II.

Der Arzt schwieg eine Weile und fragte:

„Mit welch einem Zustande hat der deinige am meisten Ähnlichkeit, Herr?“

„Ich kenne den Zustand eines Menschen nicht, der ins Gefängnis geworfen worden ist, aber ich glaube, dass der meinige diesem am nächsten kommt. Seit einiger Zeit fühle ich mich in meinen Bewegungen behindert, die Willensfreiheit selbst scheint beschränkt; ich will gehen und kann nicht, will atmen und ersticke, mich beherrscht eine dunkle Unruhe und unbestimmte Angst.“

Florus schwieg, als sei er ermüdet, und erbleichend, begann er wieder:

„Vielleicht wirkt auf meine Vorstellung vom Gefängnis ein Traum, den ich vor Ausbruch meiner Krankheit hatte.“

„Du hattest einen Traum?“

„Ja, einen so deutlichen, handgreiflichen! Und sonderbar: es ist, als hätte er bis jetzt nicht aufgehört, und wenn ich wünschte (davon bin ich überzeugt), könnte ich ihn ununterbrochen weiter träumen und dich, mein Freund, für ein Gespenst halten.“

„Wird es dich aufregen, wenn du ihn mir erzählst?“

„Nein, nein!“ wiederholte Ämilius hastig, die Schweisstropfen fortwischend, die an seiner Stirn hervorgetreten waren. Und er begann, als mache es ihm Mühe, sich zu erinnern, abgerissen zu sprechen, und bald hob sich seine Stimme zu lautem Schreien, bald sank sie zu raunendem Flüstern herab:

„Sage es niemand, was du hören wirst . . . schwöre es . . . . vielleicht ist es gerade die Wahrheit. Ich weiss nicht . . . . ich habe gemordet — denke nichts . . . es war — dort, im Traume. Ich floh, lange irrte ich umher, ich nährte mich von Früchten (ich entsinne mich, es waren wilde Kirschen), stahl Brot, Milch geradewegs aus den Eutern der Kühe auf dem Felde. Ach, die Sonne brannte und betäubend war der Dunst der Sümpfe! Als ich durch das Hafentor ging, wurde ich, unter dem Verdacht ein Messer gestohlen zu haben, ergriffen. Ein hochgewachsener rothaariger Händler, (ja, „Titus“ nannten sie ihn), hielt mich fest: ich fühlte mich schwach und war fassungslos; ein rothaariges Frauenzimmer lachte laut, ein rotgelber Hund winselte zu meinen Füssen, auf dem Pflaster lag eine Nelke, gepanzerte Soldaten gingen vorüber . . . man schlug mich . . . die Sonne sengte. Dann Finsternis und stickige Kühle. O Kühle der Gärten, der klaren Quellen, des Bergwindes, wo bist du?“ . . .

Und Florus schwieg entkräftet und liess sein Haupt sinken. Der Arzt sagte: „Schlafe ein“, und ging hinaus zum Schaffner über den Kranken zu sprechen. Der stumme Knabe lauschte mit gierig geöffneten Augen und offenstehendem Munde. Gegen Abend rief Florus die alte Amme. Vor ihm kauernd sprach die Alte, die ihre Märchen und Kindheitserinnerungen erschöpft hatte, ohne Zusammenhang von dem, was ihre alten Augen gesehen und ihre taub werdenden Ohren gehört hatten. Sich in ihren Mantel wickelnd, zischelte sie mit zahnlosem Munde:

„Söhnchen, vor ein paar Tagen sah ich am Hafentor einen Mörder: er hielt das Messer in der Hand, aber sein Anblick war nicht fürchterlich; hell, ach, so hell waren seine Augen, dunkles Haar, wie ein Knabe sah er aus. Mein Schwager, der Händler Titus, hat ihn festgehalten . . .“

Florus schrie auf und packte sie am Arm:

„Hör auf! Hör auf! Geh! Titus? sagst du Titus, Hexe?“

Der Knabe stürzte, vom Geschrei erschreckt, ins Gemach.

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