V.

Nach der Abreise des Verlobten trat in dem Landhause eine Zeit stillen Lebens ein, wie es entsagende Gemüther zu führen pflegen. Mutter und Tochter füllten die Stunden mit ihren gewohnten Beschäftigungen aus; sie begnügten sich aber, nur das Nöthigste mit einander zu reden, und überließen sich meist ihren Gedanken. Es war eine Zeit, wo man das Ticken der Stubenuhr am Tage öfter hörte als sonst, aber für die Liebende zugleich eine Zeit wundersamer Empfindungen. Eine solche Existenz hat ihre eigenen Reize. Ergebung und Hoffnung können das Leid der Entbehrung versüßen und den Geist oft zu unerwartet lichten Anschauungen führen. Die Werke der Kunst, die Schönheit der Natur wirken eindringlicher auf das weiche Gemüth und erheben es über bedrückende Gefühle, die tröstenden Einflüsse der Religion finden ein bereiteres Herz.

Hie und da wurde der sanfte Fluß dieses Lebens freilich durch einen Mißton unterbrochen und getrübt, indem die Mutter sich nicht enthalten konnte, in eine sorgliche Stimmung zurückzufallen und über den Abwesenden Bemerkungen hören zu lassen, in denen sie das schon Zugestandene zum Theil wieder zurücknahm. Anna schwieg dazu; sie wußte, daß dergleichen Anwandlungen am schnellsten vergehen, wenn sie keinen Widerspruch erfahren. Fühlte sie sich betrübt, so suchte sie die Gesellschaft des alten Dieners auf, der an Arthur mit rührender Zärtlichkeit hing und ihn im Gespräch mit ihr um so mehr erhob, als er sah, wie sehr es die junge Herrin beglückte.

Die Zeit bewährte zuletzt auch hier ihre beruhigende Macht und erleichterte die Gefühle Aller. Die Sorge um jemand setzt ohnehin eine Kenntniß von seiner Lage voraus. Wir sorgen nur um Personen in unserer Nähe und um entfernte nur in so weit, als wir sie geistig bei ihren Unternehmungen begleiten können. Die Abwesenden, bei denen dieß nicht der Fall ist, übergeben wir der Obhut Gottes und vertrauen schon darum, weil uns nichts anderes übrig bleibt. Vielleicht war dieß einer der Gründe, warum Arthur über sein Vorhaben nichts Bestimmtes aussagen wollte.

Der Umgang der Baronin bestand jetzt nur aus wenig Personen. Hauptsächlich verkehrte sie mit dem Rentier, der die Familienbilder und sonstige werthvolle Mobilien Arthurs bewahrte und sich in allen Stücken als sein väterlicher Freund bewiesen hatte. Umgeben von den Vorfahren desselben, gedachte man des Abwesenden und die Baronin erging sich gelegentlich in Vermuthungen. Arthur hatte auch seinem Wirthe nichts Näheres über sein Vorhaben mitgetheilt, aber dieser war durch einen zufällig entschlüpften Ausdruck auf eine Spur gekommen, die er für die richtige hielt. Eben darum ließ er vor den Damen nichts davon merken und verschwieg auch was er wußte: daß Arthur für den Fall seines Todes über die Hälfte seines Vermögens, die bei ihm angelegt war, zu Gunsten Annas verfügt hatte.

Von Zeit zu Zeit sah die Baronin den Pfarrer von Waldfels, einen milden und verständigen Seelenhirten, der ebenfalls mit Liebe an dem freiherrlichen Hause, besonders an Arthur hing. Ihr Verkehr mit der Familie Pranger beschränkte sich auf höfliches Grüßen, wenn sie sich zufällig an einem dritten Ort sahen. Die Baronin hörte nur von andern, wie es im Schlosse immer hoch hergehe, wie Herr von Pranger sich Weihrauch streuen lasse, die jungen Herrn übermüthige Streiche machten, und nur die Mutter eine gutmüthige Frau sey, der man nichts vorwerfen könne, als eine allzugroße Verliebtheit in ihre Kinder.

Es war mitten im Sommer. Die Baronin und Anna saßen im Zimmer beisammen und hatten eben von der Einsamkeit gesprochen, in der sie gelassen würden, als zu ihrer großen Ueberraschung Frau von Pranger mit ihrer Tochter bei ihnen vorgefahren kam. Sie erkundigte sich mit Wärme nach dem Befinden der Damen, verweilte über eine Stunde und bat sie zuletzt mit aller Herzlichkeit um einen Besuch in Waldfels. Die Baronin sagte höflich zu und rieth nach ihrer Entfernung hin und her, was wohl der Zweck dieses plötzlichen Entgegenkommens seyn möchte. Auch während des Gegenbesuchs im Schlosse, wo man sie mit Freundschaft überhäufte, sah sie nicht klarer, wohl aber hatte Anna, mit welcher August, der ältere Sohn des Hauses, sich unterhielt, eine Vermuthung, die der Wahrheit nahe kam.

Um das Folgende begreiflicher zu machen, müssen wir erwähnen, daß in der letzten Zeit das Gerücht aufgetaucht war, die Verlobung zwischen dem jungen Waldfels und Anna von Holdingen sey wieder rückgängig geworden, indem beide Theile eingesehen hätten, daß sie gegenseitig ihrem Glück im Wege ständen; der Abschied, den sie im Posthofe von einander genommen, sey der letzte überhaupt gewesen. Diese Fabel war auch nach Waldfels gedrungen und dort wahrscheinlich gefunden worden. August von Pranger, auf den Anna schon beim ersten Anblick einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht hatte, sah sie nun mit andern Augen an, als er sonst wohl gethan hätte, und die Folge war, daß er bei der nächsten zufälligen Begegnung sein Herz gänzlich an sie verlor. Ein Bekannter, dem er das erwähnte Gerücht mittheilte, bestritt die Wahrheit desselben mit gewichtigen Gründen, aber das konnte ihn jetzt auf seinem Weg nicht mehr aufhalten. Im Gefühl seiner selbst faßte er den Beschluß, den Kampf, wenn davon noch die Rede seyn könne, mit dem Abwesenden zu wagen und sich um die Gunst des schönen Fräuleins zu bewerben. Er öffnete sein Herz vor allem der Mutter, deren Liebling er war, und machte von seiner Flamme und der Pein, die er leide, eine so ergreifende Schilderung, daß die gute Dame bald den Versuch aufgab, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Sie bedachte, daß eine Verbindung mit der alten Familie Holdingen für sie ehrenvoll und dem Fräulein ein gesichertes Loos mit ihrem Sohn zu wünschen sey. Nachdem sie ihre Hülfe zugesagt, rückte man hinter den Vater und brachte ihn endlich zu der Erklärung, daß sie in dieser Sache freie Hand haben sollten. Mutter und Sohn beriethen sich, und der unerwartete Besuch bei Frau von Holdingen war die Eröffnung des Feldzugs.

Anna sagte ihrer Mutter natürlich nichts von ihrer Muthmaßung, die ja auch eine trügerische seyn konnte, und so knüpfte sich zwischen den beiden Familien eine Beziehung, die verschiedene wechselseitige Besuche zur Folge hatte. Bei diesen warf aber August von Pranger seiner Ausersehenen zuletzt so glühend zärtliche Blicke zu, daß ein Zweifel über seine Gefühle nicht mehr möglich war. Anna mußte fürchten, daß es von Blicken zu Worten kommen würde, und sie faßte den Entschluß, seine Krankheit vor dem eigentlichen Ausbruch durch abkühlende Mittel zu heilen. Als er das nächstemal sich zu entschieden huldigenden Reden verstieg, behandelte sie dieß als eine galante Sprechübung, rühmte ihn wegen seiner Einfälle, rieth ihm aber, im Ausdruck nicht zu weit zu gehen, da die Uebertreibung der Zierlichkeit schaden müßte. Erneuten Versicherungen setzte sie erneuten Spott entgegen. Ein Unbefangener hätte dabei in ihren Zügen nicht nur die vollkommenste Gleichgültigkeit, sondern zugleich eine Andeutung von Geringschätzung erblicken müssen; aber Verliebte sind dafür bekannt, daß sie alles, was überhaupt noch einer Auslegung fähig ist, zur ihren Gunsten auslegen. Der junge Herr sah in der scherzenden Abweisung nichts als eine Art von Koketterie, die ihn locken wolle, und er beschloß, dem vorausgesetzten Wunsche zu entsprechen.

Eines Tages begab er sich ohne Begleitung nach dem Landhause. Er wußte es zu machen, daß er mit Anna allein im Garten war, und ergoß sein Herz in einer leidenschaftlichen Erklärung, die mit der Bitte um ihre Liebe und ihre Hand schloß. Anna, die von ihren Mitteln doch eine andere Wirkung erwartet hatte, war hochbetroffen. Der Ausdruck ihres errötheten Gesichts verrieth, daß sich nicht nur die Liebende, sondern auch der Sprößling einer alten Familie beleidigt fühlte, und mit dem Stolz beider erwiederte sie: „Herr von Pranger, Sie wissen, daß ich mit meinem Vetter, dem Herrn von Waldfels, verlobt bin. Sie haben selbst die Ehre gehabt, den Baron zu sehen und kennen zu lernen. Und nun frag’ ich Sie: was hat Ihnen den Muth gegeben, der Braut eines solchen Mannes einen solchen Antrag zu machen?“ Der junge Mensch sah sie bestürzt an. Anna fuhr fort: „Ich kann mir denken, daß ein längeres Verweilen in unserem Hause Ihnen nicht angenehm seyn wird. Nehmen Sie die Ueberzeugung mit sich, daß dieser Vorgang für die ganze Welt ein Geheimniß bleiben wird, nur für meine Mutter nicht, der ich ihn mitzutheilen verpflichtet bin.“ — Nun regte sich der Stolz auch in dem Abgewiesenen; er suchte seinem glühenden Gesicht den Ausdruck der Geringschätzung zu geben, verbeugte und entfernte sich.

Anna ging zu ihrer Mutter und erzählte ihr das Erlebniß. Die Baronin hörte mit Entrüstung zu und sagte zuletzt: „Das war also der Grund dieser plötzlichen Freundlichkeit? Ich hätte mir’s denken sollen, daß irgend etwas Unedles dahinter verborgen war.“ Mit trübem Lächeln setzte sie hinzu: „Wie unersättlich diese Menschen sind! Sie haben dem jungen Mann sein Stammgut abgenommen, und nun wollen sie ihm auch die Verlobte nehmen!“ — Anna bemerkte mit Ernst: „Für diese Absicht, glaub’ ich, sind sie genug, vielleicht zu sehr gestraft.“ — —

Die kleine Episode hatte für die Baronin doch eine nachtheilige Folge: der Aufenthalt im Landhause begann ihr verleidet zu werden. Schon das Gerede, das ihr plötzlicher Bruch mit der Familie Pranger veranlaßte, mußte ihr unangenehm seyn. Dazu kam aber noch, daß diese Familie sich anstrengte, die erlittene Niederlage durch Siege auf einem andern Gebiete wieder gut zu machen, und daß ihr dieß vollkommen gelang. Es gab jetzt zu Waldfels mehr Festlichkeiten, als anfangs im Plane lag, und Speisen und Getränke wurden immer vortrefflicher. Die Wirthe bemühten sich nun auch mehr, die Gäste artig zu behandeln, alle Glieder der Familie nahmen sich möglichst zusammen, und bald ertönte die ganze Gegend von ihrem Lob. Es traten geschworene Anhänger des Hauses Pranger auf, die den Chef desselben viel höher stellten, als den verstorbenen Baron, die Mutter als die ausgezeichnetste Dame und die drei Kinder als die liebenswürdigsten Sterblichen priesen. Der Reichthum hat so viele Hülfsmittel!

Als die Baronin von dem Zulauf und dem Vergnügen in Waldfels hörte, hatte sie eine verdrießliche Empfindung. Sie konnte sich nicht enthalten, mißliebige Bemerkungen über die gebildete Welt der Umgegend zu machen und Einzelne zu nennen, von denen sie das wiederholte Erscheinen im Schlosse nicht erwartet hätte. Anna versetzte lächelnd: „Kannst du dich darüber wundern, daß diesen Herrn der Wein noch eben so gut schmeckt wie früher? Und wenn sie den Wirth dafür loben, so ist das hübsch: es beweist, daß sie dankbar sind.“ — „Allerdings,“ erwiederte die Mutter. „Wer diesen Leuten gut zu essen und zu trinken gibt, der ist ihr Götze, und dem Götzen wird geräuchert. Aber Herrn von A. und Herrn von O. hätt’ ich’s nicht zugetraut.“ — Anna wiegte das Haupt und schwieg.

Bald erfuhr man, daß August von Pranger einer neuen und milderen Schönheit, der Tochter des Herrn von A. seine Huldigung zuwende. Die Baronin sagte lächelnd zu Anna: „Er hat sich getröstet.“ — „Gott sey Dank,“ versetzte diese heiter, „daß ich ihn nicht mehr auf dem Gewissen habe.“ — Eine Woche später wurde bekannt, daß Herr von O. sich mit Fräulein von Pranger verlobt habe und die Hochzeit noch in diesem Jahre gefeiert werden solle. Die Baronin sagte: „Nun begreif’ ich die eifrigen Besuche dieses Herrn bei dem Bankier und finde sie verständig. Er braucht einen solchen Schwiegervater.“ Ein Verziehen der Oberlippe zeigte jedoch an, daß ihr diese Nachricht übel gemundet hatte. Ihre gute Laune verlor sich mehr und mehr. Wenn wir bedenken, daß sie in der zweiten Hälfte des Lebens stand und sich auf bloße Hoffnungen angewiesen sah, während ihre Gegner reeller Güter sich erfreuten, so werden wir ihre Stimmung begreifen. Anna mußte sich Mühe geben, den Geist der Mutter oben zu erhalten; allein glücklicherweise kam ihr das Schicksal zu Hülfe.

An einem Herbstmorgen wurde dem guten Mädchen ein Brief überbracht, bei dessen Anblick ihre Augen strahlten. Er war von Arthur, aus London datirt und die ersten Worte ein freudiger Zuruf. Die Glückliche verschlang ihn und eilte jubelnd damit zur Mutter. Diese las und ihr Gesicht klärte sich einigermaßen auf. „Es ist gut,“ sagte sie zuletzt; „aber nach der Freude, die du gezeigt hast, würde ich schon die Meldung eines glücklichen Resultats erwartet haben.“ — „O,“ rief das Mädchen, „ich bin damit vollkommen zufrieden!“

Die Stellen des Briefes, die für uns von Interesse sind, lauteten: „Ich bin in einer eigenen Lage. Ich möchte dir täglich schreiben, wie ich immer an dich denke; allein ich müßte dann von meinem Thun und Treiben reden, müßte dir Gedanken mittheilen, die sich darauf beziehen — und ich hab’ nun einmal das Gelübde gethan zu schweigen. Laß mich dem gefaßten Entschluß treu bleiben, wie es auch mit den Gründen dazu beschaffen sey. Unser Schicksal ist ungewöhnlich, mag es auch unser Verhältniß und unser Verhalten seyn. Ich habe dein geliebtes Bild stets vor Augen, all mein Dichten und Trachten bezieht sich auf dich, jede Mühe wird mir durch dich versüßt, meine ganze Existenz durch dich verklärt. Wenn du wüßtest, wie oft ich mich glücklich preise und wie ich dir danke!..... Ich kann dir nun melden, daß ich meinen vorläufigen Zweck hier erreicht habe und in den nächsten Tagen unter guten Anzeichen an den Ort meiner Bestimmung abgehe. Es wird eine weite Reise seyn, und lange kann es dauern, bis ein zweites Schreiben von mir in deine Hände kommen wird. Aber ich spreche dir nicht Muth zu; ich weiß ja, daß du mir vertraust, und für diejenigen, die sich lieben und vertrauen, ist die Entfernung nichts, denn sie sind im Geist innigst beisammen. Was hilft es, wenn man sich leiblich nahe ist und in Gedanken getrennt? Wenn ich aber dein Bild im Herzen hege, wenn ich fühle, daß du mich im Herzen trägst, wenn ich mit dir rede, Gedanken tausche, dann empfind’ ich eine unaussprechliche Lust. Und ich weiß dann: was im Geist ist, das wird für die, welche ausharren, zuletzt in Wirklichkeit seyn.“

Ich überlasse den Leserinnen die Entscheidung, ob dieser Brief trotz der Schlichtheit seiner Sprache nicht darnach angethan war, das Mädchen zu beglücken. Für die Mutter, die nur relativ zufrieden gestellt war, hatte das gewogene Schicksal noch eine andere Gabe bereit. Zwei Tage später wurde ihr amtlich gemeldet, daß ihr die verstorbene Frau von B. das Gut Schönbach vermacht habe. Sie empfand große Freude und eine unendliche Beruhigung. Nun war die Tochter gesichert! Und selbst wenn Arthur ohne Erfolg heimkehrte, war die Verbindung der Kinder möglich. Allerdings war Schönbach nur ein kleines Gut, es hatte kein volles Hundert Morgen Landes; aber die Einkünfte reichten doch für den Anfang hin und Arthur hatte einen Ausgangspunkt für weitere Unternehmungen. Wie schön war es von der hochbetagten Verwandten, daß sie sich vor ihrem Ende noch ihrer erinnert hatte! Um so schöner, als die seltsame Frau vor mehreren Jahren ihr eine Aeußerung übel genommen und den Verkehr mit ihr abgebrochen hatte. Die Baronin wurde durch die Vorstellung dieser Großmuth so gerührt, daß ihr Thränen in die Augen kamen, die freilich bald wieder versiegten. Mit beinahe kindlicher Lebhaftigkeit theilte sie der von einem Spaziergang heimkehrenden Tochter die gute Neuigkeit und ihren Entschluß mit, das Landhaus zu verkaufen und schon diesen Herbst nach dem fünfundzwanzig Meilen südlicher gelegenen Schönbach zu ziehen. Anna war sehr erfreut; sie sah, daß die gute Mutter nun wieder Boden unter sich fühlte, daß ihr heiterer Sinn wiedergekehrt war, um sie hoffentlich nicht wieder zu verlassen. Der neue Beweis eines günstigen Schicksals erhob ihre Seele. Wie gern hätte sie dem Geliebten die Nachricht mitgetheilt, ihn vielleicht zurückgerufen! Aber sie kannte seine Adresse nicht und mußte ihn seinen Gang gehen lassen.

Die erste Person, welche die Baronin mit dem Glücksfall und ihrem Vorhaben bekannt machte, war der Rentier. Dieser fügte dem Ausdruck seiner Freude die Bitte hinzu, das Landhaus ihm zu überlassen, und stellte zugleich ein Angebot, welches die Baronin für so günstig hielt, daß sie den Handel auf der Stelle abschloß. Mit baarem Geld versehen und um so vergnügter bereitete sie sich vor, die Erbschaft anzutreten und die Uebersiedelung zu bewerkstelligen. Sechs Wochen später finden wir sie in Schönbach eingerichtet. Das sogenannte Schlößchen war ein zweistockiges Haus am Ende des gleichnamigen Dorfes. Links und gegenüber lagen die nöthigen Wirthschaftsgebäude, rechts ein ziemlich großer Garten. Mutter und Tochter bewohnten die Zimmer des obern Stocks, die Räume des untern dienten den Bedürfnissen der Haushaltung.

Der Eintritt in andere Verhältnisse hat für ein lebendiges Menschenherz immer etwas Erfreuliches, um so mehr, wenn man einer unangenehmen Situation entgangen ist. Man hat neue Anschauungen, macht neue Bekanntschaften, sieht neue Arbeiten vor sich, und das Neue zeigt in der Regel zuerst die schönere Seite. — Die Baronin fühlte sich als Gutseigenthümerin gar wohl. Sie hatte einen Haushalt von acht Köpfen unter ihrem Befehl: einen Baumeister, zwei Knechte, zwei Mägde, einen Jungen, eine Köchin, die zugleich Kammerjungfer war, und den alten Diener. Die neuen Leute schienen brav und geschickt; der Baumeister namentlich zeigte großen Eifer für seinen Dienst. Scheuer, Böden und Keller waren gut versehen, das Vieh gesund. Der Winter stand vor der Thür, aber man war auf ihn gerüstet.

Der Winter war ziemlich streng, die Familie Monate hindurch eingeschneit. In der Einsamkeit, die nur durch wenige Besuche unterbrochen wurde, trat der in Anna liegende Hang zum Nachdenken hervor, und sie fand eine Lust darin, sich ihm hinzugeben. Beziehungen, in denen man sich auf Glauben und Hoffen angewiesen sieht, begünstigen ohnehin die Einkehr in sich selbst und die Vergeistigung des Menschen. Die höchsten Wünsche, die man hegt, finden jetzt nur Befriedigung im Seelenleben; wie natürlich, daß man dieses pflegt und hochhält. Und je mehr man äußerlich entbehrt, desto mehr gewinnt man innerlich. Je weniger man von der sinnlichen Wirklichkeit ergriffen ist, desto freier entfalten sich die Blüthen des Geistes. Wenn aber der Mann durch das Nachdenken über sich selbst, über Gott und Welt, rechtshin oder linkshin, zu dieser oder jener eigenthümlichen Ansicht geführt werden kann, so wird die weibliche Seele in der Regel zu einer religiösen Anschauung gelangen. Die Lehren der Religion werden ihr auf dem Wege des Nachdenkens entgegen kommen und der Lohn desselben wird seyn, daß sie in jene Lehren eine tiefere Einsicht gewinnt, daß sie in ihr lebendig, ihr wahres Eigenthum werden. — Das war bei Anna der Fall. Die Frucht ihres Nachdenkens bestand darin, daß das Verhältniß zu Gott, welches dem Christen durch seinen Glauben geboten und in gewissem Sinn anerzogen wird, für sie ein selbstständig gesuchtes und erlangtes wurde, daß ihr in dem, was sie bisher nur kindlich geglaubt hatte, ein neues Licht aufging, welches sie in ihrem Glauben befestigte.

Es wäre eine schöne Aufgabe für den Denker, die verschiedenen Arten, wie die Menschen sich zu Gott verhalten können, im Zusammenhang darzustellen und zu beurtheilen. Welch eine Reihe von Möglichkeiten — von der Denkweise, die vor der Welt Gott nicht sieht, ohne sich ihm ganz entziehen zu können, bis zu derjenigen, die vor Gott die Welt nicht sieht! Von der Religiosität solcher, die sich begnügen, Gott die äußere Ehre zu erweisen und sich nur in der Noth von Herzen an ihn wenden können, bis zu der Innigkeit des Frommen und Weisen, der erkennend und liebend in Gott lebt! Wie viele Abstufungen sind in jeder Hauptrichtung möglich, und wie erscheint jede derselben in der Wirklichkeit motivirt und charakteristisch! — Die Religiosität, die ihrer selbst mächtig, die der Gerechtigkeit und Milde gegen die Welt fähig ist, ohne an Kraft und Wärme zu verlieren, wird immer als das Ziel des Menschen erkannt werden. Die Gesinnung, die sich in und mit dieser Religiosität erzeugt, bewährt sich als ein Segen für jede, auch für die beste Natur; denn auch in der besten Natur sind Gefühle und Neigungen, denen man sich arglos hingeben kann, die aber erst eine Prüfung auszuhalten und eine Richtung zu empfangen haben. Durch die Richtung auf das religiöse Ziel werden die selbstsüchtigen Triebe zurückgedrängt, die guten geklärt und erhöht und der Geist tüchtig gemacht für alle Beziehungen des Lebens.

Als der Winter seinem Ende nahte, konnte Anna bei einem Einblick in ihr Inneres erkennen, daß mit ihr eine Verwandlung vorgegangen war. Ihr Vertrauen auf Gott war befestigt und klar geworden. In der Prüfung, der sie sich früher nur unterworfen hatte, erkannte sie den heilvollen Zweck und pries den Willen, der sie dazu berufen. Der Glaube an den entfernten Verlobten, an seine Liebe und Treue, an sein Glück, an die Krönung ihrer gemeinsamen Wünsche, hatte einen wesentlich heitern Charakter erhalten, und nicht selten war es ihr, als ob alles, was sie hoffte, schon erfüllt wäre.

Der Frühling kam und entfaltete sich bald in aller Schönheit. Der Mai verdiente dießmal seinen Namen des Wonnemonats, was bekanntlich nicht in jedem Jahr der Fall ist. Es begann die arbeit- und freudenreiche Zeit des Dorflebens. Mutter und Tochter theilten sich in die Pflichten der Herrschaft. Jene behielt sich das oberste Regiment vor und notirte Ausgaben und Einnahmen; die Tochter leitete die Arbeiten im Garten. Mit Hülfe des alten Dieners und einer Magd war sie hier so thätig, daß nach einiger Zeit Küchen- und Ziergewächse, Bäume, Sträucher und Spaliere gleich gut im Stande waren. Ihre Spaziergänge liebte sie nach ihren eigenen Feldstücken zu richten, und wenn ihr eines üppig entgegen glänzte, so wurde das Wohlgefallen an seiner Schönheit noch gar sehr durch den Gedanken erhöht, daß Boden und Frucht ihr gehörten. Es war ein neues, angenehmes und heimliches Gefühl für sie. Die Heuernte, eine der fröhlichsten Arbeiten, wenn sie vom Wetter begünstigt wird, begleitete sie von Anfang bis zu Ende.

Bei diesen Beschäftigungen war es natürlich, daß sie mit verschiedenen Dorfleuten näher bekannt wurde. Sie fand unter Weibern und Mädchen solche, mit denen gut verkehren war, die sie zu sich einlud und selber besuchte. Man unterhielt sich über Haus- und Feldwirthschaft, über gewöhnliche und ungewöhnliche dörfliche Vorgänge. Anna freute sich, von dem Leben und Treiben ihrer Bekanntschaften, von Leid und Freud dieser Existenzen eine Anschauung zu erhalten. Sie mußte über sich selber lächeln, wenn sie bedachte, daß sie eines solchen Umgangs noch vor einem Jahr nicht fähig gewesen wäre und in der Mitte der Bäuerinnen schwerlich ein anderes Gefühl gehabt hätte, als das des Höherstehens und der Herablassung. Jetzt bewirkte die Gemeinsamkeit der ökonomischen Interessen eine gewisse Sympathie und Vertrautheit, und sie fühlte, daß ein solches Verhältniß nicht nur besser, sondern auch nützlicher sey. Ganz mit Recht; das bloße Herabsehen läßt geistig arm, das Herabsteigen zu wohlwollender Theilnahme befreit und bereichert. — Nach und nach hatten sich auch verschiedene andere Bekanntschaften mit gebildeten Familien der Umgegend geknüpft. Es fanden sich ältere und junge Männer in Schönbach ein, die der Baronin ihren Respekt, der schönen Tochter galante Aufmerksamkeit bezeigten. Die beiden Damen konnten nicht umhin, zuweilen an geselligen Partien Theil zu nehmen, und sahen, daß es ihnen eben so wenig an Unterhaltung wie an Arbeit fehlte.

In der letzten Zeit wurde das frohe Leben in Schönbach nur dadurch gestört, daß von Arthur keine Nachricht einging. Obwohl Anna nach dem ersten Brief sich darein ergeben hatte, lange ohne Kunde zu bleiben, obwohl sie mit Vertrauen und Muth gerüstet war, so fing sie doch endlich an besorgt zu werden. Das Ziel seiner Reise mochte seyn, welches es wollte, für den Fall glücklicher Erreichung desselben sollte eine Meldung schon eingetroffen seyn. War das Schreiben verloren gegangen? Oder hielt sich Arthur gar nicht verpflichtet, seine Ankunft zu melden? Wollte er erst ein glückliches Ergebniß seiner Unternehmung abwarten? — Die Beruhigung der Verlobten erfolgte jedoch bald, indem der ersehnte Brief ankam. Er war aus Calcutta, bezog sich auf ein früheres, von dort abgesandtes Schreiben und bestätigte somit die erste Vermuthung Annas. Die Hauptstellen darin lauteten:

„Ich lebe ganz der Thätigkeit, die ich mir erwählt. Mit jedem Tag wird sie mir interessanter und lieber. Wenn man die Gabe besitzt, sich von einer Unternehmung eine schöne Vorstellung zu machen, so hat man freilich bei der Ausführung noch gar manche Probe zu bestehen. Denn hier gibt es Arbeit und Mühe und unangenehme Erfahrungen. Die Begeisterung entflieht zuweilen gänzlich und man hat Augenblicke, wo man von dem Gefühl gepeinigt wird, als habe man sich in der Wahl seines Berufs vergriffen. Doch das dauert nicht; es ist nur der Rauch, der aufsteigt, so lange die Flamme das Holz noch nicht ganz ergriffen hat. Die Arbeit wird geläufiger, man fühlt sich den Schwierigkeiten gewachsen, und nun stellt sich auch die Freude wieder ein; man findet, daß die erwählte Thätigkeit in der Wirklichkeit so schön ist, wie sie in der Vorstellung war, ja schöner noch. — Ich stehe im Anfang, und doch habe ich schon eine so fröhliche Ansicht gewonnen. Das ist mir Bürge, daß ich sie nicht mehr verliere, daß mein Beruf mir halten werde, was ich mir davon versprochen..... Wie entzückend ist es, die ersten Schritte gelingen zu sehen zu einem muthig gesteckten Ziel und bei jedem Schritt die Empfindung zu haben, daß er näher dem Momente bringt, wo die Träume eines liebevollen Herzens sich erfüllen werden! O theure Braut! mein Metier kann sich freilich nicht schmeicheln, daß ich es um seiner selbst willen liebe. Hinter all meinem Thun und Treiben glänzt mir die Sonne eines glücklichen Wiedersehens und vergoldet seine Umrisse. Aber in diesem Schein liebe ich es doch und die Wirkung ist dieselbe.“

Als das glückliche Mädchen ihren Brief der Mutter zeigte, rief diese beim ersten Blick in ihn: „Ah, Calcutta!“ Sie las ihn mit Aufmerksamkeit und gab ihn mit ernster, aber zufriedener Miene wieder zurück. Nicht länger stand sie an, gegen die Tochter ihre Meinung über den erwählten Beruf Arthurs auszusprechen. Er sey offenbar in die indisch brittische Armee getreten und habe eine Carrière eingeschlagen, die zwar der Gefahren mancherlei, aber dafür auch die Hoffnung ungewöhnlicher Erfolge biete. Das Blut der Waldfels habe sein Recht verlangt und sie wolle es nicht tadeln. Eben darum hätte er aber keine Ursache gehabt, die Wahl dieses Berufs ihnen zu verschweigen. Wenn die Gefahr auf dem Pfade der Ehre liege, so sey sie kein Schreckbild für ein edelgeborenes Weib. — Anna schwieg; sie konnte die Sicherheit der Mutter nicht theilen, wußte aber auch keine andere bestimmte Ansicht entgegenzustellen. Sie fühlte nur, was der Geliebte auch erwählt hatte, es war das Rechte.

In ihrer Antwort schilderte sie ihm auf seinen Wunsch genau, was sie bisher erlebt und gethan; sie war mit Liebe ausführlich. Nach einem reizenden Gemälde des Lebens in Schönbach erklärte sie ihm, daß er nun die Wahl habe zwischen großen Hoffnungen und einem bescheidenen Besitz. Sie sage ihm dieß nur für den Fall, daß die Aussichten in der Fremde sich trübten, und habe keineswegs die Absicht, ihn von dem einmal gefaßten Entschluß abzubringen.

Zur Erhaltung der Heiterkeit, die mit dem Briefe Arthurs im Hause der Baronin eingekehrt war, trug nicht wenig bei, daß die Getreideernte eben so glücklich von statten ging, wie die Heuernte, zuletzt auch die Einsammlung der Herbstfrüchte. Frau von Holdingen war sehr zufrieden gestellt und lernte eine neue Schönheit der Landwirthschaft in guten Einnahmen kennen, die nach und nach in ihre Kasse flossen. Anna, die es sich nicht versagen konnte, den Arbeiten zu folgen, hatte trotz der Schutzmittel gegen die Sonne einen etwas gebräunten Teint erhalten. Die Mutter schüttelte lächelnd den Kopf und meinte, sie sey eine ganze Bäuerin geworden. Die eleganten Herrn der Umgegend schienen sie aber nicht weniger reizend zu finden, als vorher, und ein malender Dilettant, der sie einmal im Obstgarten sah, rief enthusiastisch: Pomona! —

In ähnlicher Art wie das eben geschilderte vergingen vier Jahre. Es waren in ökonomischer Hinsicht gute Jahre, wo beim Gedeihen des Ganzen einzelnes Unglück in Feld und Stall nicht in Betracht kommen konnte. Frau von Holdingen sah sich nicht nur in den Stand gesetzt, ihre häusliche Einrichtung zu verbessern und zu verfeinern, sondern zuletzt auch eine Summe Geldes auszuleihen. — Sie hatte dabei ein höchst behagliches Gefühl und blickte mit um so größerer Sicherheit in die Zukunft, als auch die Nachrichten von Arthur fortwährend günstig lauteten. — Von diesem liefen jährlich in der Regel zwei Schreiben ein, theils aus Calcutta, theils aus andern ostindischen Plätzen. Sie zeugten von der Unwandelbarkeit seiner Gesinnung, von der guten Laune, womit er die Mühen seines Berufes ertrug, von seinem immer vorwärts strebenden Geist. In dem ersten hatte er den Damen zu der Erwerbung von Schönbach gratulirt, aber heiter hinzugefügt, daß er sich nun erst recht aufgefordert fühle, für ein gehöriges Aequivalent zu sorgen. Die letzten Briefe meldeten, daß er viel im Lande herumgekommen, manche Gefahr bestanden und zu einem ansehnlichen Posten vorgerückt sey. Frau von Holdingen sah dadurch ihre Ansicht vollkommen bestätigt, fand es aber um so unbegreiflicher, daß er aus der Wahl seines Standes auch jetzt noch ein Geheimniß machen wolle und nicht einmal jenen ansehnlichen Posten, zu dem er sich aufgeschwungen, näher bezeichne. Anna setzte den Geliebten in Kenntniß von allem, was in ihrem Kreise geschah, und machte ihm bei natürlichen Anlässen auch Mittheilungen über ihr inneres Leben. Wenn sich diese Verlobten nun auch nicht so häufig schreiben konnten, wie andere, so waren ihre wenigen Briefe doch um so gehaltvoller und gedankenreicher.

Bei längerer Muße, zumal in Winterszeiten, ermangelte die Mutter nicht, an der weiteren Ausbildung ihrer Tochter für das höhere gesellige Leben zu arbeiten. Sie hatte die Freude, sich von dieser in Sprachen und sonstigen literarischen Kenntnissen eingeholt, zum Theil überflügelt zu sehen; aber noch immer vermißte sie manches in den Stücken, die zur Repräsentation gehören. Als sie einmal wieder eine Ausstellung zu machen hatte und eine Ermahnung folgen ließ, antwortete Anna mit einem Lächeln, das zu sagen schien, die Mutter lege diesen Dingen eine zu große Wichtigkeit bei. Die Baronin aber bemerkte gleichfalls heiter: „Man muß auf alles gerüstet seyn. Wenn dein Bräutigam mit einem Nabobsvermögen zurückkehrt und eine seinem Reichthum entsprechende Stellung im Vaterlande erlangt, so soll er eine Frau haben, die ihm durch die Würde und Grazie ihrer Erscheinung Ehre zu machen versteht.“

Die Gunst des Schicksals hat auf die meisten Herzen eine sichermachende Wirkung. Es gehört schon eine eigenthümliche Erfahrung und eine Gewohnheit des Nachdenkens dazu, wenn man in der Mitte guter Tage an die bösen denkt, die kommen möchten, und sich darauf gefaßt macht. Die hoffende und vertrauende Natur wird das in der Regel vergessen und glauben, was heute war, müsse auch morgen seyn, und doch ist die ungetrübte Dauer der Wohlfahrt das Seltene, ihre Störung das Gewöhnliche im Leben.

Der sechste Frühling, den Mutter und Tochter in ihrem Besitzthum verlebten, war von besonderer Schönheit. In den ersten Tagen des Mai sagte Anna zum Baumeister: „Wir werden ein sonniges Jahr haben.“ Dieser versetzte bedenklich: „Wenn wir nur nicht zu viel Sonne bekommen! Unsere Felder können eher noch einen nassen als einen gar zu trockenen Jahrgang ertragen, und ich fürchte —“ — „Keine schlimme Prophezeihung!“ fiel Anna ein. „Es ist noch immer recht geworden.“ — „Eben deßwegen,“ meinte der Baumeister, „kann es auch einmal schief gehen. Doch wir wollen das Beste hoffen.“

Der Himmel erfüllte nicht, was der gefällige Mann hoffte, sondern was der erfahrene fürchtete. Nach wenigen Wochen schon konnte sich Anna von den schlimmen Wirkungen der alleinherrschenden Sonne überzeugen. Die Feldfrüchte hatten eben zu der Zeit keinen Regen erhalten, wo sie dessen am meisten bedurften; sie waren zum großen Theil verdorrt, selbst auf den besten Plätzen verkümmert. Und das Jahr behauptete den einmal angenommenen Charakter. Regentage waren selten, die heißen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Bäche trockneten ein, der Boden bekam Risse, die Natur verschmachtete. Wie sehnsüchtig sahen die armen Bewohner der Gegend nach einer Wolke zum Himmel auf! Wie freuten sie sich, wenn sie endlich erschien und sich ausbreitete! Aber sie ging, wie sie gekommen, und später erfuhr man, daß sie ihren Segen anderswo niedergeströmt hatte. — Das Sonnenlicht, das die Welt verschönt und Aug und Herz erquickt, wurde den Menschen eine Qual, sein Wieder- und Wiedererscheinen fürchterlich.

Es war ein Mißjahr und hatte rings bedeutende Verluste zur Folge. Die Baronin, bei welcher die Ausgaben die Einnahmen ebenfalls erklecklich überstiegen, mußte die angelegte Summe zurückfordern und großentheils verbrauchen. Glücklicherweise hatten die benutzten guten Jahre die bemittelteren Familien in den Stand gesetzt, ein Fehljahr auszuhalten; die Noth wurde nicht so groß, als man besorgte, und an Frau von Holdingen kamen von armen Familien des Dorfes nur so viele Bittgesuche, als sie allenfalls befriedigen konnte. Sie wurde von der Tochter angetrieben, so viel als möglich zu thun; denn für diese hatte der Sommer wenigstens eine herrliche Frucht gebracht: ein Schreiben Arthurs, worin er meldete, daß ihn das Glück auf’s neue begünstigt, und daß er, wenn es so fortfahre, die geliebte Braut in zwei bis drei Jahren hoffe wiedersehen zu können. Ihr gerührtes Herz fühlte sich nun um so mehr gedrängt, zu helfen und Freude zu machen, wo sie konnte.

Der in diesem Jahre vergebens erflehte Regen kam im nächsten Frühling reichlich; schöne Tage fehlten nicht, man konnte sich ein fruchtbares Jahr versprechen. Leider überwog der Regen nach und nach, die schönen Tage wurden eine Ausnahme, der Segen des Feldes drohte in Nässe zu verkommen. Neue und schwerere Sorgen ängstigten die Herzen der Landleute. Es war nicht bloß der Schmerz über den Verlust, der sie quälte, es war auch das uneigennütze Leid: die Früchte, die so schön gewachsen, so kläglich verderben zu sehen. Und dieses Leid erneuerte sich fortwährend; denn es ist dem Landmann unmöglich, ein für allemal zu resigniren. Sobald die Wolken sich wieder ein wenig verziehen, hofft er wieder, und die Nichterfüllung schmerzt auf’s neue. Das stete Dunkel der Regentage wirkt an sich niederschlagend, und man möchte verzweifeln, wenn man es jeden Morgen die Welt verdüstern sieht.

Frau von Holdingen wurde in große Betrübniß versetzt. Sie konnte im Fall eines neuen Fehljahres Noth und Verlegenheit nicht vermeiden, und diese Vorstellung entriß ihr nicht selten unmuthsvolle Ausrufungen. Anna machte die Beobachtung, daß die Dorfleute das drohende Unglück mit mehr Ruhe ertrugen, und daß ihre Klagen gelassener waren, als die der Mutter. Sie wunderte sich über diesen Umstand, der doch ganz natürlich war. Diejenigen, die mehr gewohnt sind, ihren Willen und ihre Wünsche geltend zu machen, empfinden es um so schmerzlicher, wenn das Geschick sich ihnen entgegenstellt, während Schultern, die für gewöhnlich mit Lasten beschwert sind, einmal außergewöhnlich noch mehr tragen können.

Endlich hellte der Himmel sich auf und es kam eine Reihe schöner Tage. Das Wort des Baumeisters, daß die Felder von Schönbach noch eher Nässe als Dürre ertragen könnten, bewährte sich. Manches war verdorben, das übrige erholte sich wieder. Die Getreideernte begann und die Gesichter erheiterten sich, denn die Frucht war besser, als man erwartet hatte; aber kaum hatte man ein Drittel davon eingebracht, als ein Wetter am Himmel aufzog und ein Hagelschlag der stärksten Art alles, was noch draußen stand, im Lauf einer Viertelstunde vernichtete.

Wer ein solches Ereigniß miterlebt hat, der kann sich sagen, daß er die schrecklichste Erfahrung des Landmanns kennen gelernt. Was als bloße Vorstellung die Seele erbangen macht, das steht als grausame, unwiderrufliche Wirklichkeit vor Augen! Der herbste Verlust wird zugleich unter den erschütterndsten Formen erlitten! Dießmal wurde das ohnehin Fürchterliche des Schauspiels noch dadurch erhöht, daß die ungewöhnlich großen Hagelkörner auch die Ziegel auf den Dächern zerschlugen und das Zerknallen und Herabstürzen derselben das Getöse des Sturmes noch schauerlicher machte. Es war den armen Bewohnern des Dorfes, als ob die Welt untergehen sollte. Frau von Holdingen und Anna hatten sich bei den Händen gefaßt; ihre Gesichter waren erbleicht und ihre Seelen rangen mit dem Schrecken. Als die Betroffenen den Schaden besichtigten, erneuerte sich der Jammer: die Wirklichkeit übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Ein so vollkommener Verlust hat aber wenigstens das Gute, daß man die Pein des Verlierens mit einemmal absolvirt. Man hat in dieser Richtung nichts mehr zu hoffen, aber auch nichts mehr zu fürchten; die Sache ist abgethan und in dem gefolterten Herzen kann die Ruhe der Entsagung Platz nehmen. So fügten sich nun die armen Landleute in das Unabänderliche und suchten zu retten, was noch zu retten war.

Auch die Baronin trug das vollendete Unglück besser als das drohende, und war zunächst bemüht, die Mittel zur Fortführung ihres Haushalts herbeizuschaffen. Sie bedurfte einer namhaften Geldsumme und erhielt sie von dem befreundeten Rentier, mit dem sie von Zeit zu Zeit Briefe gewechselt hatte. Als der Bedarf durch Einkäufe gedeckt war, sah sie der Zukunft mit ruhigerem Herzen entgegen. — Es war dennoch ein trauriger Herbst. Zu dem trüben Gefühl, das eine verkümmerte Wirthschaft erregt und erhält, kam eine neue, schwerere Sorge. Seit dem vorigen Sommer war keine Nachricht von Arthur eingegangen. Man konnte freilich denken, daß wieder ein Brief verloren gegangen sey, oder daß der Verlobte Gründe gehabt habe, die Absendung eines Berichts zu verzögern. Allein in Folge des erlebten Unglücks und der Noth, welche die beiden Frauen mit Augen sahen, ohne ihr abhelfen zu können, waren ihre Seelen der Furcht zugänglicher geworden; sie ängstigten sich durch düstere Vorstellungen, über die sie sich nur mit Anstrengung wieder zu erheben vermochten.

Am Ausgang dieser Jahreszeit erhielten sie von dem Rentier eine Nachricht, die auch nur einen unerfreulichen Eindruck auf sie machen konnte. Herr von Pranger, dessen Vermögensverhältnisse durch die Lebensweise der Familie schon angegriffen waren, hatte in Folge großer Verluste, die er bei zwei Bankerotten erlitten, seine Zahlungen einstellen müssen; das Gut Waldfels befand sich in den Händen seiner Gläubiger. „Auch andere Leute haben Unglück,“ sagte Anna zur Mutter. „Mich dauert die Familie und namentlich die gute Frau.“ — „Und mich,“ bemerkte die Mutter, „dauert auch die schöne Besitzung, die jetzt dem Schicksal der Zertrümmerung schwerlich entgehen wird. Doch — das Unglück mag seinen Lauf nehmen!“

Die moralische und religiöse Kraft Annas wurde im Laufe des Winters auf die stärkste Probe gestellt. Sie erhielt keine Nachricht von dem Geliebten. Die Annahme, daß auch ihn ein Unglück betroffen habe, mußte für Anna an Wahrscheinlichkeit gewinnen, und sie erfuhr dabei, daß auch der festeste Wille nicht im Stande ist, das angefochtene Menschengemüth immer aufrecht zu erhalten; daß die Kraft des Menschen im glücklichsten Falle nur so weit reicht, aus den Niederlagen sich wieder zu erheben und weiter zu kämpfen. Ihr Leben wurde ein Wechsel von unüberwindlicher Trauer und von stiller Ergebung und Erhebung des Geistes. Wer Gott vertrauen gelernt, der wird sich freilich in dem Glauben, daß zuletzt alles ein gutes Ende finden werde, nicht erschüttern lassen; aber er muß darum nicht für nothwendig halten, daß schon im irdischen Leben die Krönung seiner Wünsche erfolgen werde. Für dieses Leben kann er, wie ja so viele seiner Mitmenschen, zum Unglück, zur Entsagung verurtheilt seyn. Je inniger er aber an jenen Wünschen hängt, um so peinvoller wird es für ihn seyn, an ihrer Erfüllung verzweifeln zu müssen, und nur in den geistigsten Momenten wird er seine Schmerzen unter sich drängen können.

Die Gemüthsbewegungen, denen das gute Mädchen ausgesetzt war, griffen zuletzt auch ihre Gesundheit an. Sie verlor die Farbe und die zierliche Rundung ihrer Wangen, den Glanz ihres Auges. Die Mutter sah sie mit Blicken tiefen Kummers an. Ein so edles Kind, ein so herrliches Geschöpf, sollte es wirklich um das Glück des Lebens betrogen und dem Leide geweiht seyn? — Traurig senkte sie das Haupt und ein schmerzlicher Seufzer entrang sich der Brust.

Es war nur eine Mehrung ihrer Betrübniß, als ein wohlhabender adeliger Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, der Anna schon früher eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet hatte, durch eine Verwandte anfragen ließ, ob sie seine Bewerbung mit günstigen Augen ansehen würde. Aus den Reden der Dame ging hervor, daß sowohl sie als ihr Cousin das Verhältniß Annas gelöst, d. h. von dem entfernten Verlobten aufgegeben glaubten und eben dadurch sich zu der Anfrage ermuthigt fühlten. Frau von Holdingen schüttelte bei dieser Eröffnung den Kopf und schwieg kummervoll. Den Mund Annas umspielte ein eigenes Lächeln und sie erwiederte: „Ich danke Herrn von ** für seine gütige Gesinnung; aber mein Verhältniß mit Arthur von Waldfels ist nicht gelöst und wird sich niemals lösen. Ich weiß, daß er gesinnt ist wie ich, daß er Treue halten wird bis zum letzten Athemzug. Wenn er aber todt wäre, so würde ich dennoch ihm und nie einem andern gehören.“ — —

Endlich begann ein neuer Frühling, und zwar so schön, daß auch die bedrücktesten Seelen sich etwas erleichtert fühlen mußten. Ein guter Jahrgang war an der Zeit und alle Anzeichen verhießen ihn. Als Frau von Holdingen bei einem gelegentlichen Blick in die leere Scheuer den Kopf schüttelte, sagte der Baumeister, der es bemerkt hatte: „Sie wird wieder voll werden. Ich prophezeie dießmal ein Jahr wie das erste, das Sie in Schönbach zugebracht haben.“

Die Prophezeiung traf ein, und doch sollte sich die erste Versicherung als eine Täuschung erweisen. In einer Nacht des Mai wurden die Bewohner des Schlößchens durch Feuerlärm geweckt. Es brannte im Nachbarhause. Als die Baronin aus dem Fenster sah, hatte die Flamme bereits auch ihre Wirthschaftsgebäude ergriffen. Mit größter Mühe wurden die Ställe geräumt und das Wohnhaus gerettet; von Scheuer und Viehhaus blieben nur die Mauern übrig. — Es heißt, kein Unglück komme allein, und dieser Spruch hat eine reiche Erfahrung für sich. Man kann die Thatsache aus der Natur und dem Zweck des Unglücks erklären, oft aber enthält das erste schon einfach den Keim des folgenden in sich. Im gegenwärtigen Fall hatte der Brand zu dem Hagelschaden eine genaue Beziehung. Frau von Holdingen hatte die zerschlagenen Ziegeldächer an den Wirthschaftsgebäuden vorläufig nur mit Stroh decken lassen und die rechte Wiederherstellung besseren Zeiten vorbehalten. Das Stroh hatte Feuer gefangen, wo Ziegel ohne Zweifel widerstanden hätten, bis Hülfe gekommen wäre; und so war der erste Verlust an dem zweiten Schuld geworden.

Das Wohlwollen, das die Baronin bei verschiedenen Gelegenheiten den Dorfleuten bewiesen hatte, wurde ihr jetzt vergolten. Die bemittelten Familien erboten sich eifrig, das obdachlose Vieh in ihre Ställe aufzunehmen. Gerührt machte sie von dem Anerbieten Gebrauch und im Anschauen der herzlichen Theilnahme fiel ein Schein des Trostes in ihre Seele. Aber dieser verschwand bald wieder. Die schlimmste Frucht des fortgesetzten Unglücks ist der Wahn, daß man ganz von Gott verlassen und einer unheilbringenden Macht verfallen sey. Wenn ein solcher Mißglaube in edlen Herzen nicht Wohnung nehmen kann, so kann er sie doch in einzelnen Momenten anfallen und zu Boden drücken. Noch immer war keine Nachricht von Arthur eingetroffen! Mußten die Frauenseelen, die all ihr Glück auf ihn gesetzt hatten, nicht endlich von Verzweiflung ergriffen werden? Mußte das Schreckbild seines Untergangs dem geängsteten Mädchen nicht näher und näher treten? Als der Dorfbote von der Post noch einmal zurück kam, ohne das ersehnte Schreiben mitzubringen, war die Kraft der Armen erschöpft und ohne Widerstand brach sie zusammen. Ihre Thränen flossen, als ob sie die Seele in ihnen hinströmen wollte. Die Mutter richtete sie auf und mit der Stärke der Pflicht und der Liebe hielt sie das unglückliche Kind in den Armen.

Share on Twitter Share on Facebook