VII.

Die letzten Scenen wurden ausgeführt, in dem kleinen Kreise berathen und nach wenigen Aenderungen gebilligt. Das Stück war fertig.

Für die nächsten Tage hatte der Autor nun den Genuß, das vollendete Werk nochmal zu übergehen und im Einzelnen durchzubilden. Es gehört dieß, wenn der Organismus im Wesentlichen gelungen ist, zu den angenehmsten Arbeiten, und Heinrich schlürfte denn auch die Neige der Schöpferfreuden con amore. Wie aber auf Erden kein Glück rein bleiben soll, so wurde auch in den süßen Trank dieser Tage ein bitterer Tropfen geworfen, der ihn ärgerlich vergällte.

Unser Poet hatte den satirischen Roman seines guten Freundes Dorn schon vor Monaten zu lesen begonnen, aber sich nicht damit befreunden können. Er fand den Witz vielfach gezwungen und die Bosheit des Autors, auch wo sie das Schlechte geißelte, zu direkt und gehässig, als daß er mit ihr hätte sympathisiren können. Der Geist, der das Opus eingegeben hatte (dieß erkannte er aus den ersten Kapiteln), war der Geist der Rache und der Schadenfreude, blinder Leidenschaften, denen nichts Wohlthuendes gelingen kann. Einzelne Treffer ergötzten ihn freilich, die Neugier wurde rege erhalten, aber das Gelesene hinterließ keinen guten Eindruck und das Buch erzeugte in Heinrich zuletzt einen förmlichen Widerwillen, so daß er es, noch nicht in die Mitte gekommen, bei Seite warf.

Als Dorn sich gelegentlich einmal darnach erkundigte, fühlte der etwas Befangene die Nöthigung, ebenso den guten Bekannten wie die Wahrheit zu schonen, und sagte darum: er habe sich mit großem Interesse hineingelesen, könne aber einen so stark gewürzten Trank nur in kleineren Dosen zu sich nehmen, und müsse sich noch eine Frist ausbitten. Der Autor, durch diese Erklärung nicht übermäßig zufriedengestellt, machte doch gute Miene, und man trennte sich unter kameradschaftlichen Versicherungen.

Nach der Vollendung seines Dramas erkannte der Poet, daß er das Beißen in den sauern Apfel nicht länger verschieben könne; er nahm das Buch eines Abends vor und verschluckte den Rest heroisch. Aber er konnte das frühere Urtheil nur bestätigen. Ergötzlich im Einzelnen — nicht allzuhäufig —, unerquicklich im Ganzen; von der Schneide des Hohnes Rügenswerthes, Verwerfliches, aber auch Gutes, ja Großes getroffen, das der Schreiber nur nicht begriff; ein Buch, das in einem Sinne zu besprechen, wie der Autor es wünschte, für Heinrich ganz und gar unmöglich war.

Kurz nach Gewinnung dieser Ansicht traf er wieder mit Dorn zusammen. Er theilte ihm auf Befragen das Neueste über sein Stück und seine Hoffnungen mit, und der Feuilletonist gratulirte mit sichtlicher Zurückhaltung; dann sagte er: „Wie haben wir’s aber mit unserem Roman? Jetzt werden Sie ihn doch wohl gelesen haben!“ — „Freilich,“ erwiederte Heinrich mit einer gewissen Hast. „Er hat mich interessirt bis zu Ende. Sie haben darin Hiebe ausgetheilt, die ich den Getroffenen von Herzen gegönnt habe. Läugnen will ich aber nicht, daß ich auch auf Angriffe gestoßen bin, die ich durchaus nicht unterschreiben möchte.“ — „So?“ entgegnete der Andere. — „Nun,“ fuhr er nach kurzem Schweigen fort, „im Grunde ist das natürlich, man kann nicht in allen Stücken gleich denken. Ihr Urtheil im Ganzen ist also?“ — „Daß das Buch von dem Publikum, für das es geschrieben ist, mit Nutzen und Vergnügen gelesen werden kann.“

Dieses bedingte Zugeständniß war an sich nicht darnach angethan, eine Autorseele zu befriedigen. Unser Poet aber, der sich bewußt war, daß der Roman eben so gut mit Schaden und Mißvergnügen gelesen werden könne, hatte es zum Ueberfluß mit einer gewissen Verlegenheit ausgesprochen, so daß die eingeschränkte Beistimmung noch dazu als abgenöthigt erschien. Dorn, dem sich dieß aufdrängte, betrachtete ihn mit verdächtigen Blicken. Er ging auf einen andern Gegenstand über, machte seinem Herzen in scharfen Bemerkungen über Abwesende Luft, und sagte zuletzt mit einem Lächeln „Guten Tag,“ das nichts Gutes zu bedeuten schien.

Heinrich gehörte zu den Menschen, die nicht gern eine Schuld unbezahlt lassen, und er überlegte daher ernstlich, ob nicht eine Form auszudenken wäre, in der er, ohne der Gerechtigkeit eben in’s Angesicht zu schlagen, dem Autor, der ihn öffentlich gelobt hatte, doch auch einen Dienst erweisen könnte. Allein er fand keine, und dieß beunruhigte ihn sehr und trübte das Glück der schönen Tage. Endlich rief er: „Zum Henker mit dieser Affaire! Gehen wir auf die Hauptsache los, und wenn sie erreicht, dem Kritikus Respekt eingeflößt ist, dann wird ihn eine Gefälligkeit zufrieden stellen, die ich ihm ohne Gewissensbisse erweisen kann!“

Im Nachklang dieses heroischen Entschlusses vollendete Heinrich die Revision und stellte ein reinliches Manuscript her.

Als er den Freundinnen ankündigte, daß er das Stück sofort einreichen könne, schüttelte Rosa den Kopf. „Vorher,“ sagte sie, „muß noch was Anderes geschehen. Die Regisseure und Doctor Willmann sind Ihnen wahrhaft zugethan. Wir wollen diese Herrn zum Thee einladen, und Sie tragen ihnen dann Ihr Stück vor. Gut gelesen wird es nicht nur einen gewinnenden Eindruck machen, sondern auch zu Bemerkungen Anlaß geben, die Ihnen weiter nützlich werden können.“ — Heinrich, über die consequent liebevolle Sorgfalt erfreut, erklärte seine Zustimmung unter Worten des Dankes.

Am nächsten Sonnabend war die Gesellschaft in dem traulichen Zimmer versammelt. Man hatte sich cordial begrüßt, und unter dem Schlürfen des feinen Getränks nahmen bald gute Geister die Seelen ein. Der Poet hatte offenbar eine günstige Position. Konnten ihn nicht alle, wie er jetzt war, gewissermaßen als ihre Schöpfung ansprechen, und mußten sie sich daher nicht über alles ihm Gelungene freuen, als ob es von ihnen wäre? Er fühlte das auch, und der letzte Rest von Befangenheit wich aus seiner Seele.

Willmann, ihn betrachtend, sagte:„Hat unser Dramatiker in der letzten Zeit nicht geradezu ein anderes Aussehen bekommen? Sein Blick ist jetzt so menschlich, sein ganzes Wesen so vertrauenerweckend —“

„Sehr natürlich,“ fiel Berger ein. „Er ist herabgestiegen aus den ätherischen Höhen und Mensch geworden, indem er sich in wirkliche Menschen versetzte, und — menschlich gesinnt auch für uns Theaterleute — Rollen geschrieben hat, die man wirklich spielen kann — wie ich höre.“

„Die Welt,“ fuhr der Novellist heiter fort, „wird gesund, man kann nicht mehr daran zweifeln. Der Realismus erstarkt und macht eine bedeutsame Erwerbung nach der andern.“ — „Leben und Lebenlassen,“ rief der Regisseur, „das ist die Parole des Jahrhunderts! Sogar auf dem Theater, wo man sonst mit wohlklingenden Versen im Mund sich dem Tod in die Arme warf, daß die Bühne sich endlich mit Leichen bedeckte, wird es mehr und mehr Sitte, in schlichter Prosa zu guter Letzt sich um den Hals zu fallen und dem Publikum das wohlthuende Schauspiel verständiger Gemüther zu geben, die dem Glück entgegen gehen.“ Mit einem Blick auf Hallfeld, der launig den Mund rümpfte, fuhr er fort: „Der Herr College scheinen nicht ganz einverstanden zu seyn?“

„Doch,“ versetzte dieser. „Aber in eurem eigenen Interesse möcht’ ich euch Herrn rathen: übertreibt’s nicht mit eurer Prosa und eurem Lebenlassen! Denn sonst möchte das Publikum am Ende auch das genug kriegen und ihr könntet einen Rückfall erleben.“ — „O,“ rief Berger, „mir ist nicht bange!“ — „Man kann für nichts einstehen,“ erwiederte der Andere. Der Komiker sah ihn an, und da er, besonders vor einem Auditorium, zu necken und zu streiten liebte, fuhr er fort: „Sie kämpfen für Ihr scheinbares Gebiet, lieber College, aber Sie thun sich selber Unrecht. Ihr Spiel ist im Prosadialog so vorzüglich wie in der Versetragödie und für mich und Meinesgleichen noch viel erquickender. Es herrscht darin eine Natur, eine Frische —“ — „Bitte!“ rief Hallfeld. — „Also davon abgesehen! Sagen Sie mir nun in allem Ernst: was hat man eigentlich an einer versificirten Tragödie?“

„In allem Ernst?“ fragte Hallfeld erheitert. „Wollen Sie etwas Ernsthaftes hören?“ — „Oh,“ rief Berger mit einem Ton des Vorwurfs, „von Ihnen mit Freuden! Und gewiß alle hier Anwesenden?“ — „Ja wohl, ja wohl,“ riefen Heinrich und Rosa. — „Also, kurz gesprochen, was hat man davon?“ — Hallfeld erwiederte mit ruhigem Nachdruck: „Die Kunst.“ — „Die Kunst!“ wiederholte der Andere. „Sie meinen die Kunst im aparten Sinne, wo sie über die natürlichen Formen des wirklichen Lebens hinaus geht?“ — „Die Kunst in dem Sinn, wo sie über die Kleinheit, Gewöhnlichkeit und Dürftigkeit des wirklichen Lebens sich erhebt,“ entgegnete Hallfeld. „Die Kunst, die in eine Welt versetzt, wo das höhere Maß in der Ordnung ist und die Verse so natürlich klingen, wie im gewöhnlichen Leben die Prosa.“

„Das klingt sehr schön,“ erwiederte Berger, „und“ (setzte er lächelnd hinzu) „ungefähr so sagt’s der Herr Professor auch. Aber ich, als ein verstockter Realist, stelle mir die Sache selbst vor und muß Ihnen die Wirkung, die faktisch so oft mit angesehene Wirkung entgegen halten. Erlauben Sie mir eine kleine Charakteristik. Wir geben also eine versificirte Tragödie (denn um die Tragödie handelt sich’s) — was ist, kurz und bündig gesagt, der Effekt? Das Publikum — in nicht allzugroßer Zahl — sitzt erwartungsvoll, und die pathetischen Verse beginnen. Irgend eine Gräuelthat ist schon verübt oder wird verübt; zunächst mit glücklichem Erfolg. „Triumph“ ruft das Verbrechen, „Rache“ die Tugend. Man streitet, man tobt, man rast, wobei nicht selten das nervenerschütternde Spiel noch durch einen gräulichen Lärm hinter den Coulissen verstärkt wird. Der Frevler, unter dem Beistand höllischer Dämonen, wehrt sich verzweifelt. Endlich, krach, trifft ihn der Blitz, die Exekution gelingt, der Tod heimst ein, und der Vorhang fällt. Die Zuschauer, wenn sie mit ihren Gedanken nicht schon lange daheim oder im Wirthshause sind und die ganze, meist drei bis vier Stunden dauernde Handlung mitgeduldet haben, fühlen sich geschüttelt und gerüttelt, in dumpfe Verwirrung gesetzt, und gehen mit zerschlagenen Gliedern weg, trotz der Verse, und trotzdem, daß sie zu der grausigen Aktion sehr natürlich geklungen haben.“

Die Gesellschaft, von der drastisch gezeichneten Carikatur ergötzt, lachte, Hallfeld mit eingeschlossen. Nach kurzem Schweigen erwiederte dieser: „Darf ich nun auch eine Tragödie aufführen?“ — „Immer zu!“ rief Berger.

Hallfeld begann: „Also — das Publikum sitzt in ernster Erwartung und der Vorhang geht auf. Schon durch den Klang der Verse wird der Hörer der Atmosphäre des Alltagslebens entrückt und in eine höhere feierliche Stimmung versetzt. Eine große, gewaltige Kraft, deren Leidenschaft uns mit Staunen erfüllt, wird zum tragischen Uebermuth, zum Verbrechen hingerissen, und die Göttin, die dadurch verletzt ist, bereitet die Strafe; ihre Organe setzen sich in Action und ein Kampf beginnt, den wir mit erhabener Spannung begleiten. Wir fordern den Untergang des Frevlers, indem wir seinen dämonischen Geist bewundern, und er sinkt endlich unter den Schlägen der Gerechtigkeit. Der Zuschauer, um mit einem Heros der tragischen Dichtung zu reden, ist zermalmt, aber zugleich erhoben; und nachdem er in eine Welt Blicke gethan hat, die ebenfalls Natur und Wahrheit, aber Natur und Wahrheit oberster Art ist, nachdem er Blicke gethan hat in’s Jenseits und in die Ewigkeit, verläßt er das Theater, wie man einen Tempel verläßt. Und ein Tempel — ein Tempel der Kunst — soll’s ja auch seyn, das Theater, nicht ein Haus, wie man’s zu Hause auch und am Ende noch besser hat.“

Der tragische Künstler hatte diese Entgegnung spielend, wenn auch mit Würde spielend, begonnen, aber nach und nach zu einem Ernst sich erhoben, der seines Eindrucks nicht verfehlen konnte. Heinrich rief ein so lebhaftes Bravo, daß Willmann ihm bedeutsam drohte; die Wirthinnen nickten beifällig und Berger sah schweigend auf den Tisch. Plötzlich aufsehend und den Redner betrachtend, entgegnete der Komiker: „Ihre Schilderung ist so pathetisch poetisch gerathen, daß sie eigentlich in fünffüßigen Jamben hätte gegeben werden sollen, und ich sehe dadurch meinen alten Verdacht bestätigt, daß Sie im Geheimen dergleichen anfertigen.“

„Wäre heutzutage weder eine Kunst noch ein Verbrechen,“ erwiederte Hallfeld. — „Gewiß nicht,“ entgegnete Berger, „namentlich das Erste nicht. Nun, um Ihnen meine aufrichtige Meinung zu sagen: schön gesprochen haben Sie; wenn’s nur eben so wahr wäre! Gut, gut,“ rief er, als Hallfeld zu reden sich anschickte, „ich weiß, was Sie sagen wollen. Die classischen Stücke, classisch aufgeführt, wirken so. Zugegeben. Aber classische Stücke haben wir nicht viel, und wenn wir’s ehrlich bekennen wollen, sind auch unter den classischen welche, die vielmehr den von mir geschilderten Effekt machen. Neue Stücke, die sich den classischen unter den classischen anreihen — mit aller Achtung vor den lebenden Talenten sey es gesagt — dürften uns nicht in allzugroßer Anzahl geliefert werden; also wäre es gewiß ein billiger, allen Verhältnissen Rechnung tragender Vorschlag: das Theater in so fern als Tempel zu behandeln, als wir einmal in der Woche die Priester der Tragödie darin fungiren lassen, an den übrigen Tagen aber es als ein Haus zu benutzen, was es trotz alledem viel mehr ist, als ein Tempel. Denn ein Tempel ist es doch nur in poetischer Anschauung und metaphorisch; dem unbestochenen Auge bleibt es eben das Schauspielhaus, das Haus, worin vorzugsweise gegeben werden sollen Schauspiele, inclusive Lustspiele.“

Die Hörer schienen den Vorschlag zur Güte heiter aufzunehmen und der ermunterte Komiker fuhr fort: „Ermessen wir dabei unsere Kräfte, vielleicht auch die Kräfte des Zeitalters! Mir scheint ein Wink der Geschichte in der unbestreitbaren Thatsache zu liegen, daß wir im genreartigen Drama — wenn Sie den Ausdruck erlauben wollen — auch besser spielen, als in der hochstylisirten Tragödie. Zum lebensgroßen Bild reicht unsere Natur hin, zum überlebensgroßen müssen wir uns schon verteufelt strecken, und das kommt gar nicht immer schön heraus. Talente, mit einem Geist, einer Figur und — einer Stimme, wie wir sie an unserem Heldenvater bewundern, sind selten und werden immer seltener. Wir Andern bewegen uns im lustigen, gemüthlichen, pikanten Kreis, bewirken Lachen und nebenbei Rührung und geben dem Publikum das, was es doch eigentlich am öftesten begehrt und wofür es auch am dankbarsten sich zeigt durch Ausfüllung des Hauses und durch Füllung der Kasse.“

„Das,“ fügte Willmann mit einem Blick auf Hallfeld hinzu, „ist doch wohl auch sehr zu bedenken. Das Publikum sieht sich jetzt am liebsten selber auf der Bühne, namentlich in wohlwollender Zeichnung und gewinnendem Bilde. Da wir aber dergleichen jetzt auch besser machen, besser spielen, so sind wir am Ende aus allen Gründen gemahnt, den Zuschauern vorzugsweise zu bieten, was sie vorzugsweise zu wünschen so freundlich sind.“

„Gut gesagt!“ rief Berger. „Und wie viel ist hier noch zu thun! Welche Schätze warten noch der Hebung! Welch köstliche Narren, Philister und Bösewichter können die Poeten noch herauf bringen! Also vorwärts auf dieser Straße! Richten wir uns in Vorführung von Schauspielen und Tragödien nach dem Verhältniß der Werkeltage und Festtage — und es wird wohl stehen im Lande!“

Hallfeld lächelte, als einer, der den Streit zu beenden wünscht. „Damit,“ sagte er, könnte ich mich am Ende zufrieden erklären. Festtage! Dazu gehören auch die Feiertage der Woche!“ — Berger, nach einigem Besinnen, rief: „Meinetwegen! Ich will nicht knauserig seyn. Aber, wohlgemerkt, nach dem protestantischen Kalender! Dann: Soyons amis!“ Er reichte ihm die Hand und der Anwalt des Trauerspiels, mit einer Freundlichkeit, die nicht ganz ohne Herablassung war, schüttelte sie.

Unser Poet hatte während der letzten Verhandlung mit einer Miene dagesessen, die den Frauen und endlich auch Willmann aufgefallen war. Ein Ernst sprach aus seinem Gesicht, der sich von dem des Heldenspielers wesentlich unterschied, indem er einen poetisch feierlichen Charakter hatte. „Was ist Ihnen?“ rief ihm der Schriftsteller zu. „Sie scheinen in höheren Sphären zu seyn!“ — „Ich habe eine Idee,“ versetzte der Angeredete, „eine Idee, die mir Freude macht!“ — „Nun?“ rief Willmann, während die Andern auf Heinrich schauten. „Ich hoffe nicht, daß Sie eine Idee haben, die Sie abtrünnig werden läßt. Ihr Aussehen —“ — „Verkündet Frieden — Harmonie!“ rief der Poet. — „Das laß ich mir gefallen!“ entgegnete jener. „Sie unterschreiben also die Capitulation zwischen der Comödie und der Tragödie?“ — „Mit einer Modifikation, die sich auf unser Metier bezieht.“ — „Ah so! — Nun?“

Der Poet begann unter allgemeiner Aufmerksamkeit: „Leben und Lebenlassen ist ein guter Spruch. Ich glaube, daß wir ihn eben jetzt auf unsere Fahne schreiben und unserem großen Dichter folgend das „Gedenke zu sterben“ in „Gedenke zu leben“ umwandeln müssen.“ — „Ah, bravo!“ rief der Vertreter der Comödie, der an dem Redner mit humoristischer Aufmerksamkeit hing. „Wir müssen zwar alle sterben,“ fuhr Heinrich fort, „und es wird gut seyn, auch daran zu denken. Aber bevor es zu Ende geht, müssen wir leben, das Leben gründlich benützen, und dürfen uns in diesem edeln Beruf nicht durch Todesgedanken stören lassen.“ — „Recht gesprochen!“ rief Berger — „Also lob’ ich die Richtung in der Kunst, die das Leben, in dem wir thatsächlich stehen, zeichnet, aufhellt und auf Ziele weist, damit dieses Leben nicht bleibe, wie es ist, sondern selbst immer schöner und erfreuender werde.“ — Der Komiker blickte zweifelnd.

„Die dramatische Poesie,“ fuhr Heinrich fort, „lasse Streit und Verwirrung entstehen, um sie zu lösen, sie führe Irrthum und Schuld vor, um davon zu heilen.“ — „Ja wohl,“ fiel Berger ein; „aber das darf nicht schulmeisterlich, tendenziös —“ — „Nein,“ versetzte Heinrich, „sondern nur poetisch geschehen! Der Dichter sehe das wirkliche Leben mit den Augen der Liebe, er sehe es, wie es in der That ist, reorganisire es liebevoll und zeige es im Bilde wahr und schön. Er sey Realist, er ergreife die Wirklichkeit in ihrer Fülle, ihrer Eigenthümlichkeit und eigenthümlichen Schönheit, und bereichere die poetische Literatur, die dramatische Literatur, mit neuen und neuschönen Gemälden.“

„Ganz gut,“ rief der Komiker. „Sie dürfen aber nur nicht gar zu schön —“ — „Das sind sie nie, wenn sie wahr sind!“ — „A la bonne heure!“ — „Und weil es denn,“ fuhr Heinrich fort, „an der Zeit ist und alle Forderungen darauf hinweisen, so cultivire der Dichter jetzt vor allem diese Poesie des wirklichen Lebens und liefere auch dem Theater Stücke, die mit dem Vorsatz und der Möglichkeit, schön zu leben, schließen!“

„Bravo!“ rief Willmann. — „Diese Thätigkeit,“ fuhr der Poet fort, „sey ihm aber zugleich eine Schule, eine Vorschule für die wahre Tragödie.“ — „Ah so!“ riefen Willmann und Berger zugleich, während Hallfeld erheitert aufhorchte und die Frauen lächelten. — „Für eine neue Tragödie,“ rief der Poet, „für die Tragödie der Zukunft!“ — „Hört, hört!“ rief Hallfeld, indem er den Collegen ansah.

„Der Dichter unserer Zeit, indem er die frische, kernige, treffende Sprache des wirklichen Lebens redet, lerne eine neue poetische Diction schaffen, in der nicht der Ton unserer großen Poeten mehr oder minder wiederklingt, sondern ein neuer ertönt, worin jene frische, kernige, treffende Sprache geadelt, verklärt erscheint.“ — „Hm!“ erwiederte der Anwalt des Lustspiels. — „Er lerne, indem er das Leben glorificirt im Schauspiel, das Leben glorificiren in der Tragödie!“

„In der Tragödie — das Leben?“ wandte Berger ein. — „Er lerne,“ fuhr Heinrich nickend fort, „indem er einen trostreichen Schluß herbeiführt im Schauspiel, einen trostreichen Schluß herbeiführen in der Tragödie. Er erschüttere die Herzen durch das flammende Gemälde der Schuld und Sühnung, aber er öffne mehr und schöner, als es bis jetzt geschehen ist, die Sphäre der Ewigkeit und erhebe über das Grauen des zeitlichen Todes durch die Anschauung ewigen Lebens! Er lerne in der Abspiegelung irdisch guten Ausgangs die tragisch poetische Hinweisung auf den himmlisch guten Ausgang, den wir alle fordern, der kommen muß und kommen wird, auf Grund ewiger Gerechtigkeit und Schönheit.“

Willmanns Gesicht war bei dieser Wendung auffallend bedenklich geworden, und Berger rief: „Aber lieber Freund —“ — „Lassen Sie mich alles sagen,“ entgegnete Heinrich, „ich werde gleich fertig seyn! Der Dichter also studire das wirkliche Leben in seiner Eigenthümlichkeit; er erfülle sich mit der Kraft der Natur und schildere Menschen und Verhältnisse, wie sie sind! Indem er aber die Wunder der Wirklichkeit, die Wunder der Natur wieder erkennt und tiefer erfaßt, als je zuvor, lerne er die Art der Natur gebrauchen zum Bilden von Idealen, die in höherer Sphäre wieder Natur sind!“

Hallfeld drückte seine Beistimmung durch lebhaftes Zunicken aus; der Poet fuhr fort: „Wir wollen die Menschen nicht nur vorgeführt sehen, wie sie sind, sondern auch wie sie seyn sollen. Auch darauf ist unser tiefes Verlangen — die Neugierde unseres Geistes gerichtet. Diese Menschen, wie sie seyn sollen, müssen aber so natürlich, so motivirt aus ihrem eigensten Wesen heraus handeln, wie die realen Menschen, und darum ist das Genre für die höhere Kunst, das reale Schauspiel für die stylisirt ideale Tragödie Vorbild schon in dieser Beziehung; aber eben so in der andern eines befriedigenden Schlusses durch den Sieg des Lebens. Die Tragödiendichtung kann nicht aufhören, denn es gibt tragische, hochtragische Persönlichkeiten nicht nur in der Mythologie und der Sage, sondern auch in der wirklichen Geschichte; also auch die Forderung des Realisten, daß die Menschen geschildert werden müssen, wie sie sind, führt zur Tragödie. Aber die Tragödie wird unerträglich, wenn der Dichter nicht naturwahre, aus innerster Nothwendigkeit handelnde und zugleich erhöhte Menschen vorführt, die dem strengen Gericht, das die tragische Nemesis hält, auch gewachsen sind durch die Größe des Geistes und Sinnes, wenn er nicht die ganze Handlung in eine höhere Sphäre rückt und die Zuschauer zwingt, sie vom Standpunkt der Ewigkeit aus zu betrachten. Sie wird insbesondere für uns unerträglich, wenn der Dichter auf den himmlischen Ausgang der Dinge nicht wenigstens hinzeigt und im irdischen Ausgang nicht das Heil, d. h. die Rettung für die Ewigkeit fühlbar macht. Ich verlange also das natur- und lebenswahre, durch seinen Ausgang erfreuliche Schauspiel; ich verlange die natur- und lebenswahre, durch ihren Ausgang über das Leid der Erde triumphiren machende, wahrhaft erhebende Tragödie, und ich glaube, daß wir durch jenes zu dieser gelangen müssen und werden. — Das ist mein Bekenntniß.“

„Das ich unterschreibe,“ rief Hallfeld mit einem Eifer und zugleich mit einem Ausdruck von Achtung, wie er sie dem Poeten gegenüber noch nicht an den Tag gelegt hatte. „Sie haben mir aus der Seele gesprochen und es besser ausgedrückt, als ich’s gekonnt hätte! — Den Teufel auch,“ setzte er lächelnd hinzu, „wo haben Sie diese Sachen her?“

Der Poet sah ihn heiter an. „Das fragen Sie,“ rief er, „einen Doktor der Philosophie und Aesthetiker, der eine verfehlte Tragödie geschrieben hat und durch ein Schauspiel sich zu rehabilitiren hofft? Ach, mein Freund, das Sagenkönnen ist heutzutage nicht schwer — das Machenkönnen ist’s! Und darauf werden wir, fürcht’ ich, in Ansehung der Tragödie noch einige Zeit warten müssen.“

„Weise gesprochen!“ rief hier der Regisseur der Comödie; „oder vielmehr klug gesprochen nach imponirendem Weisesprechen! Schwer mag die Tragödie seyn, die Sie in Aussicht gestellt haben — sehr schwer — wenn am Ende nicht gar unmöglich. Darum soll mich’s freuen, wenn Ihnen zunächst Ihr Schauspiel so gut gelungen ist, wie sich’s bei solchen dramaturgischen Anschauungen allerdings nicht anders erwarten läßt.“

„Und dieses Schauspiel,“ setzte Willmann hinzu, „wollen wir jetzt hören. Ihre Ausgleichung, lieber Freund, ist billig, und ich kann mich damit recht gut einverstanden erklären. Sie weisen das reale Drama in die Gegenwart, die neue realideale Tragödie in die Zukunft — das ist ein Vorschlag. Ueberlassen wir die Tragödie nun getrost unsern Nachkommen; wir unsererseits wollen um so fröhlicher das Drama und die Comödie cultiviren, spielen und genießen.“

„Das,“ versetzte Heinrich, „ist nicht ganz meine Meinung. Der Faden der tragischen Dichtung darf und wird nie abreißen; und ich stehe nicht gut dafür, daß ich selber —“ — „Ah,“ rief Willmann auf die Thüre blickend, „unsere verehrte Wirthin mit der Bowle! Jetzt, mein Bester, hat die Discussion ein Ende. Was von dem Abend noch übrig ist, sey dem Genusse des Tranks und des Schauspiels geweiht!“

Die dampfende Bowle wurde von der Mutter auf den Tisch gesetzt und Rosa füllte die Gläser. Der Punsch, auf Männer berechnet, wurde versucht, ausgezeichnet befunden und gepriesen. Stärke, Süßigkeit und Duft übten ihre Wirkung und erweckten alsbald jenes poetische Gefühl, das die letzten Reste stattgehabter Differenz auslöschte. Der Dramatiker holte sein Manuscript herbei, setzte sich damit zurecht und las das Personenverzeichniß.

Das eigenthümlichste Bild unter den Hörenden gewährte nun die junge Künstlerin. Rosa war dem Gespräch der Gäste mit Aufmerksamkeit gefolgt und hatte an der Art, wie Heinrich zuletzt seine Sätze aussprach und verfocht, eine eigene, tiefe Freude gehabt. Der Poet, den der Geist, der über ihn kam, Ueberzeugungen und Ahnungen klar aussprechen lehrte, hatte auch sie belehrt, und seine Worte waren ihr so einleuchtend erschienen, daß sie für ihn auch als tragischen Dichter neue Hoffnungen faßte. Wie er nun vor Kennern die erste Prüfung bestehen sollte, war ihre Seele nur Interesse und Sorge für ihn. Ihr Gesicht, etwas blässer als gewöhnlich, hatte einen Glanz, der es geistiger und bedeutender erscheinen ließ, und Hallfeld, der sie betrachtete, konnte nicht umhin, die Verwandlung in ihr erkennend, einen Theil der Wahrheit zu ahnen.

Heinrich, sinnlich und geistig gehoben, fand im Text bald den richtigen Ton und las den ersten Akt mit einer Lebendigkeit, einer Wahrheit, daß die beiden Schauspieler wiederholt beifällig nickten. Auch über den Inhalt drückten die Mienen Beistimmung aus.

„Gut,“ rief Hallfeld; „klar angelegt und eingeleitet! Ich habe kaum etwas dagegen zu bemerken.“ — „Der Akt,“ bemerkte Willmann, „löst seine Aufgabe. Der Conflikt, der vorbereitet und angekündigt ist, reizt, und wir begehren die Fortsetzung.“ — „Die ersten Akte,“ meinte Berger, „sind heutzutag meistens gut. Haben Sie die Güte und lesen Sie weiter.“

Der Poet las den zweiten Akt, in welchem sich hauptsächlich der Intrigant entwickelte. Sein artistischer Vertreter lächelte bei den dialogischen und monologischen Aeußerungen, warf einen Blick auf den Poeten, als ob er sich über seine Fähigkeit, derartige Charaktere zu schaffen, wunderte, und rief am Schluß: „Nicht übel! Hübsch! Daraus läßt sich was machen!“

Der Poet, erfreut, entgegnete: „Sonst aber, was haben Sie einzuwenden?“ — „Nun,“ versetzte der Schauspieler, „allerlei. Aber im Wesentlichen bin ich zufrieden, und das Uebrige nach der Lektüre!“

Der dritte Akt war der ernst- und inhaltreichste. Er brachte den wirklichen Zusammenstoß, die Bewährung der Hauptpersonen und, nach charakteristisch erheiternden, die rührendsten, erhebendsten Scenen. Heinrich, wissend, um was es sich handelte, las die letzten Auftritte mit aller Kraft und Innigkeit, deren er fähig war, und der Effekt war bedeutend, um nicht zu sagen hinreißend.

„Bravo!“ riefen Hallfeld und Willmann wie aus Einem Munde, während ihre Blicke eine bewegte Seele verriethen. Die Augen der Wirthinnen waren feucht geworden. Rosa hatte ihrer Rührung und ihres Glückes kein Hehl, und auch Berger nickte mit ernsthaftem Gesicht.

„Dieser Akt,“ sagte Hallfeld, „entscheidet. Die Wirkung auf dem Theater wird durchschlagend seyn, oder Alles müßte mich täuschen. Und jetzt,“ fügte er lächelnd hinzu, „zweifle ich nicht mehr, daß auch die beiden letzten Akte gut seyn werden. Handlung und Dialog bleiben bei der Klinge — ein schützender Genius muß über dem Ganzen gewacht haben.“

Heinrich, mit einem Blick auf Rosa deutend, erwiederte: „Hier sitzt er in der Gestalt unserer edeln und liebenswürdigen Freundin!“

„Das,“ rief Berger, „hab’ ich mir freilich schon lange gedacht! Alle Achtung vor Ihrem Talent, mein Herr Poet! Aber der Schritt vom offenbaren Un- d. h. von offenbarer Ueberphantasie zu Verstand, Sinn und Grazie macht man von selber nicht so schnell. Eine gütige Fee mußte Ihnen helfen; und wie ich sehe, hat sie Ihnen geholfen, vielleicht mehr, als wir jetzt noch denken.“

„Sie thun dem Dichter Unrecht,“ entgegnete Rosa mit ernstlichem Verweisen. „Mein Antheil an dem Stück ist sehr gemessen. Wenn Sie wollen, hab’ ich im Kriegsrath meine Stimme abgegeben, die Schlacht aber hat er gewonnen.“ — „Die Schlacht,“ versetzte Berger, das Haupt wiegend, „ist eigentlich noch im Gange, und obwohl die Zeichen auf Sieg deuten, so ist doch noch Alles möglich.“

Der Dramatiker las den vierten Akt. Während der ersten Hälfte schüttelte Berger ein paarmal den Kopf, wie einer, der ungeduldig wird, und sah dann mit halbgeschlossenen Augen für sich hin; bei der zweiten dagegen hellten seine Mienen sich auf und am Schluß ergriff er zuerst das Wort. Die Wendung der Intrigue gegen den Anspinner,“ sagte er, „hat — ich kann’s nicht anders sagen — etwas Feines, und die Scene zwischen Anna und dem alten Studenten ist geradezu lustig. Ueberhaupt, die Anna gefällt mir, und,“ setzte er mit einem fein bedeutsamen Blick auf Rosa hinzu, „ich habe allen Grund, zu vermuthen, daß sie auch dem Publikum gefallen wird. Ich wittere hier etwas wie einen Triumph.“ — Die Gesichter erheiterten sich, und Rosa dachte bei sich: Das ist nicht ohne Mühe gewesen!

„Nun,“ rief Willmann dem Poeten zu, „lesen Sie schnell den letzten Akt! Wir sind im Zuge! Fängt doch sogar Mephistopheles an zu loben!“ — Berger drohte mit dem Zeigefinger und der Doktor lächelte.

Heinrich las weiter. Die Hörer, zu guter Letzt, nahmen sich ernstlicher zusammen, und da auch der Inhalt vorherrschend ernst war, saßen sie mit beinahe feierlichen Mienen da. Jeder war in sich gekehrt, und nur ein scharfes Auge hätte die Andeutung besondern Wohlgefallens bei dieser und jener Einzelheit bemerken können. Der Schluß — ein zierlich erhebendes Wort des Glücklichen, der die gerettete Antonie heimführte — entfesselte aber Herzen und Zungen, und in den Seelen Heinrichs und Rosas weckten herzlich lebhafte Rufe der Anerkennung Schauer der Freude.

„Die Schlacht ist gewonnen!“ rief Hallfeld mit pathetischem Beifall. „Was man im Einzelnen auch noch einwenden kann, das Ganze dringt in’s Herz und gewinnt es!“ — „Und das ist die Hauptsache,“ fuhr Willmann zum Poeten gewendet fort. „Ich kann’s nicht verschweigen, ich fühle eine gewisse Verwunderung, daß es Ihnen so gut gerathen ist, aber — um so besser! Jetzt sind Sie über’m Berg!“

Heinrich, nachdem er beiden mit Händeschütteln gedankt, schaute auf den Komiker, der nach einem allgemeinen Ausruf der Billigung stumm dagesessen hatte und nun ein Gesicht machte, als ob ihm des Lobes viel zu viel wäre. „Und Sie?“ fragte der Poet. „Lassen Sie die Kritik hören, die Sie versprochen haben! Ich bin gefaßt — gerüstet!“

„Nun,“ erwiederte der Schauspieler mit einem gewissen Behagen, „dießmal wird es gnädig abgehen. Im Ganzen halt’ ich das Drama für einen guten Wurf und zweifle nicht, daß wir es mit Glück aufführen können, falls nämlich darin gewisse unerläßliche Aenderungen vorgenommen werden.“ — „Und die sind? Ich höre, mein Herr Regisseur!“ — „Sie haben,“ fuhr jener fort, „immer noch zwei Neigungen, die ich als Schauspieler, dem einige Erfahrung zur Seite steht, sehr bedenklich finden muß, weil Sie in den Dialog etwas fatal Aufhaltendes und Lähmendes bringen.“ — Heinrich, ernster geworden, sah ihn fragend an. — „Zunächst einen Hang zu einer gewissen Umständlichkeit in der Entwicklung der Gedanken und einer allzu gründlichen Motivirung. Man kann auch zu viel motiviren, werther Herr; ja, man kann sogar etwas zu Tode motiviren!“

Dieser Spruch, der die andern erheiterte, traf den Poeten bis zur Verlegenheit. Berger, nachdem er sich daran geweidet, fuhr fort: „Lebendige Menschen, die wir Schauspieler ja doch vorstellen, müssen aus ihrem Charakter heraus handeln und dürfen nicht jeden Entschluß, den sie fassen, durch eine lange Demonstration einleiten. Sie haben aber im zweiten, am Anfang des dritten, namentlich aber in der ersten Hälfte des vierten Aktes Entwicklungen beliebt von wahrhaft physiologischer Gründlichkeit. Wenn ich bedenke, daß ich schon beim Lesen davon chokirt worden bin, so kann ich von der Bühne herab nur eine geradezu unangenehme Wirkung prophezeien.“

„Das ist wahr,“ bemerkte Hallfeld ernsthaft, „und das muß allerdings geändert werden.“ — „Sodann,“ fuhr der Andere fort, „zeigen Sie immer noch eine Tendenz zu einem Pathos, das ich, ohne Sie damit beleidigen zu wollen, hochtrabend nennen möchte. Ich will Ihnen zwar bekennen, ich wundere mich, daß der Verfasser der historisch-romantischen Tragödie darin nicht noch viel mehr geleistet hat, und mache Ihnen über die Bekehrung mein aufrichtiges Compliment. Aber es finden sich doch noch einige starke Proben in dem Stück, und wie begreiflich sind es gerade die edeln Liebenden, die sich dadurch hervorthun. An wenigstens vier Stellen wünsch’ ich eine tüchtige Beschneidung.“

„Wenn es seyn muß —“ versetzte Heinrich zögernd. — „Es muß seyn,“ entgegnete der Regisseur mit Nachdruck; „für die Aufführung unter allen Umständen! Ueberhaupt,“ fuhr er nach einem Moment lächelnd fort, „kann ich Ihnen nicht verhalten, daß mir Ihre Anna um ein Gutes besser gefällt als Ihre Antonie. Diese soll zwar viel bedeutender, hochgesinnter und tieffühlender seyn, das sieht man wohl, und verwandten Seelen mag sie auch so vorkommen. Für mich hat sie aber eine Art von Prätension, die mir nicht recht munden will. Die andere ist bescheidener, aber eben darum ansprechender, wohlthuender. Kurz gesagt: die Antonie (vorausgesetzt, daß ihr noch einige hochgehende Reden gestrichen werden) ist mir interessant, aber die Anna lieb’ ich.“

Heinrich, durch diese vergleichende Würdigung in’s Herz getroffen, war plötzlich erröthet, um den Mund Rosas zuckte dagegen ein Lächeln, das unter dem Schleier des Ernstes eine innige Genugthuung verrieth. Hallfeld, der das Erröthen Heinrichs aus der Verletztheit des Poeten ableitete, glaubte sich in’s Mittel schlagen zu müssen. „Ich denke nicht ganz so wie Freund Berger,“ versetzte er. „Die Anna ist reizend, aber die Antonie hat ihre eigenen Vorzüge, und so viel sie weniger gefällt, so viel mehr imponirt sie.“ — „Die Geschmäcke,“ bemerkte Berger, „sind verschieden. Ich halte aber dießmal den meinen für besser und habe Sie stark in Verdacht, daß Sie ihn im Stillen theilen. Doch davon ist nicht weiter zu reden.“

„Zur Sache denn!“ fuhr Hallfeld fort. „Das Stück wird nicht über drei Stunden spielen; für ein Schauspiel ist das aber doch zu lang und der Dichter wird daher noch etwelche Striche zu dulden haben.“ — „Immer zu!“ rief der Poet. — „Es wird so arg nicht werden,“ entgegnete Hallfeld. „Eigentlich ist das Stück schon gestrichen und man sieht auch daraus, daß nicht nur Kennerinnen, sondern Künstlerinnen die feine Hand im Spiele gehabt haben.“ — „Gott vergelt’s ihnen!“ rief Heinrich mit Laune.

„Reichen Sie nun,“ fuhr der Regisseur fort, „das Stück ohne Weiteres ein. An der Annahme ist nicht zu zweifeln; die Intendanz wird nach einem versprechenden Schauspiel, in dem noch dazu nichts Anstößiges vorkommt, mit beiden Händen greifen, und das Uebrige ist unsere Sache.“ — „So möge es denn,“ rief Berger, „eingehen in’s Fegfeuer der Regie, um, nach glücklichem Bestehen desselben, auf dem Repertoire zum ewigen Leben zu gelangen!“

Man stieß an, trank und spann nach Abmachung der Hauptsache, trotz der vorgerückten Zeit, ein zwangloses Gespräch fort, worin man gleichwohl immer wieder auf das Stück zurückkam und namentlich unter allerlei pikanten Bemerkungen die Rollen besetzte. Endlich, als durch eine nochmalige Füllung der Gläser die Bowle erschöpft war, erhob sich Willmann, der zuletzt überlegend dagesessen hatte, mit einer Art humoristischer Feierlichkeit in seinem Gesicht, und sprach:

„Meine Damen und Herrn! Wir haben heut einem Akte beigewohnt, den man, genau genommen, einen weltgeschichtlichen nennen müßte. Der unvermeidliche Schritt vom Idealismus zum Realismus, von despotisch eigenmächtiger Phantasie zur Natur und Naturwahrheit, der die Eine Aufgabe der Gegenwart bezeichnet, ist vollzogen von einem Manne, der noch vor Kurzem mit germanischer Innigkeit und Leidenschaft an der großen Zauberin und Männerverlockerin hing. Freuen wir uns dieser That auf der einen, dieser Eroberung auf der andern Seite! Freuen wir uns als wohlwollende Herzen, daß es dem begabten Freunde gelungen ist, von dem Dämon, der ihn im Kreis herumgeführt hat, sich loszureißen und der schönen grünen Weide froh zu werden! Er ist angekommen auf dem heitern Plan, wo muntere Gesellschaft in offenen Gezelten tafelt und denjenigen, der ihr Vergnügen erhöht, königlich zu beschenken willig ist. Die Welt, meine Freunde, ist nicht undankbar. Wer sie erquickt, den erquickt sie wieder; ihr Dank entspricht der Gabe und dem realen Spender kommt realer Segen in’s Haus. Klar zu reden: was verlangt die Welt eigentlich von uns, den heutigen Schriftstellern? Daß wir ihr Menschen zeichnen. Wer aber Menschen zeichnet, der zeichnet nicht nur Leidenschaft und Natur, sondern auch Gemüth und Geist und alle Tugenden, die in Menschen sich finden. Und wer’s versteht, der rundet sein Gemälde, daß es anzieht, fesselt und die reizende Wirkung eines Kunstwerks macht. Wir Realisten lassen es uns nicht nehmen, daß wir im Grunde auch die rechten Idealisten sind. Haben wir nicht eben von einer solchen Verbindung den Beweis erlangt? Sind wir nicht erhoben worden in höhere Regionen durch den Aufschwung edler Seelen, und sind uns nicht Thränen idealer Ergriffenheit in’s Auge gedrungen? Ja fürwahr, unser Freund hat nicht nur einen Schritt, er hat einen Sprung gemacht, und wie ein Löwe vom alten Standpunkt auf den neuen sich stürzend, ein Werk vollbracht, dem gegenüber die Lästerungen und Verleumdungen der Zurückgebliebenen schmählich zu Boden fallen werden. Hat ihm dabei eine holde Fee liebevoll geholfen — preisen wir ihn glücklich und benedeien wir die Fee! Wir können nichts ohne Feen! Wohl uns, daß, nachdem die fabelhaften sich uns entzogen haben, die realen, die besseren uns geblieben sind! Der Schutzgeist unseres Dramas, die Grazie des Theaters, die liebenswürdigste aller Feen, um so liebenswürdiger, als sie lebendig, wirklich ist — sie lebe hoch!“

Alle erhoben sich; unter freudigen Hoch- und Bravorufen der Männer stieß man an, trank, trank aus und schüttelte sich mit glänzenden Mienen die Hände. Der Moment des Scheidens war gekommen, und man trennte sich in der heitersten Stimmung.

Wenn der Dramatiker eine tiefe Befriedigung mit nach Hause nahm, so war das Gefühl, das die Seele der Künstlerin durchdrang, nicht minder beglückend und hatte einen edleren, größeren Charakter. Der Zweck, den ihr liebendes Gemüth sich gesetzt, war erreicht. Heinrich hatte nicht nur ein Drama zu Stande gebracht, dessen Erfolg ihr über jeden Zweifel erhaben schien, er hatte als Bühnendichter die fördernden Einsichten erlangt, sich gebildet, seine Fähigkeiten in seine Gewalt bekommen, und was er nun fernerhin unternahm, das konnte ihm nicht anders als gerathen. Der Grund seines Lebensglücks war gelegt, durch sie gelegt! Dieser Gedanke erfüllte sie und erhob sie dergestalt über sich selbst, daß in dem süßen Stolz der Großmuth auch die Vorstellung, wie die Früchte des durch sie möglich gemachten Siegs einer Andern zu Gute kamen, nichts Betrübendes für sie hatte, sondern Vielmehr etwas Wohlthuendes. Die Entsagende gönnte der Besitzenden nicht nur ihr Glück, sie war sicher, daß sie es ruhig, ja freudig mit Augen sehen werde.

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