.

Phyllis sass auf der Schwelle des Hauses und las die Papyrusrollen, die Nektanebes eben gebracht hatte, und auf denen von der Hand des Schreibers aufgezeichnet stand: „Elegie der Phyllis, der unglücklichen Tochter des Palemon“. Sie sass gebeugt da und hörte nicht, wie die Sklaven mit Zubern voll frischgemolkener Milch vorübergingen, wie der Gärtner die Blumen beschnitt, wie das Hündchen, einen hüpfenden Frosch verfolgend, bellte, und wie in der Ferne die Schnitterinnen ein wehmütiges Lied sangen. Die Zeilen zogen an ihrem Auge vorüber und die Erinnerung an ihre vergangenen Qualen legte sich wiederum, wie Nebel, auf ihre sorglosen Augen.

Eltern, liebe Eltern,

Vater und Mutter mein,

viel habt ihr mir hinterlassen:

bunte Gewänder,

weisse Pferde,

gewundene Spangen, —

aber lieber, als alles,

hab ich den grellroten Schleier

mit den singenden Phönixen.

Eltern, liebe Eltern,

Vater und Mutter mein,

viel habt ihr mir hinterlassen:

Land und Vieh:

starkfüssige Ziegen,

starkstirnige Schafe,

steilhörnige Kühe,

Mäuler und Stiere,

aber lieber, als alle,

ist mir mein weisser Tauber

mit dem schwarzbraunen Fleck:

ich nannt’ ihn „Katamitos“.

Eltern, liebe Eltern,

Vater und Mutter mein,

viel habt ihr mir hinterlassen:

treue Diener:

Gemüse- und Blumengärtner,

Weber und Spinner,

Metbrauer und Bäcker,

Narren und Flötenspieler,

aber lieber, als alle,

hab ich die Alte,

meine liebe Amme.

Lieb hab ich die Amme,

lieb ist der Tauber mir,

lieb auch mein Schleier,

aber mehr noch lieb ich den Garten.

Er zieht sich, er zieht sich

zum Fluss hinab, unser Garten,

flussaufwärts, flussaufwärts,

da wohnt hoch am Ufer mein Freund.

Ich kann ihm nicht senden, kann ihm nicht senden

ein Blümlein von mir,

es bringen meinen Gruss ihm, meinen Gruss ihm

die Fergen hinauf.

Und weiter stand geschrieben:

Am Morgen sprach die Amme zu mir:

— was willst du’s der Alten verhehlen —

den ganzen Tag zerpflückst du fragend die Blumen,

Quitten unterscheidest du von Äpfeln nicht mehr,

Du nähst nicht, du stickst nicht,

küssest zärtlich den bunten Tauber

und nachts hör ich dich flüstern: „Pankratius“.

Und weiter stand geschrieben:

Was soll ich erwählen, liebe Gespielinnen:

soll ich dem grausamen Freunde noch einmal mein Lieben gestehen,

oder soll ich in den schnellfliessenden Bach mich stürzen?

Gleich schwer ist jeder der Wege,

aber schwerer ist der erste —

wie werd’ ich erröten müssen und stammeln.

Und weiter stand geschrieben:

Am Morgen steht die Purpursonne auf

und du gehst an dein Tagwerk,

wer dich daherkommen sieht,

der denkt sich: „stolzer Pankratius“ —

und die bleiche Phyllis ist nicht mehr!

In den Baumgängen wirst du lustwandeln,

mit den Freunden wirst du im Philo lesen,

Diskus werfen wirst du und Wettlaufen —

alle sagen: „schöner Pankratius“ —

und die bleiche Phyllis ist nicht mehr!

Du kehrst zurück in dein kühles Haus,

badest dich in duftigen Wassern,

mit dem Knaben spielst du dann Ball,

und schläfst ruhig ein bis zum Morgen

und denkst: „glücklicher Pankratius“ —

und die bleiche Phyllis ist nicht mehr!

Und es stand noch viel geschrieben, so dass das Mädchen, seufzend und über seine eigenen Worte Tränen vergiessend, bis zum späten Abend las.

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