II.

Arthur hatte eine Eigenschaft, die im Leben sehr förderlich seyn kann, wenn sie nicht übertrieben in Thätigkeit gesetzt wird: er liebte es, unentschiedene Verhältnisse sobald als möglich in’s Klare zu bringen, und das, was er für gut und nothwendig hielt, herzhaft auszuführen. Als er nach der Abreise des Grafen am Abend des folgenden Tags über seine Verlobung mit Anna — denn das war ihm die wechselseitige Erklärung — und das nun von ihm geforderte Verhalten nachdachte, kam er zu dem Entschluß, dem Vater alles zu gestehen und sein und Annas Glück durch die Beistimmung der Eltern zu sichern.

Arthur liebte seinen Vater herzlich, wenn er auch nicht alles an ihm billigen konnte, und hatte zu seinem Wohlwollen, seiner theilnehmenden Güte das vollste Vertrauen. Er fühlte daher guten Muth, als er am nächsten Morgen sein Zimmer aufsuchte, um mit ihm über seine Herzensangelegenheit zu sprechen. — Uns liegt nun aber vor allem ob, die Leser mit dem Manne, von welchem das Schicksal des Jünglings abhing, näher bekannt zu machen.

Baron Günther von Waldfels gehörte zu einer Klasse von Adeligen, wie sie jetzt seltener geworden sind. Sein Vater, schon bei der Uebernahme des Familiengutes sehr wohl gestellt, führte ein zwar stattliches, aber doch ökonomisches Leben. Er vergab seinem Stande nichts und übte eine würdige Gastfreundschaft; allein da er sich beinahe ausschließlich auf seiner Besitzung aufhielt und sich mit der Verwaltung seines Vermögens beschäftigte, so kam er nicht in den Fall, seine Einkünfte zu verzehren, und im Lauf der Zeit mehrten sich daher Capitalien und Güter. Bei seinem Tode war Günther zweiundzwanzig Jahre alt. Als der ältere Sohn übernahm er dem väterlichen Testament zufolge die Güter, während sein um mehrere Jahre jüngerer Bruder in’s Landesheer eintrat.

Es kommt oft vor, daß der Sohn eines haushälterischen Mannes zur Verschwendung geneigt ist; im Volk sagt man in Bezug darauf: der Sparer muß seinen Zehrer haben. Den letzteren vorzustellen, hatte der neue Herr von Waldfels in der That alle Talente, und nachdem diese durch die väterliche Autorität niedergehalten gewesen, traten sie in der Freiheit um so glänzender hervor. Jung, schön und reich — warum sollte er sich etwas versagen? Er war von grenzenloser Gutmüthigkeit, der Baron Günther, und bewährte diese eben so gegen sich selbst, wie gegen Andere. Er begriff nicht, wie man ein anderes Streben haben könne, als das Leben zu genießen, und einen höhern Ehrgeiz, als Andern Genuß zu bereiten. Beides that er denn auch in großem Maßstabe. Mehrere Jahre lang besaß er den Ruhm des prächtigsten und freigebigsten Herrn in der ganzen Umgegend; aber die Güter, die sein Vater erworben hatte, waren dafür in den Kauf gegeben.

Als er sich beinahe ganz auf die Einkünfte des Stammgutes beschränkt sah, lernte er in einer süddeutschen Handelsstadt ein schönes, blondes, zartgebautes Mädchen kennen. Er empfand in Kurzem eine heftige Leidenschaft für sie und sie wurde seine Gattin. Das Geschlecht, aus welchem Arthurs Mutter stammte, ehedem reich, war jetzt kaum mehr wohlhabend zu nennen; statt der Mitgift brachte aber die junge Frau ökonomische Tugenden nach Waldfels. Sie wußte der Verschwendung Günthers Einhalt zu thun und mit verhältnißmäßig geringen Mitteln doch ein anständiges Haus zu machen. Da die Liebe des Barons zu ihr sich gleich blieb und die häuslichen Freuden ihn beschäftigten, so hielt er wirklich an sich und begnügte sich mit seinen immer noch bedeutenden Revenuen. Leider starb die gute Frau an den Folgen einer unglücklichen Niederkunft. Der Baron war untröstlich; er zog sich von der Gesellschaft zurück und trauerte um die geliebte Gattin mit einer Ausdauer, die ihm niemand zugetraut hätte. Allein noch war nicht ein volles Jahr verflossen, so fühlte sein Herz sich befreit und sein ursprünglicher Charakter trat in der alten Stärke wieder hervor.

Es lag diesem Herrn im Blute, daß es für den Sprößling eines alten Geschlechts nicht wohl passend sey, auf Erwerb zu sehen, auf der andern Seite aber höchlich geziemend, diejenigen, die etwas erworben hatten und fortfuhren es zu thun, gleichwohl an Generosität zu übertreffen. Er verschmähte die Spekulation und hielt es unter seiner Würde, bei Kauf und Verkauf zu feilschen, weßwegen die Handelsleute überaus gern mit ihm zu thun hatten und ihn als das Muster eines „einsichtsvollen“ Mannes priesen. Handwerker und Künstler durch Bestellungen aufzumuntern und überhaupt durch Freigebigkeit Glückliche zu machen, erschien ihm als Pflicht und Ehrensache. Natürlich war es, daß er bei dieser Beglückung Anderer sich selbst am wenigsten vergaß. Gefiel ihm ein Pferd, ein Jagdhund oder was sonst immer, so mußte er es haben; und daß diese Passion ausgebeutet wurde, versteht sich von selbst. Dabei war er zu Hause und in Gesellschaft eine höchst angenehme Erscheinung. Er hatte die noble Würde eines Mannes, der fähig ist Andere zu erfreuen, und das liebenswürdige Mit- und Selbstgefühl eines wahrhaft freundlichen Gebers. Unmöglich war es, beim Spiel mit mehr guter Laune zu verlieren. Es schien ihm ordentlich Vergnügen zu machen, wenn seine Geldstücke zu dem Häufchen eines andern wanderten, und wenn dieser seine Freude darüber nicht verbergen konnte, so betrachtete er ihn mit einem wohlwollend überlegenen Lächeln, wie etwa ein Vater sein Söhnchen, wenn es wegen irgend einer Bagatelle kindisches Vergnügen blicken läßt.

Man hätte diesem Mann unerschöpfliche Hülfsquellen gegönnt, so wohl stand ihm sein prächtiges Leben an. Die seinen waren es nicht. Schon im ersten Jahre reichten die Einkünfte nicht zu; bald mußte zum Verkauf einzelner entbehrlicher Grundstücke und endlich zum Geldaufnehmen geschritten werden. Dieses, das nöthige Abbezahlen kleiner und das Aufborgen größerer Summen wurde von da an die hauptsächlichste Beschäftigung des Barons. War er durch die Nothwendigkeit darauf gewiesen, so fand er in ihr bald auch einen eigenen Reiz. Er wandte ein Capital von Zeit, Geist und Erfindungskraft daran, das ihn, der Verwaltung seiner Besitzungen gewidmet, zum reichen Mann hätte machen müssen. Alles, was an Schlauheit in ihm lag, kam bei diesen Geschäften zum Vorschein. Er sorgte dafür, daß seine Passiva der Welt möglichst ein Geheimniß blieben, und wußte durch feines, liebenswürdiges Benehmen immer neue Gläubiger zu gewinnen. Dabei verläugnete er seine noble Denkart keineswegs. Er beglückte die Frauen und Kinder der Gläubiger durch Geschenke, er machte bei seinen Anleihen großmüthige Bedingungen, und wenn er seine Lieferanten und Handwerker nur sehr theilweise bezahlte, so hinderte er sie doch auf keine Weise, übermäßig große Rechnungen zu machen.

Dieß ging, so lange es gehen konnte. Ungefähr drei Jahre vor dem Beginn unserer Erzählung kam er in große Bedrängniß, und es gehörte die ganze Stärke seiner glücklichen Natur dazu, um nach außen keine Bekümmerniß merken zu lassen. Er mußte sich bedeutend anstrengen, um das Schiff wieder flott zu machen, und so hart es ihn ankam, die letzte Zeit her seinen kostspieligsten Gewohnheiten entsagen. Die Ehre des Hauses mußte jedoch aufrecht erhalten werden. Sein Sohn, vor welchem er die Lage der Dinge zu verbergen verstand, mußte auf Gymnasium und Universität als junger Mann von Stande leben. Als der ihm verwandte Graf nach wiederholten Einladungen endlich Waldfels zu besuchen versprach, so durfte er nichts vermissen, was er von einem Wirthe seines Gleichen nur irgend zu erwarten berechtigt war. —

So war der Mann, und so standen seine Angelegenheiten. Die Leser können daraus einen Schluß ziehen, was der Sohn von ihm zu hoffen und zu fürchten hatte.

Als Arthur in das Zimmer trat, kramte der alte Herr eben in einem Haufen von Papieren. Er horchte hoch auf, als jener ihm eröffnete, daß er mit ihm über eine Sache von Wichtigkeit zu sprechen habe. Der junge Mann, wenn er auch eine wesentlich redliche Natur war, entbehrte doch keineswegs der Klugheit, welche zur Erreichung guter Absichten die geeigneten Mittel zu finden weiß. Er hielt es dießmal für gut, etwas auszuholen, und sprach zuerst von einem Lebensplan, den er sich gebildet habe. Er müsse dem Vater endlich gestehen, daß ihn eine besondere Neigung zu cameralistischen und ökonomischen Studien treibe, und daß er sich nichts anderes wünsche und auch nichts anderes vorhabe, als nach Absolvirung der Universität ihm bei der Verwaltung des Guts zu helfen, wobei er durch mancherlei Verbesserungen, die er für möglich halte, den Ertrag desselben glaube steigern zu können. — Der Baron antwortete mit einem bedeutungsvollen Hm! und forderte ihn durch seine Mienen auf, weiter zu reden. — Arthur ging nun über auf das angenehme Leben in und um Waldfels. Er sprach von dem gemüthlichen Charakter des Volks, von den vortrefflichen Familien in der Umgegend und rühmte namentlich Frau von Holdingen und ihre Tochter als ausgezeichnet durch Bildung, Geist und Charakter, hinzufügend, daß der Vater dieß selbst anerkenne, indem er sie am höchsten schätze und am liebsten mit ihnen umgehe. — Der Baron, der darin nur eine weitere Begründung des Wunsches erblickte, später in Waldfels zu leben, kam noch nicht auf die rechte Fährte und stimmte dem Lob seiner Verwandten von Herzen bei. Darüber bezeigte der Sohn die größte Freude und sprach nun die zuversichtlichste Hoffnung aus, daß der gute Vater gewiß seinem innigsten Wunsch nicht entgegentreten werde. Er wolle auf dem Lande leben bei seinem Vater und an der Seite einer braven Frau. Alle Tugenden, die er von einer Frau verlange, habe er aber in Anna von Holdingen gefunden; er liebe seine Cousine und werde von ihr wieder geliebt; er habe beim letzten Feste die Versicherung ihrer Liebe und Treue von ihr erhalten und er bitte den Vater inständig, zu diesem Bunde der Herzen seine Beistimmung zu geben.

Der Baron sah bei dieser unerwarteten Eröffnung aus, wie einer, der zweifelt, ob er recht höre. Er erhob sich, betrachtete den Sohn halb mitleidig und sagte: „Bist du klug, Arthur? Du willst dich verloben — mit einem Kind?“ — „Anna,“ versetzte Arthur mit bescheidenem Ernst, „ist kein Kind mehr. — Indeß,“ fügte er mit einem Lächeln hinzu, „wenn sie’s noch wäre, so wär’ es ihr einziger Fehler; und du weißt ja, daß man eben diesen am schnellsten und sichersten ablegt.“

Des Barons Antlitz verdüsterte sich und mit schwerem Bedenken schüttelte er den Kopf. Es gehörte zu seinem Wesen, daß er sich über die Zukunft Arthurs nie eine klare Vorstellung gemacht hatte. Er sorgte für die ihm gebührende Ausbildung, im übrigen ließ er ihn gewähren. In den seltenen Augenblicken, wo er wegen der Zerrüttung des ererbten Vermögens doch einige selbstanklagende Regungen empfand, beschwichtigte er sein Gewissen dadurch, daß er annahm, der Sohn, der so viele Fähigkeit und so viel Ausdauer im Studium zeige, werde seiner Zeit in den Staatsdienst treten, um eine gute Carrière zu machen; und als er den Grafen zu sich einlud, dachte er unter anderem wirklich auch daran, seinem Arthur durch die ehrenvolle Bewirthung desselben einen einflußreichen Protektor zu gewinnen. Auf der andern Seite erwog er, daß es einem Träger des Namens Waldfels, begabt und liebenswürdig, unmöglich fehlen könne, eine vorzügliche Partie zu machen und durch die Reichthümer der Erwählten die Mängel des väterlichen Vermögens zu decken. So mußte das Geständniß Arthurs, wodurch beide Hoffnungen bedroht waren, tiefen Verdruß und Unmuth in ihm erregen. Als der Sohn auf seinem Gesicht einen Ernst sah, der ihm völlig ungewohnt erschien, wurde er sehr betreten und fragte im Ton trauriger Ueberraschung: „Wär’s möglich, Vater, daß dir meine Wahl mißfiele? Hättest du an Anna etwas auszusetzen?“

Der Baron versetzte mit Würde: „Nach meiner Ansicht ist die Zeit, wo du an Verlobung, oder gar an Verheirathung denken kannst, überhaupt noch nicht gekommen. Wenn sie aber gekommen ist, so muß ich dir aus vielen Gründen eine reichere Partie wünschen, da unsere Vermögensverhältnisse keineswegs mehr brillant sind.“ — „O,“ rief der Sohn, „wenn es nur das ist, dann hab’ ich keine Sorge!“ Und mit Selbstgefühl setzte er hinzu: „Wir wollen das Gut schon mit einander verwalten, daß ich eine reiche Frau nicht nöthig habe. Ich habe meine Gedanken, und wenn du mir freie Hand gibst, so verbürge ich mich dafür, in wenigen Jahren stehen wir so, daß ich Anna in eine glückliche, gesegnete Familie einführen kann.“ — „Du weißt nicht,“ entgegnete der Vater mit einem Seufzer, „wie weit es gekommen ist!“ — „Das ist einerlei!“ versetzte der liebende, muthige Jüngling. „Im schlimmsten Fall hätten wir nur ein paar Jahre mehr nöthig.“ Und indem er ihn schmeichelnd bei den Händen faßte, rief er in bittendem Ton: „Sey der gute, liebe Vater, der du immer warst! Gib deine Einwilligung!“

Dem Baron stellte sich bei diesem Drängen seine Lage so klar vor Augen, wie nie vorher. Das Gefühl, daß sein einziger Sohn und das gute Mädchen einem traurigen Loos entgegen gehen würden, erschütterte ihn, und eben die Liebe, die Sorge, gab ihm nun Kraft zur Strenge. Er wies die Hand des Sohnes zurück und sagte mit Entschiedenheit: „Laß diese Thorheiten! Du bist selbst noch ein Kind und weißt nicht, was zum Leben gehört!“ — Und froh, von sich selber etwas Empfehlenswerthes anführen zu können, fuhr er fort: „Ich war zehn volle Jahre älter, als ich mich mit deiner Mutter verlobte. Das ist die Zeit, wo man gegenwärtig allenfalls an’s Heirathen denken darf. Die kindischen Schwärmereien der Jugend sind dann von selber vergangen und der Kopf ist hell genug, um eine in jeder Beziehung glückliche Wahl zu treffen. Das muß ich wissen, der ich Erfahrung habe und die Welt kenne. Aber ihr jungen Leute wollt heutzutage klüger seyn als die Alten, und es ist doppelt nöthig, euch in die gehörigen Schranken zurückzuweisen. — Kurz, ich gebe zu dieser Verbindung meine Einwilligung nicht und werde dafür sorgen, daß die voreilige Liebschaft ein Ende findet.“

Nach diesem Beweis von Energie wollte sich der alte Herr wieder an den Schreibtisch setzen, aber Arthur hielt ihn zurück. Mit Ernst und Festigkeit erwiederte er: „Du bist hart gegen mich, Vater, und das thut mir weh, denn ich bin’s nicht von dir gewöhnt. Aber deine Härte — verzeih’ mir, daß ich so zu dir rede — kann und wird meinen Entschluß nicht ändern. Ich habe es wohl überlegt, um was ich dich bitte, und ich muß vor allem das thun, was ich für meine höchste Pflicht halte. Ich kann meiner Cousine nicht entsagen. Sie ist ein so liebenswürdiges Mädchen, daß sie das Bild, das ich mir immer von dem vortrefflichsten Weib gemacht habe, noch bei weitem übertrifft. Schon jetzt vereinigt sie mit dem schönsten und tiefsten Gefühl den heitersten Geist und den klarsten Verstand. Und wenn sie nach deiner Ansicht noch ein Kind ist, was muß man erst in der Zukunft von ihr erwarten? Daß ein solches Wesen existirt, ist ein Wunder, daß ich sie gefunden habe, ein unendliches Glück — und dieses Glück, das ich mit meinem Blute erkaufen würde, sollt’ ich von mir stoßen? — Das ist es aber nicht allein. Ich habe mich gegen Anna erklärt, ich habe das Versprechen der Treue mit ihr gewechselt, und glaubst du, daß ein Waldfels sein feierlich gegebenes Wort brechen werde?“

Das Vaterherz konnte sich dem Eindruck dieser Entgegnung nicht ganz verschließen; aber noch bewahrte der Baron seine Festigkeit und rief im Ton des Unwillens aus: „Das ist eben dein unverzeihlicher Fehler, daß du ein solches Wort gegeben hast!“ — „Es ist dazu gekommen,“ erwiederte Arthur, „ich weiß selbst nicht wie. Ich folgte meinem Herzen und es ist mir nicht eingefallen, daß es jemand betrüben könnte. Ich fand das höchste Glück des Lebens — konnte ich da noch an etwas anderes denken? — Und was ist denn alles andere im Vergleich mit diesem Glück? Was kann denn noch in die Wagschale fallen, wenn wir das Herz eines Mädchens gewinnen, für dessen Besitz wir niedersinken und Gott auf den Knieen danken möchten? — Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die so klein von sich denken, daß sie sich nicht zutrauen, ein über alles geliebtes Weib durch’s Leben zu führen. Ich aber, lieber Vater, gehöre nicht zu ihnen; und wie unsere Verhältnisse jetzt auch beschaffen seyn mögen, ich werde Anna glücklich machen, glücklicher als irgend jemand in der Welt es vermag.“

Der Baron konnte sich bei diesen Worten nicht enthalten, mit Theilnahme auf den Sohn zu blicken und in seinem ganzen Wesen eine innere Bewegung zu verrathen. Er sagte mit sanfterer Stimme: „Lieber Arthur, du weißt nicht, was du versprichst! Du kennst die Klippen nicht, die dich bedrohen! Du wirst scheitern, wie so viele vor dir gescheitert sind!“ — „Ich werde nicht scheitern!“ rief Arthur mit dem Ausdruck innerster Zuversicht. „Ich fühle einen Muth in mir, dem nichts zu schwer vorkommt, und hier in meinem Herzen ruft eine Stimme: du wirst über alle Schwierigkeiten triumphiren! — Aber,“ fuhr er dringend und herzlich fort, „du, Vater, mußt mir zu diesem Unternehmen deine Beistimmung schenken und deinen Segen geben. Du warst immer so gut gegen mich und in den letzten Jahren, ich darf es wohl sagen, Vater und Freund in Einer Person. Deine Liebe, deine Freundschaft gehören zu meinem Glück, sie sind das Mittel und die Bedingung dazu, ich kann und will es nicht haben ohne sie. Darum schenke sie mir und gib mir dein Jawort! Wir wollen dann zusammen arbeiten und hoffen und Gott und uns selber vertrauen.“

Die Widerstandskraft des Barons war zu Ende. Sein Herz war erweicht; und zugleich hatte der Muth und die Zuversicht des Sohns ihn angesteckt. Was er so eben noch in Abrede gestellt, das erschien dem gerührten Herzen jetzt nicht nur wieder möglich, sondern beinahe wahrscheinlich. Ohnehin hatte er ja das Seine gethan; er hatte gewarnt und lange genug gekämpft. Der junge Mensch fügte sich nicht; man mußte sich überzeugen, daß hier nichts mehr zu ändern sey. — Allen diesen Eindrücken wich der Vater endlich und erklärte: „Wenn du es nicht anders haben willst, so mag es seyn. Ich gebe meine förmliche Einwilligung noch nicht, aber ich verspreche sie dir für den Fall, daß die Baronin nichts gegen eure Verlobung einzuwenden hat. Dann aber,“ setzte er mit Bedeutung hinzu, „vergiß nie, daß ich dich gewarnt und nur deiner Hartnäckigkeit nachgegeben habe.“

Arthur hatte nicht bis zum Schluß dieser Rede gewartet, um dankerfüllt des Vaters Hand zu ergreifen und zu drücken. Er umarmte ihn nun mit kindlicher Zärtlichkeit und rief mit Bezug auf die letzten Worte: „Nein, lieber Vater, nie werde ich das vergessen, so wenig wie die unendliche Güte, womit du meine Bitte erfüllt hast. Wenn ich unglücklich werde, so ist es nur meine Schuld. Wenn ich Glück erlebe, so hab’ ich es einzig und allein dir zu danken.“ — „Gut,“ versetzte der Baron mit väterlichem Ansehen, „dieß ist abgemacht. Aber Eines muß ich mir noch bedingen. Morgen Nachmittag gehen wir zur Baronin: bis dahin wirst du das Schloß nicht verlassen.“ — Arthur versprach es und verabschiedete sich.

Er hielt Wort. Er unterdrückte das Verlangen, zu der Geliebten zu eilen, aber er schrieb an sie und sorgte dafür, daß der Brief ihr geheim übergeben wurde. Er meldete ihr das Ergebniß der Unterredung mit seinem Vater und forderte sie dringend auf, ihrer Mutter gleichfalls ein Geständniß zu machen und bis zur Ankunft seines Vaters ihre Beistimmung zu erlangen. — Den andern Morgen hätte man an dem schönen Mädchen wohl bemerken können, daß ein ungewöhnlicher Vorsatz ihre Seele beschäftigte. Sie zeigte eine bewegtere häusliche Thätigkeit als sonst. Wenn sie davon abließ, stand sie bald in tiefen Gedanken und ihren reizenden Mund verschönte ein eigenes, halb verlegenes Lächeln. Sie schien die rechte Form der Ausführung nicht finden zu können und nahm endlich ihre Zuflucht zum Pianoforte. Dieses Instrument spielte sie mit Fertigkeit, heute aber führte sie die gewählten ernsten Stücke mit einem Gefühl und einer Kraft aus, daß die Mutter, die sich zu einer weiblichen Arbeit gesetzt hatte, selbst mit Verwunderung horchte und unwillkürlich dem rührenden Eindruck der Musik sich hingab. Auf einmal erhob sich das junge Mädchen und trat vor die Mutter. Ihr Vorhaben nicht nur, sondern auch das Bewußtseyn ihrer großen Jugend rief eine holde Schamröthe auf ihren Wangen hervor; aber ihr Entschluß war gefaßt und die Stimmung, wo sie ihn ausführen konnte, hatte sie gewonnen. Sie erklärte der etwas befremdet blickenden Mutter, daß sie ihr ein Bekenntniß abzulegen habe, und bat sie, ihr mit Güte ein ruhiges Gehör zu schenken. Dann erzählte sie den Vorgang am Pfingstmontag mit der Ergebung einer kindlich bescheidenen, aber zugleich mit dem Muthe einer liebenden Seele, durchaus getreu nach der Wahrheit.

Frau von Holdingen war auf’s höchste überrascht. Sie hatte nicht geglaubt, daß hinter der Aufmerksamkeit des jungen Vetters, die ihr natürlich nicht entgangen war, eine so ernstliche Neigung verborgen wäre, und staunte nun über ihr plötzliches Hervorbrechen. Aber sie war nicht, wie der Baron, in der Lage, die Vereinigung der Kinder bedenklich zu finden; im Gegentheil, sie empfand sogleich eine große Befriedigung. Die Familie Waldfels war eine der ältesten im Lande, Arthur war ein Jüngling von soliden Eigenschaften und, was sie schon früher zum öftern hervorgehoben hatte, so recht von adelig schöner Gestalt. Die Vermögenszustände des Barons hielt die von ihres Gleichen stets das Bessere annehmende Dame für geordneter als sie waren, den Sohn mithin für den Erben einer immerhin noch bedeutenden Besitzung, und da ihr Kind wenig oder gar keine Mitgift zu erwarten hatte, die materielle Denkweise der lebenden Männerwelt ihr aber nur zu gut bekannt war, so hatte der Gedanke, ihre Anna Baronin von Waldfels werden zu sehen, für sie etwas höchst Erfreuliches und Beruhigendes. Sie mußte sich Mühe geben, ihr Vergnügen vor der Tochter nicht geradezu merken zu lassen, und die ernste Miene einer Beichtigerin zu behaupten. Am Ende fiel ihr nichts Besseres ein, als ebenfalls ihre hohe Verwunderung darüber auszudrücken, wie bei dieser Jugend sowohl des Vetters als namentlich Anna’s selber ein solcher Vorgang habe möglich seyn können.

Darauf erwiederte Anna mit Ergebung: „Ich weiß wohl, daß ich noch jung bin, aber ich bin alt genug, um einzusehen, daß ich einen besseren und edleren Mann, als Arthur, nie finden würde, und ich habe ihn so lieb, daß ich ihn nicht lieber haben könnte! Als er mich zum Spaziergang einlud, hatte ich keine Ahnung von dem, was kommen sollte. Es ist, wie wenn’s vom Himmel gefallen wäre. Als ich darüber nachdachte, war’s geschehen. Nun hat Arthur mein Wort, mein heiliges Versprechen — und du,“ setzte sie mit herzlich bittendem und zuversichtlichem Ton hinzu, „du, liebe Mutter, wirst mich gewiß nicht hindern, es zu halten.“

Frau von Holdingen erhob sich. Ihrem Herzen folgend umarmte sie das Kind, indem sie mit Güte sagte: „Beruhige dich, Anna! Hält Arthurs Gesinnung auch die Prüfung der Mutter aus, dann hast du nicht zu fürchten, daß ich eurer Verlobung mich widersetzen werde. Es kommt aber hier vor allem auf den Baron an, der mit seinem Sohn vielleicht andere Absichten hat. Wenn er die Verbindung nicht wünschte, so wäre es für dich eine Ehrensache, deinem Vetter zu entsagen.“

Um vier Uhr Nachmittags rollte die offene Chaise des Barons in den Hof. Der wackere Herr war in froher, gemüthlicher Laune. Er hatte mit gutem Appetit gegessen und die ihm zugesandte Probe einer neuen Weinsorte vortrefflich gefunden. Das Wetter war schön und die wehende Ostluft erquickend; als er daher mit dem Sohn an blühenden Wiesen hinfuhr, vergaß er den düstern Hintergrund seiner Angelegenheiten gänzlich und hatte nur heitere Anschauungen. Aus der Art seines Auftretens schöpfte Frau von Holdingen sogleich die vollste Beruhigung, und die erröthenden jungen Leute gaben sich durch Blicke die freudige Gewißheit, daß auf beiden Seiten alles wohl stehe.

Nach den ersten Begrüßungen ließ der Baron, der nicht gewohnt war, in solchen Dingen lang zurückzuhalten, seine Blicke von der Tochter zur Mutter gleiten und sich dann also vernehmen: „Ich sehe, liebe Base, daß unsere gute kleine Cousine auch schon gebeichtet hat. Nun, was sagen Sie zu den jungen Leuten? Ist das nicht erstaunlich? Hat man in unsern Zeiten von so etwas gehört? — Sie haben uns eine eigenthümliche Aufgabe gestellt, unsere Kinder; aber wie wir darüber denken, wir können nicht vermeiden, uns nun damit zu beschäftigen.“

Frau von Holdingen nahm eine würdevolle Haltung an und erwiederte: „Allerdings hat mir meine Tochter alles gestanden und ich habe mein Urtheil nicht zurückgehalten über die Art, wie sie sich in ihrer Jugend zu einem solchen Schritt hat hinreißen lassen. Aber eben diese Jugend, lieber Baron, muß sie entschuldigen. Was jetzt geschehen soll, das hängt allein von Ihrer Entscheidung ab. Haben Sie gegen das Verhältniß und gegen die künftige Verbindung der jungen Leute nur die geringste Einwendung zu machen, so kenne ich meine Pflicht, und ich werde dafür sorgen, daß aller Verkehr zwischen ihnen abgebrochen wird.“ — „Ach, beste Baronin,“ versetzte der alte Herr, „das würde nicht viel helfen. Arthur hat sich mir von einer ganz neuen Seite gezeigt: er wäre im Stand, seinem Vater zu trotzen! Auch unsere Anna, im Vertrauen, sieht nicht darnach aus, als ob sie in dieser Angelegenheit ohne weiteres Gehorsam leisten wollte. Was sollen wir thun? Die Kinder lieben sich, sie haben sich Treue gelobt — und wir müssen zu ihrem Spiel gute Miene machen; — das heißt, wenn Sie, verehrte Frau, nicht aus mir unbekannten Gründen Bedenken tragen, Ihre Einwilligung zu geben.“

Die Baronin beeilte sich zu erklären, daß sie die Verbindung ihrer Tochter mit dem Sohne des Barons von Waldfels für höchst ehrenvoll und für das größte Glück halte, das Anna nur irgend erwarten könnte. Nun wäre es dem wohlwollenden und galanten Mann völlig unmöglich gewesen, sein Jawort zu versagen. Er liebte es ohnehin nicht, Scenen dieser Art hinauszudehnen, und versetzte daher mit herzlicher Freundlichkeit: „Da Sie so liebenswürdig denken, gnädige Frau, und in Ihrer Güte sich selbst übertreffen, so geben wir in Gottes Namen unsere Einwilligung und behalten uns vor, die wirkliche Verlobung so lange hinauszuschieben, als es uns schicklich dünkt. — Möge der Himmel,“ setzte er mit Ernst hinzu, „seinen Segen dazu geben!“ — Dann, mit Liebe zu dem Paare gewandt, rief er: „Bedankt euch nun bei der guten Baronin, Kinder!“

Die beiden, denen bei den ersten Reden doch wieder etwas bange geworden, folgten der Aufforderung rasch und ließen ihre zärtlichen Gefühle an den Eltern so herzlich aus, daß diese selbst der Rührung nicht widerstehen konnten und sich mit feuchten, tiefbefriedigten Blicken ansahen. Arthur hatte Anna’s Hand ergriffen, sein Auge hing an ihr in triumphirender, seliger Liebe. Er wagte es nicht, ihre Lippen zu küssen, und drückte, indem er sie an sich zog, seinen glühenden Mund auf ihre Stirne. Das Mädchen sah dabei so bräutlich schön aus und ihr Glück hatte einen so strahlend edeln Charakter, daß der Baron der Mutter zuflüsterte: „Mein Arthur hat sehr wohl gethan, sich dieses Kleinod so früh zu gewinnen. Hätte er noch gezaudert, so würden die Mitbewerber aus der Erde gewachsen seyn, und es hätte ihm doch wohl einer gefährlich werden können. Er hat auch in dieser Sache den Verstand und die Klugheit bewiesen, die ihn immer ausgezeichnet haben.“ — Die Mutter antwortete mit einem dankbaren und wohlgefälligen Lächeln. —

So leicht wurde diese Angelegenheit, die so manche bedenkliche Seite darzubieten schien, einem Ende zugeführt, das alle Theile zufrieden stellte. Der Baron hielt es um so weniger für nöthig, auf seine dermaligen Vermögensverhältnisse hinzudeuten, als es ihm ja wieder gelungen war, in dieser Beziehung gute Hoffnungen zu fassen. Und wenn es nicht der Fall gewesen wäre, wie hätte ein so guter Mann es über’s Herz bringen können, die gegenwärtige heitere Stimmung durch einen prosaischen Mißton zu trüben? Man vereinigte sich darüber, die förmliche Verlobung in Ansehung der Jugend Annas erst nach einem Jahr erfolgen zu lassen. Arthur sollte seine Studien beenden, reisen und endlich nach Waldfels zurückkehren, wo dann nach den Umständen früher oder später die Vermählung stattfinden sollte. Der alte Herr zeigte sich nicht abgeneigt, das Gut an Arthur zu übergeben, so daß Anna die Aussicht hatte, als Herrin in das Schloß geführt zu werden.

Beim Abendessen ließ sich der Baron die geringere, aber ächte Weinsorte der Baronin eben so gut schmecken, wie seine bessere zu Hause. Seine Laune belebte sich mehr und mehr. Er begann die Kinder zu necken und freute sich an dem jungfräulichen Erröthen des Mädchens. Unter andern wollte er darin einen Hauptbeweis für das Fortschreiten der Menschheit erkennen, daß die jetzige Generation nicht nur fähig sey, so früh zu lieben, sondern auch so früh schon eine glückliche Wahl zu treffen und mit Leidenschaft Verstand und Festigkeit zu verbinden. Er selber gestehe, sich mit der Thorheit länger abgegeben zu haben, was er übrigens auch nicht bereue. Wie er so dasaß, glänzend von Wohlwollen und Vergnügen, hätte er verdient, von dem besten Maler der altniederländischen Schule porträtirt und in der Poesie seines Wesens für alle Zeiten bewahrt zu werden. Endlich ergriff er das Glas, um einen Toast auf das Liebespaar auszubringen. Er wünschte und verkündete ihnen mit väterlicher Zärtlichkeit und mit dem besten Glauben ein Leben voll Liebe, Glück und Freude.

Mußten Arthur und Anna der Zukunft nicht mit den frohesten Empfindungen entgegensehen? Mußten sie sich nicht schon angeweht fühlen von dem Hauch der vollkommensten Erdenseligkeit? Aber die Macht, welche das Geschick der Menschen bestimmt, hat oft ihre Gründe, eben diejenigen, die ein schönes, ruhiges Daseyn zu verdienen scheinen, die Wege des Unglücks zu führen. Die Zeit nahte heran, wo die Hoffnungen, von denen die Herzen der Liebenden bewegt und erhoben waren, eine nach der andern zertrümmert werden sollten.

Seit der Rückreise Arthurs auf die Universität war mit dem Baron eine eigene Veränderung vorgegangen. Das Glück der beiden Kinder hatte ihn in Wahrheit tief gerührt und in der nun folgenden Einsamkeit nachdenklich gemacht. Er fühlte die Verpflichtung, für sie etwas zu thun, und nahm sich mit völligem Ernste vor, seinen Haushalt noch weiter einzuschränken und auf den Ruhm eines glänzenden Edelmanns ganz zu verzichten. Daß sein Koch ihn zu dieser Zeit im Lohn steigern wollte, kam ihm gerade recht. Er entließ ihn, verschaffte sich eine bewährte Köchin und befahl ihr, zwei Gerichte weniger zu geben als bisher. Da er von seinem gewohnten Weinmaß etwas abzubrechen sich nicht entschließen konnte, so begnügte er sich mit einer billigeren Sorte und bewahrte die besten für unumgängliche Gelegenheiten auf. Ein reicher Nachbar hatte früher umsonst großes Verlangen nach seinen zwei vorzüglichen Wagenpferden blicken lassen; jetzt benützte er das Gelüste desselben, trat ihm die beiden Grauschimmel um hohen Preis ab und bezahlte damit einen drängenden Gläubiger. Er fing an bei den nöthigen Einkäufen auf Billigkeit zu sehen und mit den verwunderten Kaufleuten um den Preis zu handeln. Ja, er bekümmerte sich sogar um seine Land- und Forstwirthschaft, ging selbst auf die Felder, um die Arbeiten mit anzusehen, und unterhielt sich mit dem Verwalter über die vortheilhafteste Benützung des Bodens. Bei verschiedenen Gelegenheiten hielt er seinen Untergebenen Reden über die Nothwendigkeit einer sparsamen Haushaltung mit so anmuthiger Würde, als ob er nie an etwas anderes gedacht hätte. Die Leute stimmten ihm achtungsvoll bei, so lange sie vor ihm standen; wenn sie sich allein sahen, konnten sie sich nicht enthalten, lächelnd den Kopf zu schütteln.

Ob es dem guten Herrn möglich gewesen wäre, in der eingeschlagenen Richtung zu beharren, können wir nicht sagen. Das Schicksal enthob ihn der Probe. Er fühlte sich eines Abends unwohl und legte sich früher als gewöhnlich zu Bette. Morgens fand man ihn todt. Ein Schlagfluß hatte seinem Leben ein Ende gemacht. — —

Das plötzliche Hinscheiden einer lebensfrohen und lebenskräftigen Person hat für diejenigen, die ihr mit Liebe anhingen, etwas tief Erschreckendes. Zu dem Schmerz über den Verlust gesellt sich der grausame Zweifel an allem, was man bisher für sicher und dauernd gehalten. Die Hinfälligkeit des Menschen, die Unzuverlässigkeit alles Irdischen sieht mit dem Antlitz der Gorgone auf uns her, und es erfordert die höchste Stärke, sich noch aufrecht zu erhalten und den Pflichten des Tages zu genügen.

Frau von Holdingen und Anna hörten die Todesnachricht mit Entsetzen. Die Ahnung einer unheilvollen Wendung ihres Geschicks durchzuckte sie, als sie die bleichen Gesichter gegen einander wandten und sich mit thränenlosen Augen ansahen. Sie begaben sich in größter Eile nach Waldfels, wo der herbeigerufene Arzt eben erklärt hatte, daß man jede Hoffnung aufgeben müsse. In der allgemeinen Trauer, unter den Thränen, die jetzt reichlich um den Gestorbenen flossen, ermannte sich Frau von Holdingen zuerst. Sie sandte einen reitenden Boten an den Sohn und übernahm als nächste anwesende Verwandte die Leitung des Hauses.

Arthur erschien am folgenden Tage in Begleitung seines Oheims, den er von der Landstadt, wo er als pensionirter Oberst lebte, mitgenommen hatte. Wir versuchen es nicht, seinen Schmerz zu schildern. Die Liebe, die er für seinen Vater empfand, hatte sich durch dessen gütiges Benehmen bei der ihm theuersten Angelegenheit noch erhöht. Wenn er seinen vertrauten Freunden von ihm erzählte, so glänzten seine Augen, als spräche er von der Verlobten. Welch ein erschütterndes Gefühl war es nun, dem theuern Mädchen wieder die Hand zu reichen und den geliebten Vater todt vor sich zu sehen! Er gab sich seinem Schmerz ohne Widerstand hin. Die Anordnung der Trauerfeierlichkeiten mußte von dem Oheim und Frau von Holdingen übernommen werden.

Noch einmal sahen die Räume des Schlosses eine zahlreiche, hochansehnliche Versammlung von Freunden der Familie Waldfels. Wenn nicht Alle wahre Trauer um den Mann empfinden konnten, der jetzt in die Gruft seiner Väter gesenkt wurde, so bedauerten doch Alle sein Ableben aufrichtig und hörten mit Theilnahme die Rede des Ortsgeistlichen, der ihnen seine menschlich schönen Charakterzüge mit schonender Hindeutung auf seine Schwächen in’s Gedächtniß rief.

Ein letzter Wille des Barons fand sich nicht vor; der Sohn war daher alleiniger Erbe und der Oberst, als der nächste Verwandte, wurde sein Vormund. Als beides geordnet war, ging Arthur in Verbindung mit dem Oberst muthig an die Arbeiten, die ihm durch die Lage der Dinge und durch die Gesetze des Landes geboten waren. Aber bald sollte dieser Muth niedergeschlagen werden.

Was die Leser schon errathen haben müssen, enthüllte sich. Schon die Durchsicht der hinterlassenen Papiere ließ die beiden Waldfels einen ungefähren Schluß ziehen auf den wahren Stand der Vermögensverhältnisse. Als aber in Folge des öffentlichen Aufrufs die sämmtlichen Gläubiger der Verlassenschaft sich meldeten, übertraf die Wirklichkeit selbst das, was sie in den schlimmsten Momenten gefürchtet hatten: die Summe der Forderungen drohte das ganze Erbe zu verschlingen.

Für Arthur, der sich in so schönen Hoffnungen gewiegt und so heilige Pflichten übernommen hatte, war es ein schreckliches Gefühl, als er zum erstenmal diese Wahrnehmung machte. Er war gerade allein — sein Oheim war auf einige Tage in seinen Wohnort zurückgegangen —, die klar erkannte Thatsache wirkte daher um so grausamer und niederwerfender auf ihn; die Verzweiflung wühlte in seinem Herzen. Wenn er daran dachte, welch ein reiches Erbe seinem Vater hinterlassen worden war, so konnte er sich einer bittern Empfindung nicht erwehren. Wie war es möglich, solchen Wohlstand gänzlich zu untergraben und den Sohn dem Bettelstab nahe zu bringen? Wie war es möglich, den Weg zum Untergang vorwärts zu gehen und nie zurückgeschreckt zu werden? — Bei alledem vermochte er dem Vater nicht zu grollen. Er dachte an seine unbegrenzte Gutmüthigkeit, an die Begriffe, die er von seinem Stande gehegt hatte, und der Ruin des Familienvermögens erschien ihm als eine Art von Verhängniß, als eine Folge von Schwächen des Vaters, die zu seiner Natur gehörten und für die er nicht mit Strenge verantwortlich gemacht werden konnte. Er tadelte sich selbst, daß er nicht gesehen, wohin die allzu glänzende Lebensweise zuletzt führen müsse, daß er sich nicht schon früher ernstlich von dem Stande des Vermögens unterrichtet und versucht habe, den Vater zu den unausweichlichen Einschränkungen zu bestimmen. Was sollte er nun beginnen? Welch ein Loos wartete seiner? Wie sollte er die Hoffnungen seiner Geliebten, wie sollte er seine feierlich ertheilten Zusagen erfüllen? — Er hatte keine Antwort auf diese Fragen.

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