KAPITEL XIV. Mass und Schrift

Die Kunst des Messens unterwirft dem Menschen die Welt; durch die Kunst des Schreibens hoert seine Erkenntnis auf, so vergaenglich zu sein, wie er selbst ist; sie beide geben dem Menschen, was die Natur ihm versagte, Allmacht und Ewigkeit. Es ist der Geschichte Recht und Pflicht, den Voelkern auch auf diesen Bahnen zu folgen.

Um messen zu koennen, muessen vor allen Dingen die Begriffe der zeitlichen, raeumlichen und Gewichtseinheit und des aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen, das heisst die Zahl und das Zahlensystem entwickelt werden. Dazu bietet die Natur als naechste Anhaltspunkte fuer die Zeit die Wiederkehr der Sonne und des Mondes oder Tag und Monat, fuer den Raum die Laenge des Mannesfusses, der leichter misst als der Arm, fuer die Schwere diejenige Last, welche der Mann mit ausgestrecktem Arm schwebend auf der Hand zu wiegen (librare) vermag oder das “Gewicht” (libra). Als Anhalt fuer die Vorstellung eines aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen liegt nichts so nahe als die Hand mit ihren fuenf oder die Haende mit ihren zehn Fingern, und hierauf beruht das Dezimalsystem. Es ist schon bemerkt worden, dass diese Elemente alles Zaehlens und Messens nicht bloss ueber die Trennung des griechischen und lateinischen Stammes, sondern bis in die fernste Urzeit zurueckreichen. Wie alt namentlich die Messung der Zeit nach dem Monde ist, beweist die Sprache; selbst die Weise, die zwischen den einzelnen Mondphasen verfliessenden Tage nicht von der zuletzt eingetretenen vorwaerts, sondern von der zunaechst zu erwartenden rueckwaerts zu zaehlen, ist wenigstens aelter als die Trennung der Griechen und Lateiner. Das bestimmteste Zeugnis fuer das Alter und die urspruengliche Ausschliesslichkeit des Dezimalsystems bei den Indogermanen gewaehrt die bekannte Uebereinstimmung aller indogermanischen Sprachen in den Zahlwoertern bis hundert einschliesslich. Was Italien anlangt, so sind hier alle aeltesten Verhaeltnisse vom Dezimalsystem durchdrungen: es genuegt, an die so gewoehnliche Zehnzahl der Zeugen, Buergen, Gesandten, Magistrate, an die gesetzliche Gleichsetzung von einem Rind und zehn Schafen, an die Teilung des Gaues in zehn Kurien und ueberhaupt die durchstehende Dekuriierung, an die Limitation, den Opfer- und Ackerzehnten, das Dezimieren, den Vornamen Decimus zu erinnern. Dem Gebiet von Mass und Schrift angehoerige Anwendungen dieses aeltesten Dezimalsystems sind zunaechst die merkwuerdigen italischen Ziffern. Konventionelle Zahlzeichen hat es noch bei der Scheidung der Griechen und Italiker offenbar nicht gegeben. Dagegen finden wir fuer die drei aeltesten und unentbehrlichsten Ziffern, fuer ein, fuenf, zehn, drei Zeichen, I, V oder A, X, offenbar Nachbildungen des ausgestreckten Fingers, der offenen und der Doppelhand, welche weder den Hellenen noch den Phoenikern entlehnt, dagegen den Roemern, Sabellern und Etruskern gemeinschaftlich sind. Es sind die Ansaetze zur Bildung einer national italischen Schrift und zugleich Zeugnisse von der Regsamkeit des aeltesten, dem ueberseeischen voraufgehenden binnenlaendischen Verkehrs der Italiker; welcher aber der italischen Staemme diese Zeichen erfunden und wer von wem sie entlehnt hat, ist natuerlich nicht auszumachen. Andere Spuren des rein dezimalen Systems sind auf diesem Gebiet sparsam; es gehoeren dahin der Vorsus, das Flaechenmass der Sabeller von 100 Fuss ins Gevierte und das roemische zehnmonatliche Jahr. Sonst ist im allgemeinen in denjenigen italischen Massen, die nicht an griechische Festsetzungen anknuepfen und wahrscheinlich von den Italikern vor Beruehrung mit den Griechen entwickelt worden sind, die Teilung des “Ganzen” (as) in zwoelf “Einheiten” (unciae) vorherrschend. Nach der Zwoelfzahl sind eben die aeltesten latinischen Priesterschaften, die Kollegien der Salier und Arvalen sowie auch die etruskischen Staedtebuende geordnet. Die Zwoelfzahl herrscht im roemischen Gewichtsystem, wo das Pfund (libra), und im Laengenmass, wo der Fuss (pes) in zwoelf Teile zerlegt zu werden pflegen; die Einheit des roemischen Flaechenmasses ist der aus dem Dezimal- und Duodezimalsystem zusammengesetzte “Trieb” (actus) von 120 Fuss ins Gevierte ^1. Im Koerpermass moegen aehnliche Bestimmungen verschollen sein.

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^1 Urspruenglich sind sowohl “actus” Trieb, wie auch das noch haeufiger vorkommende Doppelte davon, “iugerum”, Joch, wie unser “Morgen” nicht Flaechen-, sondern Arbeitsmasse und bezeichnen dieser das Tage-, jener das halbe Tagewerk, mit Ruecksicht auf die namentlich in Italien scharf einschneidende Mittagsruhe des Pfluegers.

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Wenn man erwaegt, worauf das Duodezimalsystem beruhen, wie es gekommen sein mag, dass aus der gleichen Reihe der Zahlen so frueh und allgemein neben der Zehn die Zwoelf hervorgetreten ist, so wird die Veranlassung wohl nur gefunden werden koennen in der Vergleichung des Sonnen- und Mondlaufs. Mehr noch als an der Doppelhand von zehn Fingern ist an dem Sonnenkreislauf von ungefaehr zwoelf Mondkreislaeufen zuerst dem Menschen die tiefsinnige Vorstellung einer aus gleichen Einheiten zusammengesetzten Einheit aufgegangen und damit der Begriff eines Zahlensystems, der erste Ansatz mathematischen Denkens. Die feste duodezimale Entwicklung dieses Gedankens scheint national italisch zu sein und vor die erste Beruehrung mit den Hellenen zu fallen.

Als nun aber der hellenische Handelsmann sich den Weg an die italische Westkueste eroeffnet hatte, empfanden zwar nicht das Flaechen-, aber wohl das Laengenmass, das Gewicht und vor allem das Koerpermass, das heisst diejenigen Bestimmungen, ohne welche Handel und Wandel unmoeglich ist, die Folgen des neuen internationalen Verkehrs. Der aelteste roemische Fuss ist verschollen; der, den wir kennen und der in fruehester Zeit bei den Roemern in Gebrauch war, ist aus Griechenland entlehnt und wurde neben seiner neuen roemischen Einteilung in Zwoelftel auch nach griechischer Art in vier Hand- (palmus) und sechzehn Fingerbreiten (digitus) geteilt. Ferner wurde das roemische Gewicht in ein festes Verhaeltnis zu dem attischen gesetzt, welches in ganz Sizilien herrschte, nicht aber in Kyme - wieder ein bedeutsamer Beweis, dass der latinische Verkehr vorzugsweise nach der Insel sich zog; vier roemische Pfund wurden gleich drei attischen Minen oder vielmehr das roemische Pfund gleich anderthalb sizilischen Litren oder Halbminen gesetzt. Das seltsamste und buntscheckigste Bild aber bieten die roemischen Koerpermasse teils in den Namen, die aus den griechischen entweder durch Verderbnis (amphora, modius nach μέδιμνος congius aus χοεύς, hemina, cyathus) oder durch Uebersetzung (acetabulum von οξύβαφον) entstanden sind, waehrend umgekehrt ξέστης Korruption von sextarius ist; teils in den Verhaeltnissen. Nicht alle, aber die gewoehnlichen Masse sind identisch: fuer Fluessigkeiten der Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden letzteren auch fuer trockene Waren, die roemische Amphora ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und steht zugleich im festen Verhaeltnisse zu dem griechischen Metretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1. Fuer den, der solche Schrift zu lesen versteht, steht in diesen Namen und Zahlen die ganze Regsamkeit und Bedeutung jenes sizilisch-latinischen Verkehrs geschrieben.

Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht auf; wohl aber benutzte der Roemer das griechische Alphabet, als ihm dies zukam, um aus den ihm unnuetzen Zeichen der drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50 und 1000, vielleicht auch die Ziffer 100 zu gestalten. In Etrurien scheint man auf aehnlichem Wege wenigstens das Zeichen fuer 100 gewonnen zu haben. Spaeter setzte sich wie gewoehnlich das Ziffersystem der beiden benachbarten Voelker ins gleiche, indem das roemische im wesentlichen in Etrurien angenommen ward.

In gleicher Weise ist der roemische und wahrscheinlich ueberhaupt der italische Kalender, nachdem er sich selbstaendig zu entwickeln begonnen hatte, spaeter unter griechischen Einfluss gekommen. In der Zeiteinteilung draengt sich die Wiederkehr des Sonnenauf- und -unterganges und des Neu- und Vollmondes am unmittelbarsten dem Menschen auf; demnach haben Tag und Monat, nicht nach zyklischer Vorberechnung, sondern nach unmittelbarer Beobachtung bestimmt, lange Zeit ausschliesslich die Zeit gemessen. Sonnenauf- und -untergang wurden auf dem roemischen Markte durch den oeffentlichen Ausrufer bis in spaete Zeit hinab verkuendigt, aehnlich vermutlich einstmals an jedem der vier Mondphasentage die von da bis zum naechstfolgenden verfliessende Tagzahl durch die Priester abgerufen. Man rechnete also in Latium und vermutlich aehnlich nicht bloss bei den Sabellern, sondern auch bei den Etruskern nach Tagen, welche, wie schon gesagt, nicht von dem letztverflossenen Phasentag vorwaerts, sondern von dem naechsterwarteten rueckwaerts gezaehlt wurden; nach Mondwochen, die bei der mittleren Dauer von 7⅜ Tagen zwischen sieben- und achttaegiger Dauer wechselten; und nach Mondmonaten, die gleichfalls bei der mittleren Dauer des synodischen Monats von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten bald neunundzwanzig-, bald dreissigtaegig waren. Eine gewisse Zeit hindurch ist den Italikern der Tag die kleinste, der Mond die groesste Zeiteinteilung geblieben. Erst spaeterhin begann man Tag und Nacht in je vier Teile zu zerlegen, noch viel spaeter der Stundenteilung sich zu bedienen; damit haengt auch zusammen, dass in der Bestimmung des Tagesanfangs selbst die sonst naechstverwandten Staemme auseinandergehen, die Roemer denselben auf die Mitternacht, die Sabeller und die Etrusker auf den Mittag setzen. Auch das Jahr ist, wenigstens als die Griechen von den Italikern sich schieden, noch nicht kalendarisch geordnet gewesen, da die Benennungen des Jahres und der Jahresteile bei den Griechen und den Italikern voellig selbstaendig gebildet sind. Doch scheinen die Italiker schon in der vorhellenischen Zeit wenn nicht zu einer festen kalendarischen Ordnung, doch zur Aufstellung sogar einer doppelten groesseren Zeiteinheit fortgeschritten zu sein. Die bei den Roemern uebliche Vereinfachung der Rechnung nach Mondmonaten durch Anwendung des Dezimalsystems, die Bezeichnung einer Frist von zehn Monaten als eines “Ringes” (annus) oder eines Jahrganzen traegt alle Spuren des hoechsten Altertums an sich. Spaeter, aber auch noch in einer sehr fruehen und unzweifelhaft ebenfalls jenseits der griechischen Einwirkung liegenden Zeit ist, wie schon gesagt wurde, das Duodezimalsystem in Italien entwickelt und, da es eben aus der Beobachtung des Sonnenlaufs als des Zwoelffachen des Mondlaufs hervorgegangen ist, sicher zuerst und zunaechst auf die Zeitrechnung bezogen worden; damit wird es zusammenhaengen, dass in den Individualnamen der Monate - welche erst entstanden sein koennen, seit der Monat als Teil eines Sonnenjahres aufgefasst wurde -, namentlich in den Namen des Maerz und des Mai, nicht Italiker und Griechen, aber wohl die Italiker unter sich uebereinstimmen. Es mag also das Problem, einen zugleich dem Mond und der Sonne entsprechenden praktischen Kalender herzustellen - diese in gewissem Sinne der Quadratur des Zirkels vergleichbare Aufgabe, die als unloesbar zu erkennen und zu beseitigen es vieler Jahrhunderte bedurft hat -, in Italien bereits vor der Epoche, wo die Beruehrungen mit den Griechen begannen, die Gemueter beschaeftigt haben; indes diese rein nationalen Loesungsversuche sind verschollen. Was wir von dem aeltesten Kalender Roms und einiger andern latinischen Staedte wissen - ueber die sabellische und etruskische Zeitmessung ist ueberall nichts ueberliefert -, beruht entschieden auf der aeltesten griechischen Jahresordnung, die der Absicht nach zugleich den Phasen des Mondes und den Sonnenfahrzeiten folgte und aufgebaut war auf der Annahme eines Mondumlaufs von 29½ Tagen, eines Sonnenumlaufs von 12½ Mondmonaten oder 368¾ Tagen und dem stetigen Wechsel der vollen oder dreissigtaegigen und der hohlen oder neunundzwanzigtaegigen Monate sowie der zwoelf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, daneben aber durch willkuerliche Aus- und Einschaltungen in einiger Harmonie mit den wirklichen Himmelserscheinungen gehalten ward. Es ist moeglich, dass diese griechische Jahrordnung zunaechst unveraendert bei den Latinern in Gebrauch gekommen ist; die aelteste roemische Jahrform aber, die sich geschichtlich erkennen laesst, weicht zwar nicht im zyklischen Ergebnis und ebenso wenig in dem Wechsel der zwoelf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, wohl aber wesentlich in der Benennung wie in der Abmessung der einzelnen Monate von ihrem Muster ab. Dies roemische Jahr beginnt mit Fruehlingsanfang; der erste Monat desselben und der einzige, der von einem Gott den Namen traegt, heisst nach dem Mars (Martius), die drei folgenden vom Sprossen (aprilis), Wachsen (maius) und Gedeihen (iunius), der fuenfte bis zehnte von ihren Ordnungszahlen (quinctilis, sextilis, september, october, november, december), der elfte vom Anfangen (ianuarius, 1, 178), wobei vermutlich an den nach dem Mittwinter und der Arbeitsruhe folgenden Wiederbeginn der Ackerbestellung gedacht ist, der zwoelfte und im gewoehnlichen Jahr der letzte vom Reinigen (februarius). Zu dieser im stetigen Kreislauf wiederkehrenden Reihe tritt im Schaltjahr noch ein namenloser “Arbeitsmonat” (mercedonius) am Jahresschluss, also hinter dem Februar hinzu. Ebenso wie in den wahrscheinlich aus dem altnationalen heruebergenommenen Namen der Monate ist der roemische Kalender in der Dauer derselben selbstaendig: fuer die vier aus je sechs dreissig- und sechs neunundzwanzigtaegigen Monaten und einem jedes zweite Jahr eintretenden, abwechselnd dreissig- und neunundzwanzigtaegigen Schaltmonat zusammengesetzten Jahre des griechischen Zyklus (354 + 384 + 354 + 383 = 1475 Tage) sind in ihm gesetzt worden vier Jahre von je vier - dem ersten, dritten, fuenften und achten - einunddreissig- und je sieben neunundzwanzigtaegigen Monaten, ferner einem in drei Jahren acht-, in dem vierten neunundzwanzigtaegigen Februar und einem jedes andere Jahr eingelegten siebenundzwanzigtaegigen Schaltmonat (355 + 383 + 355 + 382 = 1475 Tage). Ebenso ging dieser Kalender ab von der urspruenglichen Einteilung des Monats in vier, bald sieben-, bald achttaegige Wochen; er liess die achttaegige Woche ohne Ruecksicht auf die sonstigen Kalenderverhaeltnisse durch die Jahre laufen, wie unsere Sonntage es tun, und setzte auf deren Anfangstage (noundinae) den Wochenmarkt. Er setzte daneben ein fuer allemal das erste Viertel in den einunddreissigtaegigen Monaten auf den siebenten, in den neunundzwanzigtaegigen auf den fuenften, Vollmond in jenen auf den fuenfzehnten, in diesen auf den dreizehnten Tag. Bei dem also fest geordneten Verlauf der Monate brauchte von jetzt ab allein die Zahl der zwischen dem Neumond und dem ersten Viertel liegenden Tage angekuendigt zu werden; davon empfing der Tag des Neumonds den Namen des Rufetages (kalendae). Der Anfangstag des zweiten, immer achttaegigen Zeitabschnitts des Monats wurde - der roemischen Sitte gemaess, den Zieltag der Frist mit in dieselbe einzuzaehlen - bezeichnet als Neuntag (nonae). Der Tag des Vollmonds behielt den alten Namen idus (vielleicht Scheidetag). Das dieser seltsamen Neugestaltung des Kalenders zu Grunde liegende Motiv scheint hauptsaechlich der Glaube an die heilbringende Kraft der ungeraden Zahl gewesen zu sein ^2, und wenn er im allgemeinen an die aelteste griechische Jahrform sich anlehnt, so tritt in seinen Abweichungen von dieser bestimmt der Einfluss der damals in Unteritalien uebermaechtigen, namentlich in Zahlenmystik sich bewegenden Lehren des Pythagoras hervor. Die Folge aber war, dass dieser roemische Kalender, so deutlich er auch die Spur an sich traegt, sowohl mit dem Mond- wie mit dem Sonnenlauf harmonieren zu wollen, doch in der Tat mit dem Mondlauf keineswegs so uebereinkam, wie wenigstens im ganzen sein griechisches Vorbild, den Sonnenfahrzeiten aber, eben wie der aelteste griechische, nicht anders als mittels haeufiger willkuerlicher Ausschaltungen folgen konnte, und da man den Kalender schwerlich mit groesserem Verstande gehandhabt als eingerichtet hat, hoechst wahrscheinlich nur sehr unvollkommen folgte. Auch liegt in der Festhaltung der Rechnung nach Monaten oder, was dasselbe ist, nach zehnmonatlichen Jahren ein stummes, aber nicht misszuverstehendes Eingestaendnis der Unregelmaessigkeit und Unzuverlaessigkeit des aeltesten roemischen Sonnenjahres. Seinem wesentlichen Schema nach wird dieser roemische Kalender mindestens als allgemein latinisch angesehen werden koennen. Bei der allgemeinen Wandelbarkeit des Jahresanfangs und der Monatsnamen sind kleinere Abweichungen in der Bezifferung und den Benennungen mit der Annahme einer gemeinschaftlichen Grundlage wohl vereinbar; ebenso konnten bei jenem Kalenderschema, das tatsaechlich von dem Mondumlauf absieht, die Latiner leicht zu ihren willkuerlichen, etwa nach Jahrfesten abgegrenzten Monatlaengen kommen, wie denn beispielsweise in den albanischen die Monate zwischen 16 und 36 Tagen schwanken. Wahrscheinlich also ist die griechische Trieteris von Unteritalien aus fruehzeitig wenigstens nach Latium, vielleicht auch zu anderen italischen Staemmen gelangt und hat dann in den einzelnen Stadtkalendern weitere untergeordnete Umgestaltungen erfahren.

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^2 Aus derselben Ursache sind saemtliche Festtage ungerade, sowohl die in jedem Monat wiederkehrenden (kalendae am 1., nonae am 5. oder 7., idus am 13. oder 15.) als auch, mit nur zwei Ausnahmen, die Tage der oben erwaehnten 45 Jahresfeste. Dies geht so weit, dass bei mehrtaegigen Festen dazwischen die geraden Tage ausfallen, also z. B. das der Carmentis am 11., 15. Januar, das Hainfest am 19., 21. Juli, die Gespensterfeier am 9., 11., 13. Mai begangen wird.

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Zur Messung mehrjaehriger Zeitraeume konnte man sich der Regierungsjahre der Koenige bedienen; doch ist es zweifelhaft, ob diese dem Orient gelaeufige Datierung in Griechenland und Italien in aeltester Zeit vorgekommen ist. Dagegen scheint an die vierjaehrige Schaltperiode und die damit verbundene Schatzung und Suehnung der Gemeinde eine der griechischen Olympiadenzaehlung der Anlage nach gleiche Zaehlung der Lustren angeknuepft zu haben, die indes infolge der bald in der Abhaltung der Schatzungen einreissenden Unregelmaessigkeit ihre chronologische Bedeutung frueh wieder eingebuesst hat.

Juenger als die Messkunst ist die Kunst der Lautschrift. Die Italiker haben sowenig wie die Hellenen von sich aus eine solche entwickelt, obwohl in den italischen Zahlzeichen, etwa auch in dem uralt italischen und nicht aus hellenischem Einfluss hervorgegangenen Gebrauch des Losziehens mit Holztaefelchen, die Ansaetze zu einer solchen Entwicklung gefunden werden koennen. Wie schwierig die erste Individualisierung der in so mannigfaltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muss, beweist am besten die Tatsache, dass fuer die gesamte aramaeische, indische, griechisch-roemische und heutige Zivilisation ein einziges, von Volk zu Volk und von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanztes Alphabet ausgereicht hat und heute noch ausreicht; und auch dieses bedeutsame Erzeugnis des Menschengeistes ist gemeinsame Schoepfung der Aramaeer und der Indogermanen. Der semitische Sprachstamm, in dem der Vokal untergeordneter Natur ist und nie ein Wort beginnen kann, erleichtert eben deshalb die Individualisierung des Konsonanten; weshalb denn auch hier das erste, der Vokale aber noch entbehrende Alphabet erfunden worden ist. Erst die Inder und die Griechen haben, jedes Volk selbstaendig und in hoechst abweichender Weise, aus der durch den Handel ihnen zugefuehrten aramaeischen Konsonantenschrift das vollstaendige Alphabet erschaffen durch Hinzufuegung der Vokale, welche erfolgte durch die Verwendung von vier fuer die Griechen als Konsonantenzeichen unbrauchbarer Buchstaben fuer die vier Vokale a e i o und durch Neubildung des Zeichens fuer u, also durch Einfuehrung der Silbe in die Schrift statt des blossen Konsonanten, oder wie Palamedes bei Euripides sagt:

Heilmittel also ordnend der Vergessenheit

Fuegt ich lautlos’ und lautende in Silben ein

Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.

Dies aramaeisch-hellenische Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht worden und zwar durch die italischen Hellenen, nicht aber durch die Ackerkolonien Grossgriechenlands, sondern durch die Kaufleute etwa von Kyme oder Tarent, von denen es zunaechst nach den uralten Vermittlungsstaetten des internationalen Verkehrs in Latium und Etrurien, nach Rom und Caere gelangt sein wird. Das Alphabet, das die Italiker empfingen, ist keineswegs das aelteste hellenische: es hatte schon mehrfache Modifikationen erfahren, namentlich den Zusatz der drei Buchstaben ξ φ χ und die Abaenderung der Zeichen fuer υ γ λ ^3. Auch das ist schon bemerkt worden, dass das etruskische und das latinische Alphabet nicht eines aus dem anderen, sondern beide unmittelbar aus dem griechischen abgeleitet sind; ja es ist sogar dies Alphabet nach Etrurien und nach Latium in wesentlich abweichender Form gelangt. Das etruskische Alphabet kennt ein doppeltes s (Sigma s und San sch) und nur ein einfaches k ^4 und vom r nur die aeltere Form P; das latinische kennt, soviel wir wissen, nur ein einziges s, dagegen ein doppeltes k (Kappa k und Koppa q) und vom r fast nur die juengere Form R. Die aelteste etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet sich wie die Schlange sich ringelt, die juengere schreibt in abgesetzten Parallelzeilen von rechts nach links; die latinische Schrift kennt, soweit unsere Denkmaeler zurueckreichen, nur die letztere Schreibung in gleichgerichteten Zeilen, die urspruenglich wohl beliebig von links nach rechts oder von rechts nach links laufen konnten, spaeterhin bei den Roemern in jener, bei den Faliskern in dieser Richtung liefen. Das nach Etrurien gebrachte Musteralphabet muss trotz seines relativ geneuerten Charakters dennoch in eine sehr alte, wenn auch nicht positiv zu bestimmende Zeit hinaufreichen: denn da die beiden Sibilanten Sigma und San von den Etruskern stets als verschiedene Laute nebeneinander gebraucht worden sind, so muss das griechische Alphabet, das nach Etrurien kam, sie wohl auch noch in dieser Weise beide als lebendige Lautzeichen besessen haben; unter allen uns bekannten Denkmaelern der griechischen Sprache aber zeigt auch nicht eines Sigma und San nebeneinander im Gebrauch. Das lateinische Alphabet traegt allerdings, wie wir es kennen, im ganzen einen juengeren Charakter; doch ist es nicht unwahrscheinlich, dass in Latium nicht, wie in Etrurien, bloss eine einmalige Rezeption stattgefunden hat, sondern die Latiner infolge ihres lebhaften Verkehrs mit den griechischen Nachbarn laengere Zeit sich mit dem dort ueblichen Alphabet im Gleichgewicht hielten und den Schwankungen desselben folgten. So finden wir zum Beispiel, dass die Formen /W, P ^5 und E den Roemern nicht unbekannt waren, aber die juengeren AA, R und >, dieselben im gemeinen Gebrauch ersetzten; was sich nur erklaeren laesst, wenn die Latiner laengere Zeit fuer ihre griechischen Aufzeichnungen wie fuer die in der Muttersprache sich des griechischen Alphabets als solchen bedienten. Deshalb ist es auch bedenklich, aus dem verhaeltnismaessig juengeren Charakter desjenigen griechischen Alphabets, das wir in Rom finden, und dem aelteren des nach Etrurien gebrachten den Schluss zu ziehen, dass in Etrurien frueher geschrieben worden ist als in Rom.

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^3 Die Geschichte des Alphabets bei den Hellenen besteht im wesentlichen darin, dass gegenueber dem Uralphabet von 23 Buchstaben, das heisst dem vokalisierten und mit dem u vermehrten phoenikischen, die verschiedenartigsten Vorschlaege zur Ergaenzung und Verbesserung desselben gemacht worden sind und dass jeder dieser Vorschlaege seine eigene Geschichte gehabt hat. Die wichtigsten dieser Vorschlaege, die auch fuer die Geschichte der italischen Schrift im Auge zu behalten vor. Interesse ist, sind die folgenden.

I. Einfuehrung eigener Zeichen fuer die Laute ξ φ χ. Dieser Vorschlag ist so alt, dass mit einziger Ausnahme desjenigen der Inseln Thera, Melos und Kreta alle griechischen und schlechterdings alle aus dem griechischen abgeleiteten Alphabete unter dem Einfluss desselben stehen. Urspruenglich ging er wohl dahin, die Zeichen Χ ξι, Φ φι, Ψ χι dem Alphabet am Schluss anzufuegen, und in dieser Gestalt hat er auf dem Festland von Hellas mit Ausnahme von Athen und Korinth und ebenso bei den sizilischen und italischen Griechen Annahme gefunden. Die kleinasiatischen Griechen dagegen und die der Inseln des Archipels, ferner auf dem Festland die Korinther scheinen, als dieser Vorschlag zu ihnen gelangte, fuer den Laut ~i bereits das fuenfzehnte Zeichen des phoenikischen Alphabets (Samech) Ξ im Gebrauch gehabt zu haben; sie verwendeten deshalb von den drei neuen Zeichen zwar das Φ auch fuer φι, aber das Χ nicht fuer ξι sondern fuer χι. Das dritte, urspruenglich fuer χι erfundene Zeichen liess man wohl meistenteils fallen; nur im kleinasiatischen Festland hielt man es fest, gab ihm aber den Wert ψι. Der kleinasiatischen Schreibweise folgte auch Athen, nur dass hier nicht bloss das ψι, sondern auch das ξι nicht angenommen, sondern dafuer wie frueher der Doppelkonsonant geschrieben ward.

II. Ebenso frueh, wenn nicht noch frueher, hat man sich bemueht, die naheliegende Verwechslung der Formen fuer i und s zu verhueten; denn saemtliche uns bekannte griechische Alphabete tragen die Spuren des Bestrebens, beide Zeichen anders und schaerfer zu unterscheiden. Aber schon in aeltester Zeit muessen zwei Aenderungsvorschlaege gemacht sein, deren jeder seinen eigenen Verbreitungskreis gefunden hat: entweder man verwendete fuer den Sibilanten, wofuer das phoenikische Alphabet zwei Zeichen, das vierzehnte (M) fuer sch und das achtzehnte (Σ) fuer s, darbot, statt des letzteren, lautlich angemesseneren vielmehr jenes - und so schrieb man in aelterer Zeit auf den oestlichen Inseln, in Korinth und Kerkyra und bei den italischen Achaeern - oder man ersetzte das Zeichen des i durch einfachen Strich І, was bei weitem das Gewoehnlichere war und in nicht allzu spaeter Zeit wenigstens insofern allgemein ward, als das gebrochene i ueberall verschwand, wenngleich einzelne Gemeinden das s in der Form M auch neben dem І festhielten.

III. Juenger ist die Ersetzung des leicht mit Γ γ zu verwechselnden λ Λ durch V, der wir in Athen und Boeotien begegnen, waehrend Korinth und die von Korinth abhaengigen Gemeinden denselben Zweck dadurch erreichten, dass sie dem γ statt der haken- die halbkreisfoermige Gestalt C gaben.

IV. Die ebenfalls der Verwechslung sehr ausgesetzten Formen fuer ρ Ρ p p und r P wurden unterschieden durch Umgestaltung des letzteren in R; welche juengere Form nur den kleinasiatischen Griechen, den Kretern, den italischen Achaeern und wenigen anderen Landschaften fremd geblieben ist, dagegen sowohl in dem eigentlichen wie in Grossgriechenland und Sizilien weit aeberwiegt. Doch ist die aeltere Form des r p hier nicht so frueh und so voellig verschwunden wie die aeltere Form des l; diese Neuerung faellt daher ohne Zweifel spaeter.

Die Differenzierung des langen und kurzen e und des langen und kurzen o ist in aelterer Zeit beschraenkt geblieben auf die Griechen Kleinasiens und der Inseln des Aegaeischen Meeres.

Alle diese technischen Verbesserungen sind insofern gleicher Art und geschichtlich von gleichem Wert, als eine jede derselben zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Orte aufgekommen ist und sodann ihren eigenen Verbreitungsweg genommen und ihre besondere Entwicklung gefunden hat. Die vortreffliche Untersuchung A. Kirchhoffs (Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets. Guetersloh 1863), welche auf die bisher so dunkle Geschichte des hellenischen Alphabets ein helles Licht geworfen und auch fuer die aeltesten Beziehungen zwischen Hellenen und Italikern wesentliche Daten ergeben, namentlich die bisher ungewisse Heimat des etruskischen Alphabets unwiderleglich festgestellt hat, leidet insofern an einer gewissen Einseitigkeit, als sie auf einen einzelnen dieser Vorschlaege verhaeltnismaessig zu grosses Gewicht legt. Wenn ueberhaupt hier Systeme geschieden werden sollen, darf man die Alphabete nicht nach der Geltung des X als ξ oder als χ in zwei Klassen teilen, sondern wird man das Alphabet von 23 und das von 25 oder 26 Buchstaben und etwa in dem letzteren noch das kleinasiatisch-ionische, aus dem das spaetere Gemeinalphabet hervorgegangen ist, und das gemeingriechische der aelteren Zeit zu unterscheiden haben. Es haben aber vielmehr im Alphabet die einzelnen Landschaften sich den verschiedenen Modifikationsvorschlaegen gegenueber wesentlich eklektisch verhalten und ist der eine hier, der andere dort rezipiert worden. Eben insofern ist die Geschichte des griechischen Alphabets so lehrreich, als sie zeigt, wie in Handwerk und Kunst einzelne Gruppen der griechischen Landschaften die Neuerungen austauschten, andere in keinem solchen Wechselverhaeltnis standen. Was insbesondere Italien betrifft, so ist schon auf den merkwuerdigen Gegensatz der achaeischen Ackerstaedte zu den chalkidischen und dorischen mehr kaufmaennischen Kolonien aufmerksam gemacht worden; in jenen sind durchgaengig die primitiven Formen festgehalten, in diesen die verbesserten Formen angenommen, selbst solche, die von verschiedenen Seiten kommend sich gewissermassen widersprechen, wie das C Y neben dem V l. Die italischen Alphabete stammen, wie Kirchhoff gezeigt hat, durchaus von dem Alphabet der italischen Griechen und zwar von dem chalkidisch-dorischen her; dass aber die Etrusker und die Latiner nicht die einen von den andern, sondern beide unmittelbar von den Griechen das Alphabet empfingen, setzt besonders die verschiedene Form des r ausser Zweifel. Denn waehrend von den vier oben bezeichneten Modifikationen des Alphabets, die die italischen Griechen ueberhaupt angehen (die fuenfte blieb auf Kleinasien beschraenkt), die drei ersten bereits durchgefuehrt waren, bevor dasselbe auf die Etrusker und Latiner ueberging, war die Differenzierung von p und r noch nicht geschehen, als dasselbe nach Etrurien kam, dagegen wenigstens begonnen, als die Latiner es empfingen, weshalb fuer r die Etrusker die Form R gar nicht kennen, dagegen bei den Faliskern und den Latinern mit der einzigen Ausnahme des Dresselschen Tongefaesses ausschliesslich die juengere Form begegnet.

^4 Dass das Koppa den Etruskern von jeher gefehlt hat, scheint nicht zweifelhaft: denn nicht bloss begegnet sonst nirgends eine sichere Spur desselben, sondern es fehlt auch in dem Musteralphabet des galassischen Gefaesses. Der Versuch, es in dem Syllabarium desselben nachzuweisen, ist auf jeden Fall verfehlt, da dieses nur auf die auch spaeterhin gemein gebraeuchlichen etruskischen Buchstaben Ruecksicht nimmt und nehmen kann zu diesen aber das Koppa notorisch nicht gehoert; ueberdies kann das am Schluss stehende Zeichen seiner Stellung nach nicht wohl einen anderen Wert haben als den des f, das im etruskischen Alphabet eben das letzte ist und das in dem, die Abweichungen .des etruskischen Alphabets von seinem Muster darlegenden Syllabarium nicht fehlen durfte. Auffallend bleibt es freilich, dass in dem nach Etrurien gelangten griechischen Alphabet das Koppa mangelte da es sonst in dem chalkidisch-dorischen sich lange behauptet hat; aber es kann dies fueglich eine lokale Eigentuemlichkeit derjenigen Stadt gewesen sein, deren Alphabet zunaechst nach Etrurien gekommen ist. Darin, ob ein als ueberfluessig werdendes Zeichen im Alphabet stehenbleibt oder ausfaellt, hat zu allen Zeiten Willkuer und Zufall gewaltet; so hat das attische Alphabet das achtzehnte phoenikische Zeichen eingebuesst, die uebrigen aus der Lautschrift verschwundenen im Alphabet festgehalten.

^5 Die vor kurzem bekannt gewordene goldene Spange von Praeneste (RM 2, 1887), unter den verstaendlichen Denkmaelern lateinischer Sprache und lateinischer Schrift das weitaus aelteste zeigt die aeltere Form des m, das raetselhafte Tongefaess vom Quirinal (herausgegeben von A. Dressel in den AdI 52, 1880) die aeltere Form des r.

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Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buchstabenschatzes auf die Empfaenger machte und wie lebhaft sie die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht ahnten, beweist ein merkwuerdiges Gefaess aus einer vor Erfindung des Bogens gebauten Grabkammer von Caere, worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien kam, und daneben ein daraus gebildetes etruskisches Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar, verzeichnet ist - offenbar eine heilige Reliquie der Einfuehrung und der Akklimatisierung der Buchstabenschrift in Etrurien.

Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets ist fuer die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf italischem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hierdurch faellt ein Lichtstrahl auf den italienischen Binnenverkehr, der noch weit mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Kuesten mit den Fremden. In der aeltesten Epoche der etruskischen Schrift, in der man sich im wesentlichen des eingefuehrten Alphabets unveraendert bediente, scheint der Gebrauch desselben sich auf die Etrusker am Po und in der heutigen Toskana beschraenkt zu haben; dieses Alphabet ist alsdann, offenbar von Atria und Spina aus, suedlich an der Ostkueste hinab bis in die Abruzzen, noerdlich zu den Venetern und spaeter sogar zu den Kelten an und in den Alpen, ja jenseits derselben gelangt, sodass die letzten Auslaeufer desselben bis nach Tirol und Steiermark reichen. Die juengere Epoche geht aus von einer Reform des Alphabets, welche sich hauptsaechlich erstreckt auf die Einfuehrung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrueckung des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu unterscheiden wusste, und auf die Einfuehrung eines neuen Buchstabens f, wofuer dem ueberlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen mangelte. Diese Reform ist offenbar bei den westlichen Etruskern entstanden und hat, waehrend sie jenseits des Apennin keinen Eingang fand, dagegen bei saemtlichen sabellischen Staemmen, zunaechst bei den Umbrern sich eingebuergert; im weiteren Verlaufe sodann hat das Alphabet bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen Schicksale erfahren, haeufig die Mediae ganz oder zum Teil verloren, anderswo wieder neue Vokale und Konsonanten entwickelt. Jene westetruskische Reform des Alphabets aber ist nicht bloss so alt wie die aeltesten in Etrurien gefundenen Graeber, sondern betraechtlich aelter, da das erwaehnte, wahrscheinlich in einem derselben gefundene Syllabarium das reformierte Alphabet bereits in einer wesentlich modifizierten und modernisierten Gestalt gibt; und da das reformierte selbst wieder, gegen das primitive gehalten, relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurueckgehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangte.

Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Alphabets im Norden, Osten und Sueden der Halbinsel, so hat sich dagegen das latinische Alphabet auf Latium beschraenkt und hier im ganzen mit geringen Veraenderungen sich behauptet; nur fielen γ κ und ζ ς allmaehlich lautlich zusammen, wovon die Folge war, dass je eins der homophonen Zeichen (κ ζ) aus der Schrift verschwand. In Rom waren diese nachweislich schon vor dem Ende des vierten Jahrhunderts der Stadt beseitigt ^6, und unsere gesamte monumentale und literarische Ueberlieferung mit einer einzigen Ausnahme ^7 kennt sie nicht. Wer nun erwaegt, dass in den aeltesten Abkuerzungen der Unterschied von γ c und κ k noch regelmaessig durchgefuehrt wird ^8, dass also der Zeitraum, wo die Laute in der Aussprache zusammenfielen, und vor diesem wieder der Zeitraum, in dem die Abkuerzungen sich fixierten, weit jenseits des Beginns der Samnitenkriege liegt; dass endlich zwischen der Einfuehrung der Schrift und der Feststellung eines konventionellen Abkuerzungssystems notwendig eine bedeutende Frist verstrichen sein muss, der wird wie fuer Etrurien so fuer Latium den Anfang der Schreibkunst in eine Epoche hinaufruecken, die dem ersten Eintritt der aegyptischen Siriusperiode in historischer Zeit, dem Jahre 1321 vor Christi Geburt, naeher liegt als dem Jahre 776, mit dem in Griechenland die Olympiadenchronologie beginnt ^9. Fuer das hohe Alter der Schreibkunst in Rom sprechen auch sonst zahlreiche und deutliche Spuren. Die Existenz von Urkunden aus der Koenigszeit ist hinreichend beglaubigt: so des Sondervertrags zwischen Gabii und Rom, den ein Koenig Tarquinius, und schwerlich der letzte dieses Namens, abschloss, und der, geschrieben auf das Fell des dabei geopferten Stiers, in dem an Altertuemern reichen, wahrscheinlich dem gallischen Brande entgangenen Tempel des Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt ward; des Buendnisses, das Koenig Servius Tullius mit Latium abschloss und das noch Dionysios auf einer kupfernen Tafel im Dianatempel auf dem Aventin sah - freilich wohl in einer nach dem Brand mit Hilfe eines latinischen Exemplars hergestellten Kopie, denn dass man in der Koenigszeit schon in Metall grub, ist nicht wahrscheinlich. Auf den Stiftungsbrief dieses Tempels beziehen sich noch die Stiftungsbriefe der Kaiserzeit als auf die aelteste derartige roemische Urkunde und das gemeinschaftliche Muster fuer alle. Aber schon damals ritzte man (exarare, scribere verwandt mit scrobes ^10) oder malte (linere, daher littera) auf Blaetter (folium), Bast (liber) oder Holztafeln (tabula, albuni), spaeter auch auf Leder und Leinen. Auf leinene Rollen waren die heiligen Urkunden der Samniten wie der anagninischen Priesterschaft geschrieben, ebenso die aeltesten, im Tempel der Goettin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Kapitol bewahrten Verzeichnisse der roemischen Magistrate. Es wird kaum noch noetig sein, zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura), an die Anrede im Senat “Vaeter und Eingeschriebene” (patres conscripti), an das hohe Alter der Orakelbuecher, der Geschlechtsregister, des albanischen und des roemischen Kalenders. Wenn die roemische Sage schon in der fruehesten Zeit der Republik von Hallen am Markte spricht, in denen die Knaben und Maedchen der Vornehmen lesen und schreiben lernten, so kann das, aber muss nicht notwendig erfunden sein. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal der Mangel an Dokumenten hat uns die Kunde der aeltesten roemischen Geschichte entzogen, sondern die Unfaehigkeit der Historiker derjenigen Zeit, die zur Geschichtsforschung berufen war, die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten, und ihre Verkehrtheit, fuer die aelteste Epoche Schilderung von Motiven und Charakteren, Schlachtberichte und Revolutionserzaehlungen zu begehren und ueber deren Erfindung zu vernachlaessigen, was die vorhandene schriftliche Ueberlieferung dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verweigert haben wuerde.

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^6 In diese Zeit wird diejenige Aufzeichnung der Zwoelf Tafeln zu setzen sein, welche spaeterhin den roemischen Philologen vorlag und von der wir Truemmer besitzen. Ohne Zweifel ist das Gesetzbuch gleich bei seiner Entstehung niedergeschrieben worden; aber dass jene Gelehrten selber ihren Text nicht auf das Urexemplar zurueckfuehrten, sondern auf eine nach dem gallischen Brande vorgenommene offizielle Niederschrift, beweist die Erzaehlung von der damals erfolgten Wiederherstellung der Tafeln, und erklaert sich leicht eben daraus, dass ihr Text keineswegs die ihnen nicht unbekannte aelteste Orthographie aufwies, auch abgesehen davon, dass bei einem derartigen, ueberdies noch zum Auswendiglernen fuer die Jugend verwendeten Schriftstueck philologisch genaue Ueberlieferung unmoeglich angenommen werden kann.

^7 Dies ist die 1, 227 angefuehrte Inschrift der Spange von Praeneste. Dagegen hat selbst schon auf der ficoronischen Kiste c den spaeteren Wert von κ.

^8 So ist C Gaius, CN Gnaeus, aber K Kaeso. Fuer die juengeren Abkuerzungen gilt dieses natuerlich nicht; hier wird γ nicht durch c, sondern durch G (GAL Galeria), κ in der Regel durch C (C centum, Cos consul, COL Collina), vor a durch K (KAR karmentalia, MERK merkatus) bezeichnet. Denn eine Zeitlang hat man den Laut K vor den Vokalen e i o und vor allen Konsonanten durch C ausgedrueckt, dagegen vor a durch K, vor u durch das alte Zeichen des Koppa Q.

^9 Wenn dies richtig ist, so muss die Entstehung der Homerischen Gedichte, wenn auch natuerlich nicht gerade die der uns vorliegenden Redaktion, weit vor die Zeit fallen, in welche Herodot die Bluete des Homeros setzt (100 vor Rom 850); denn die Einfuehrung des hellenischen Alphabets in Italien gehoert wie der Beginn des Verkehrs zwischen Hellas und Italien selbst erst der nachhomerischen Zeit an.

^10 Ebenso altsaechsisch writan eigentlich reissen, dann schreiben.

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Die Geschichte der italischen Schrift bestaetigt also zunaechst die schwache und mittelbare Einwirkung des hellenischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den westlicheren Voelkern. Dass jene das Alphabet von den Etruskern, nicht von den Roemern empfingen, erklaert sich wahrscheinlich daraus, dass sie das Alphabet schon besassen, als sie den Zug auf den Ruecken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Samniten also dasselbe schon vor ihrer Entlassung aus dem Mutterlande in ihre neuen Sitze mitbrachten. Andererseits enthaelt diese Geschichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die Annahme, welche die spaetere, der etruskischen Mystik und Altertumstroedelei ergebene roemische Bildung aufgebracht hat und welche die neuere und neueste Forschung geduldig wiederholt, dass die roemische Zivilisation ihren Keim und ihren Kern aus Etrurien entlehnt habe. Waere dies wahr, so muesste hier vor allem eine Spur sich davon zeigen; aber gerade umgekehrt ist der Keim der latinischen Schreibkunst griechisch, ihre Entwicklung so national, dass sie nicht einmal das so wuenschenswerte etruskische Zeichen fuer f sich angeeignet hat ^11. Ja wo Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr die Etrusker, die von den Roemern wenigstens das Zeichen fuer 50 uebernommen haben.

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^11 Das Raetsel, wie die Latiner dazu gekommen sind, das griechische dem v entsprechende Zeichen fuer das lautlich ganz verschiedene f zu verwenden, hat die Spange von Praeneste geloest mit ihrem fhefhaked fuer fecit und damit zugleich die Herleitung des lateinischen Alphabets von den chalkidischen Kolonien Unteritaliens bestaetigt. Denn in einer, demselben Alphabet angehoerigen boeotischen Inschrift findet sich in dem Worte fhekadamoe (Gustav Meyer, Griechische Grammatik, § 244 a. E.) dieselbe Lautverbindung, und ein aspiriertes v mochte allerdings dem lateinischen f lautlich sich naehern.

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Endlich ist es charakteristisch, dass in allen italischen Staemmen die Entwicklung des griechischen Alphabets zunaechst in einer Verderbung desselben besteht. So sind die Mediae in den saemtlichen etruskischen Dialekten untergegangen, waehrend die Umbrer γ d, die Samniten d, die Roemer γ einbuessten und diesen auch d mit r zu verschmelzen drohte. Ebenso fielen den Etruskern schon frueh o und u zusammen, und auch bei den Lateinern finden sich Ansaetze derselben Verderbnis. Fast das Umgekehrte zeigt sich bei den Sibilanten; denn waehrend der Etrusker die drei Zeichen z s sch festhaelt, der Umbrer zwar das letzte wegwirft, aber dafuer zwei neue Sibilanten entwickelt, beschraenkt sich der Samnite und der Falisker auf s und z gleich dem Griechen, der spaetere Roemer sogar auf s allein. Man sieht, die feineren Lautverschiedenheiten wurden von den Einfuehrern des Alphabets, gebildeten und zweier Sprachen maechtigen Leuten, wohl empfunden; aber nach der voelligen Loesung der nationalen Schrift von dem hellenischen Mutteralphabet fielen allmaehlich die Mediae und ihre Tenues zusammen und wurden die Sibilanten und Vokale zerruettet, von welchen Lautverschiebungen oder vielmehr Lautzerstoerungen namentlich die erste ganz ungriechisch ist. Die Zerstoerung der Flexions- und Derivationsformen geht mit dieser Lautzerruettung Hand in Hand. Die Ursache dieser Barbarisierung ist also im allgemeinen keine andere als die notwendige Verderbnis, welche an jeder Sprache fortwaehrend zehrt, wo ihr nicht literarisch und rationell ein Damm entgegengesetzt wird; nur dass von dem, was sonst spurlos voruebergeht, hier in der Lautschrift sich Spuren bewahrten. Dass diese Barbarisierung die Etrusker in staerkerem Masse erfasste als irgendeinen der italischen Staemme, stellt sich zu den zahlreichen Beweisen ihrer minderen Kulturfaehigkeit; wenn dagegen, wie es scheint, unter den Italikern am staerksten die Umbrer, weniger die Roemer, am wenigsten die suedlichen Sabeller von der gleichen Sprachverderbnis ergriffen wurden, so wird der regere Verkehr dort mit den Etruskern, hier mit den Griechen wenigstens mit zu dieser Erscheinung beigetragen haben.

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