KAPITEL XII. Religion

Die roemische Goetterwelt ist, wie schon frueher angedeutet ward, hervorgegangen aus der Widerspiegelung des irdischen Rom in einem hoeheren und idealen Anschauungsgebiet, in dem sich mit peinlicher Genauigkeit das Kleine wie das Grosse wiederholte. Der Staat und das Geschlecht, das einzelne Naturereignis wie die einzelne geistige Taetigkeit, jeder Mensch, jeder Ort und Gegenstand, ja jede Handlung innerhalb des roemischen Rechtskreises kehren in der roemischen Goetterwelt wieder; und wie der Bestand der irdischen Dinge flutet im ewigen Kommen und Gehen, so schwankt auch mit ihm der Goetterkreis. Der Schutzgeist, der ueber der einzelnen Handlung waltet, dauert nicht laenger als diese Handlung selbst, der Schutzgeist des einzelnen Menschen lebt und stirbt mit dem Menschen; und nur insofern kommt auch diesen Goetterwesen ewige Dauer zu, als aehnliche Handlungen und gleichartige Menschen und damit auch gleichartige Geister immer aufs neue sich erzeugen. Wie die roemischen ueber der roemischen, walten ueber jeder auswaertigen Gemeinde deren eigene Gottheiten; wie schroff auch der Buerger dem Nichtbuerger, der roemische dem fremden Gott entgegentreten mag, so koennen fremde Menschen wie fremde Gottheiten dennoch durch Gemeindebeschluss in Rom eingebuergert werden, und wenn aus der eroberten Stadt die Buerger nach Rom uebersiedelten, wurden auch wohl die Stadtgoetter eingeladen, in Rom eine neue Staette sich zu bereiten.

Den urspruenglichen Goetterkreis, wie er in Rom vor jeder Beruehrung mit den Griechen sich gestaltet hat, lernen wir kennen aus dem Verzeichnis der oeffentlichen und benannten Festtage (feriae publicae) der roemischen Gemeinde, das in dem Kalender derselben erhalten und ohne Frage die aelteste aller aus dem roemischen Altertum auf uns gekommenen Urkunden ist. Den Vorrang in demselben nehmen die Goetter Jupiter und Mars nebst dem Doppelgaenger des letzteren, dem Quirinus, ein. Dem Jupiter sind alle Vollmondstage (idus) heilig, ausserdem die saemtlichen Weinfeste und verschiedene andere, spaeter noch zu erwaehnende Tage; seinem Widerspiel, dem “boesen Jovis” (Vediovis), ist der 21. Mai (agonalia) gewidmet. Dem Mars dagegen gehoert das Neujahr des 1. Maerz und ueberhaupt das grosse Kriegerfest in diesem, von dem Gotte selbst benannten Monat, das, eingeleitet durch das Pferderennen (equirria) am 27. Februar, im Maerz selbst an den Tagen des Schildschmiedens (equirria oeder Mamuralia, 14. Maerz), des Waffentanzes auf der Dingstaette (quinquatrus, 19. Maerz) und der Drommetenweihe (tubilustrium, 23. Maerz) seine Hochtage hatte. Wie, wenn ein Krieg zu fuehren war, derselbe mit diesem Feste begann, so folgte nach Beendigung des Feldzuges im Herbst wiederum eine Marsfeier, das Fest der Waffenweihe (armilustrium, 19. Oktober). Dem zweiten Mars endlich, dem Quirinus, war der 17. Februar (Quirinalia) eigen. Unter den uebrigen Festtagen nehmen die auf den Acker- und Weinbau bezueglichen die erste Stelle ein, woneben die Hirtenfeste eine untergeordnete Rolle spielen. Hierher gehoert vor allem die grosse Reihe der Fruehlingsfeste im April, wo am 15. der Tellus, das ist der naehrenden Erde (fordicidia, Opfer der traechtigen Kuh), und am 19. der Ceres, das ist der Goettin des sprossenden Wachstums (Cerialia), dann am 21. der befruchtenden Herdengoettin Pales (Parilia), am 23. dem Jupiter als dem Schuetzer der Reben und der an diesem Tage zuerst sich oeffnenden Faesser von der vorjaehrigen Lese (Vinalia), am 25. dem boesen Feinde der Saaten, dem Roste (Robigus: Robigalia) Opfer dargebracht werden. Ebenso wird nach vollendeter Arbeit und gluecklich eingebrachtem Feldersegen dem Gott und der Goettin des Einbringens und der Ernte, dem Consus (von condere) und der Ops ein Doppelfest gefeiert: zunaechst unmittelbar nach vollbrachtem Schnitt (21. August, Consualia; 25. August, Opiconsiva), sodann im Mittwinter, wo der Segen der Speicher vor allem offenbar wird (15. Dezember, Consualia; 19. Dezember, Opalia), zwischen welchen letzteren beiden Feiertagen die sinnige Anschauung der alten Festordner das Fest der Aussaat (Saturnalia von Saëturnus oder Saturnus, 17. Dezember), einschaltete. Gleichermassen wird das Most- oder Heilefest (meditrinalia, 11. Oktober), so benannt, weil man dem jungen Most heilende Kraft beilegte, dem Jovis als dem Weingott nach vollendeter Lese dargebracht, waehrend die urspruengliche Beziehung des dritten Weinfestes (Vinalia, 19. August) nicht klar ist. Zu diesen Festen kommen weiter am Jahresschluss das Wolfsfest (Lupercalia, 17. Februar) der Hirten zu Ehren des guten Gottes, des Faunus, und das Grenzsteinfest (Terminalia, 23. Februar) der Ackerbauer, ferner das zweitaegige sommerliche Hainfest (Lucaria, 19., 21. Juli) das den Waldgoettern (Silvani) gegolten haben mag, die Quellfeier (Fontinalia, 13. Oktober) und das Fest des kuerzesten Tages, der die neue Sonne herauffuehrt (An-geronalia, Divalia, 21. Dezember).

Von nicht geringer Bedeutung sind ferner, wie das fuer die Hafenstadt Latiums sich nicht anders erwarten laesst, die Schifferfeste der Gottheiten der See (Neptunalia, 23. Juli), des Hafens (Portunalia, 17. August) und des Tiberstromes (Volturnalia, 27. August). Handwerk und Kunst dagegen sind in diesem Goetterkreis nur vertreten durch den Gott des Feuers und der Schmiedekunst, den Vulcanus, welchem ausser dem nach seinem Namen benannten Tag (Volcanalia, 23. August) auch das zweite Fest der Drommetenweihe (tubilustrium, 23. Mai) gewidmet ist, und allenfalls noch durch das Fest der Carmentis (Carmentalia, 11., 15. Januar), welche wohl urspruenglich als die Goettin der Zauberformel und des Liedes und nur folgeweise als Schuetzerin der Geburten verehrt ward.

Dem haeuslichen und Familienleben ueberhaupt galten das Fest der Goettin des Hauses und der Geister der Vorratskammer, der Vesta und der Penaten (Vestalia, 9. Juni); das Fest der Geburtsgoettin ^1 (Matralia, 11. Juni), das Fest des Kindersegens, dem Liber und der Libera gewidmet (Liberalia, 17. Maerz), das Fest der abgeschiedenen Geister (Feralia, 21. Februar) und die dreitaegige Gespensterfeier (Lemuria, 9., 11., 13. Mai), waehrend auf die buergerlichen Verhaeltnisse sich die beiden uebrigens fuer uns nicht klaren Festtage der Koenigsflucht (Regifugium, 24. Februar) und der Volksflucht (Poplifugia, 5. Juli), von denen wenigstens der letzte Tag dem Jupiter zugeeignet war, und das Fest der sieben Berge (Agonia oder Septimontium, 11. Dezember) bezogen. Auch dem Gott des Anfangs, dem Janus, war ein eigener Tag (agonia, 9. Januar) gewidmet. Einige andere Tage, der der Furrina (25. Juli) und der dem Jupiter und der Acca Larentia gewidmete der Larentalien, vielleicht ein Larenfest (23. Dezember), sind ihrem Wesen nach verschollen.

———————————————————————-

^1 Das ist allem Anschein nach das urspruengliche Wesen der “Morgenmutter” oder Mater matuta; wobei man sich wohl daran zu erinnern hat, dass, wie die Vornamen Lucius und besonders Manius beweisen, die Morgenstunde fuer die Geburt als glueckbringend galt. Zur See- und Hafengoettin ist die Mater matuta wohl erst spaeter unter dem Einfluss des Leukotheamythus geworden; schon dass die Goettin vorzugsweise von den Frauen verehrt ward, spricht dagegen, sie urspruenglich als Hafengoettin zu fassen.

———————————————————————-

Diese Tafel ist vollstaendig fuer die unbeweglichen oeffentlichen Feste; und wenn auch neben diesen stehenden Festtagen sicher seit aeltester Zeit Wandel- und Gelegenheitsfeste vorgekommen sind, so oeffnet doch diese Urkunde, in dem, was sie sagt, wie in dem, was sie auslaesst, uns den Einblick in eine sonst fuer uns beinahe gaenzlich verschollene Urzeit. Zwar die Vereinigung der altroemischen Gemeinde und der Huegelroemer war bereits erfolgt, als diese Festtafel entstand, da wir in ihr neben dem Mars den Quirinus finden; aber noch stand der kapitolinische Tempel nicht, als sie aufgesetzt ward, denn es fehlen Juno und Minerva; noch war das Dianaheiligtum auf dem Aventin nicht errichtet; noch war den Griechen kein Kultbegriff entlehnt. Der Mittelpunkt nicht bloss des roemischen, sondern ueberhaupt des italischen Gottesdienstes in derjenigen Epoche, wo der Stamm noch sich selber ueberlassen auf der Halbinsel hauste, war allen Spuren zufolge der Gott Maurs oder Mars, der toetende Gott ^2, vorwiegend gedacht als der speerschwingende, die Herde schirmende, den Feind niederwerfende goettliche Vorfechter der Buergerschaft - natuerlich in der Art, dass eine jede Gemeinde ihren eigenen Mars besass und ihn fuer den staerksten und heiligsten unter allen achtete, demnach auch jeder zu neuer Gemeindebegruendung auswandernde heilige Lenz unter dem Schutz seines eigenen Mars zog. Dem Mars ist sowohl in der - sonst goetterlosen - roemischen Monatstafel wie auch wahrscheinlich in den saemtlichen uebrigen latinischen und sabellischen der erste Monat geheiligt; unter den roemischen Eigennamen, die sonst ebenfalls keiner Goetter gedenken, erscheinen Marcus, Mamercus, Mamurius seit uralter Zeit in vorwiegendem Gebrauch; an den Mars und seinen heiligen Specht knuepft sich die aelteste italische Weissagung; der Wolf, das heilige Tier des Mars, ist auch das Wahrzeichen der roemischen Buergerschaft, und was von heiligen Stammsagen die roemische Phantasie aufzubringen vermocht hat, geht ausschliesslich zurueck auf den Gott Mars und seinen Doppelgaenger, den Quirinus. In dem .Festverzeichnis nimmt allerdings der Vater Diovis, eine reinere und mehr buergerliche als kriegerische Widerspiegelung des Wesens der roemischen Gemeinde, einen groesseren Raum ein als der Mars, ebenso wie der Priester des Jupiter an Rang den beiden Priestern des Kriegsgottes vorgeht; aber eine sehr hervorragende Rolle spielt doch auch der letztere in demselben, und es ist sogar ganz glaublich, dass, als diese Festordnung festgestellt wurde, Jovis neben Mars stand wie Ahuramazda neben Mithra und dass der wahrhafte Mittelpunkt der Gottesverehrung in der streitbaren roemischen Gemeinde auch damals noch der kriegerische Todesgott und dessen Maerzfest war, wogegen gleichzeitig nicht der durch die Griechen spaeter eingefuehrte “Sorgenbrecher”, sondern der Vater Jovis selbst als der Gott galt des herzerfreuenden Weines.

—————————————————-

^2 Aus Maurs, was die aelteste ueberlieferte Form ist, entwickeln sich durch verschiedene Behandlung des u Mars, Mavors, mors; der Uebergang in ŏ (aehnlich wie Paula, Pola und dergleichen mehr) erscheint auch in der Doppelform Mar-Mor (vgl. Ma-mŭrius) neben Mar-Mar und Ma-Mers.

—————————————————-

Es ist nicht die Aufgabe dieser Darstellung, die roemischen Gottheiten im einzelnen zu betrachten; aber wohl ist es auch geschichtlich wichtig, ihren eigentuemlichen, zugleich niedrigen und innigen Charakter hervorzuheben. Abstraktion und Personifikation sind das Wesen der roemischen wie der hellenischen Goetterlehre; auch der hellenische Gott ruht auf einer Naturerscheinung oder einem Begriff, und dass dem Roemer eben wie dem Griechen jede Gottheit als Person erscheint, dafuer zeugt die Auffassung der einzelnen als maennlicher oder weiblicher und die Anrufung an die unbekannte Gottheit: “bist du Gott oder Goettin, Mann oder auch Weib”; dafuer der tiefhaftende Glaube, dass der Name des eigentlichen Schutzgeistes der Gemeinde unausgesprochen bleiben muesse, damit nicht ein Feind ihn erfahre und, den Gott bei seinem Namen rufend, ihn ueber die Grenzen hinueberlocke. Ein Ueberrest dieser maechtig sinnlichen Auffassung haftet namentlich der aeltesten und nationalsten italischen Goettergestalt, dem Mars, an. Aber wenn die Abstraktion, die jeder Religion zu Grunde liegt, anderswo zu weiten und immer weiteren Konzeptionen sich zu erheben, tief und immer tiefer in das Wesen der Dinge einzudringen versucht, so verhalten sich die roemischen Glaubensbilder auf einer unglaublich niedrigen Stufe des Anschauens und des Begreifens. Wenn dem Griechen jedes bedeutsame Motiv sich rasch zur Gestaltengruppe, zum Sagen- und Ideenkreis erweitert, so bleibt dem Roemer der Grundgedanke in seiner urspruenglichen nackten Starrheit stehen. Der apollinischen Religion irdisch sittlicher Verklaerung, dem goettlichen dionysischen Rausche, den tiefsinnigen und geheimnisvollen chthonischen und Mysterienkulten hat die roemische Religion nichts auch nur entfernt aehnliches entgegenzustellen, das ihr eigentuemlich waere. Sie weiss wohl auch von einem “schlimmen Gott” (Ve-diovis), von Erscheinungen und Gespenstern (lemures), spaeterhin auch von Gottheiten der boesen Luft, des Fiebers, der Krankheiten, vielleicht sogar des Diebstahls (laverna); aber den geheimnisvollen Schauer, nach dem das Menschenherz doch auch sich sehnt, vermag sie nicht zu erregen, nicht sich zu durchdringen mit dem Unbegreiflichen und selbst dem Boesartigen in der Natur und dem Menschen, welches der Religion nicht fehlen darf, wenn der ganze Mensch in ihr aufgehen soll. Es gab in der roemischen Religion kaum etwas Geheimes als etwa die Namen der Stadtgoetter, der Penaten; das Wesen uebrigens auch dieser Goetter war jedem offenbar.

Die nationalroemische Theologie sucht nach allen Seiten hin die wichtigen Erscheinungen und Eigenschaften begreiflich zu fassen, sie terminologisch auszupraegen und schematisch - zunaechst nach der auch dem Privatrecht zu Grunde liegenden Einteilung von Personen und Sachen - zu klassifizieren, um darnach die Goetter und Goetterreihen selber richtig anzurufen und ihre richtige Anrufung der Menge zu weisen (indigitare). In solchen aeusserlich abgezogenen Begriffen von der einfaeltigsten, halb ehrwuerdigen, halb laecherlichen Schlichtheit ging die roemische Theologie wesentlich auf; Vorstellungen wie Saat (saëturnus) und Feldarbeit (ops), Erdboden (tellus) und Grenzstein (terminus) gehoeren zu den aeltesten und heiligsten roemischen Gottheiten. Vielleicht die eigentuemlichste unter allen roemischen Goettergestalten und wohl die einzige, fuer die ein eigentuemlich italisches Kultbild erfunden ward, ist der doppelkoepfige Janus; und doch liegt in ihm eben nichts als die fuer die aengstliche roemische Religiositaet bezeichnende Idee, dass zur Eroeffnung eines jeden Tuns zunaechst der “Geist der Eroeffnung” anzurufen sei, und vor allem das tiefe Gefuehl davon, dass es ebenso unerlaesslich war, die roemischen Goetterbegriffe in Reihen zusammenzufuegen, wie die persoenlicheren Goetter der Hellenen notwendig jeder fuer sich standen ^3. Vielleicht der innigste unter allen roemischen ist der Kult der in und ueber dem Hause und der Kammer waltenden Schutzgeister, im oeffentlichen Gottesdienst der der Vesta und der Penaten, im Familienkult der der Wald- und Flurgoetter, der Silvane und vor allem der eigentlichen Hausgoetter, der Lasen oder Laren, denen regelmaessig von der Familienmahlzeit ihr Teil gegeben ward, und vor denen seine Andacht zu verrichten noch zu des aelteren Cato Zeit des heimkehrenden Hausvaters erstes Geschaeft war. Aber in der Rangordnung der Goetter nahmen diese Haus- und Feldgeister eher den letzten als den ersten Platz ein; es war, wie es bei einer auf Idealisierung verzichtenden Religion nicht anders sein konnte, nicht die weiteste und allgemeinste, sondern die einfachste und individuellste Abstraktion, in der das fromme Herz die meiste Nahrung fand.

————————————————————

^3 Dass Tor und Tuere und der Morgen (ianus matutinus) dem Janus heilig ist und er stets vor jedem anderen Gott angerufen ja selbst in der Muenzreihe noch vor dem Jupiter und den anderen Goettern aufgefuehrt wird, bezeichnet ihn unverkennbar als die Abstraktion der Oeffnung und Eroeffnung. Auch der nach zwei Seiten schauende Doppelkopf haengt mit dem nach zwei Seiten hin sich oeffnenden Tore zusammen. Einen Sonnen- und Jahresgott darf man um so weniger aus ihm machen, als der von ihm benannte Monat urspruenglich der elfte, nicht der erste ist; vielmehr scheint dieser Monat seinen Namen davon zu fuehren, dass in dieser Zeit nach der Rast des Mittwinters der Kreislauf der Feldarbeiten wieder von vorn beginnt. Dass uebrigens, namentlich seit der Januarius an der Spitze des Jahres stand, auch die Eroeffnung des Jahres in den Bereich des Janus hineingezogen ward, versteht sich von selbst.

——————————————————-

Hand in Hand mit dieser Geringhaltigkeit der idealen Elemente ging die praktische und utilitarische Tendenz der roemischen Religion, wie sie in der oben eroerterten Festtafel deutlich genug sich darlegt. Vermoegensmehrung und Guetersegen durch Feldbau und Herdengewinn, durch Schiffahrt und Handel - das ist es, was der Roemer von seinen Goettern begehrt; es stimmt dazu recht wohl, dass der Gott des Worthaltens (deus fidius), die Zufalls- und Gluecksgoettin (fors fortuna) und der Handelsgott (mercurius), alle aus dem taeglichen Verkehr hervorgegangen, zwar noch nicht in jener uralten Festtafel, aber doch schon sehr frueh weit und breit von den Roemern verehrt auftreten. Strenge Wirtschaftlichkeit und kaufmaennische Spekulation waren zu tief im roemischen Wesen begruendet, um nicht auch dessen goettliches Abbild bis in den innersten Kern zu durchdringen.

Von der Geisterwelt ist wenig zu sagen. Die abgeschiedenen Seelen der sterblichen Menschen, die “Guten” (manes) lebten schattenhaft weiter, gebannt an den Ort, wo der Koerper ruhte (dii inferi), und nahmen von den Ueberlebenden Speise und Trank. Allein sie hausten in den Raeumen der Tiefe und keine Bruecke fuehrte aus der unteren Welt weder zu den auf der Erde waltenden Menschen noch empor zu den oberen Goettern. Der griechische Heroenkult ist den Roemern voellig fremd und wie jung und schlecht die Gruendungssage von Rom erfunden ist, zeigt schon die ganz unroemische Verwandlung des Koenigs Romulus in den Gott Quirinus. Numa, der aelteste und ehrwuerdigste Name in der roemischen Sage, ist in Rom nie als Gott verehrt worden wie Theseus in Athen.

Die aeltesten Gemeindepriestertuemer beziehen sich auf den Mars: vor allem auf Lebenszeit ernannte Priester des Gemeindegottes, der “Zuender des Mars” (flamen Martialis), wie er vom Darbringen der Brandopfer benannt ward, und die zwoelf “Springer” (salii), eine Schar junger Leute, die im Maerz den Waffentanz zu Ehren des Mars auffuehrten und dazu sangen. Dass die Verschmelzung der Huegelgemeinde mit der palatinischen die Verdoppelung des roemischen Mars und damit die Einfuehrung eines zweiten Marspriesters - des flamen Quirinalis - und einer zweiten Taenzergilde - der salii collini - herbeifuehrte, ist bereits frueher auseinandergesetzt worden.

Hierzu kamen andere oeffentliche, zum Teil wohl ihrem Ursprung nach weit ueber Roms Entstehung hinaufreichende Verehrungen, fuer welche entweder Einzelpriester angestellt waren -solche gab es zum Beispiel der Carmentis, des Volcanus, des Hafen- und des Flussgottes - oder deren Begehung einzelnen Genossenschaften oder Geschlechtern im Namen des Volkes uebertragen war. Eine derartige Genossenschaft war vermutlich die der zwoelf “Ackerbrueder” (fratres arvales), welche die “schaffende Goettin” (dea dia) im Mai anriefen fuer das Gedeihen der Saaten; obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob dieselbe bereits in dieser Epoche dasjenige besondere Ansehen genoss, welches wir ihr in der Kaiserzeit beigelegt finden. Ihnen schloss die titische Bruederschaft sich an, die den Sonderkult der roemischen Sabiner zu bewahren und zu besorgen hatte, sowie die fuer die Herde der dreissig Kurien eingesetzten dreissig Kurienzuender (flamines curiales). Das schon erwaehnte “Wolfsfest” (lupercalia) wurde fuer die Beschirmung der Herden dem “guenstigen Gotte” (faunus) von dem Quinctiergeschlecht und den nach dem Zutritt der Huegelroemer ihnen zugegebenen Fabiern im Monat Februar gefeiert - ein rechtes Hirtenkarneval, bei dem die “Woelfe” (luperci) nackt mit dem Bocksfell umguertet herumsprangen und wen sie trafen mit Riemen klatschten. Ebenso mag noch bei andern gentilizischen Kulten zugleich die Gemeinde gedacht sein als mitvertreten.

Zu diesem aeltesten Gottesdienst der roemischen Gemeinde traten allmaehlich neue Verehrungen hinzu. Die wichtigste darunter ist diejenige, welche auf die neu geeinigte und durch den grossen Mauer- und Burgbau gleichsam zum zweitenmal gegruendete Stadt sich bezieht: in ihr tritt der hoechste beste Jovis vom Burghuegel, das ist der Genius des roemischen Volkes, an die Spitze der gesamten roemischen Goetterschaft, und sein fortan bestellter Zuender, der Flamen Dialis, bildet mit den beiden Marspriestern die heilige oberpriesterliche Dreiheit. Gleichzeitig beginnt der Kultus des neuen einigen Stadtherdes - der Vesta - und der dazu gehoerige der Gemeindepenaten. Sechs keusche Jungfrauen versahen, gleichsam als die Haustoechter des roemischen Volkes, jenen frommen Dienst und hatten das heilsame Feuer des Gemeindeherdes den Buergern zum Beispiel und zum Wahrzeichen stets lodernd zu unterhalten. Es war dieser haeuslich-oeffentliche Gottesdienst der heiligste aller roemischen, wie er denn auch von allem Heidentum am spaetesten in Rom der christlichen Verfemung gewichen ist. Ferner wurde der Aventin der Diana angewiesen als der Repraesentantin der latinischen Eidgenossenschaft, aber eben darum eine besondere roemische Priesterschaft fuer sie nicht bestellt; und zahlreichen anderen Goetterbegriffen gewoehnte allmaehlich die Gemeinde sich in bestimmter Weise durch allgemeine Feier oder durch besonders zu ihrem Dienst bestimmte stellvertretende Priesterschaften zu huldigen, wobei sie einzelnen - zum Beispiel der Blumen (Flora) und der Obstgoettin (Pomona) - auch wohl einen eigenen Zuender bestellte, sodass deren zuletzt fuenfzehn gezaehlt wurden. Aber sorgfaeltig unterschied man unter ihnen jene drei “grossen Zuender” (flamines maiores), die bis in die spaeteste Zeit nur aus den Altbuergern genommen werden konnten, ebenso wie die alten Genossenschaften der palatinischen und quirinalischen Salier stets den Vorrang vor allen uebrigen Priesterkollegien behaupteten. Also wurden die notwendigen und stehenden Leistungen an die Goetter der Gemeinde bestimmten Genossenschaften oder staendigen Dienern vom Staat ein fuer allemal uebertragen und zur Deckung der vermutlich nicht unbetraechtlichen Opferkosten teils den einzelnen Tempeln gewisse Laendereien, teils die Bussen angewiesen.

Dass der oeffentliche Kult der uebrigen latinischen und vermutlich auch der sabellischen Gemeinden im wesentlichen gleichartig war, ist nicht zu bezweifeln; nachweislich sind die Flamines, Sauer, Luperker und Vestalinnen nicht spezifisch roemische, sondern allgemein latinische Institutionen gewesen und wenigstens die drei ersten Kollegien scheinen in den stammverwandten Gemeinden nicht erst nach roemischem Muster gebildet zu sein.

Endlich kann, wie der Staat fuer den Goetterkreis des Staats, so auch der einzelne Buerger innerhalb seines individuellen Kreises aehnliche Anordnungen treffen und seinen Goettern nicht bloss Opfer darbringen, sondern auch Staetten und Diener ihnen weihen.

Also gab es Priestertum und Priester in Rom genug; indes wer ein Anliegen an den Gott hat, wendet sich nicht an den Priester, sondern an den Gott. Jeder Flehende und Fragende redet selber zu der Gottheit, die Gemeinde natuerlich durch den Mund des Koenigs wie die Kurie durch den Curio und die Ritterschaft durch ihre Obristen; und keine priesterliche Vermittlung durfte das urspruengliche und einfache Verhaeltnis verdecken oder verdunkeln. Allein es ist freilich nicht leicht, mit dem Gotte zu verkehren. Der Gott hat seine eigene Weise zu sprechen, die nur dem kundigen Manne verstaendlich ist; wer es aber recht versteht, der weiss den Willen des Gottes nicht bloss zu ermitteln, sondern auch zu lenken, sogar im Notfall ihn zu ueberlisten oder zu zwingen. Darum ist es natuerlich, dass der Verehrer des Gottes regelmaessig kundige Leute zuzieht und deren Rat vernimmt; und hieraus sind die religioesen Sachverstaendigenvereine hervorgegangen, eine durchaus national-italische Institution, die auf die politische Entwicklung weit bedeutender eingewirkt hat als die Einzelpriester und die Priesterschaften. Mit diesen sind sie oft verwechselt worden, allein mit Unrecht. Den Priesterschaften liegt die Verehrung einer bestimmten Gottheit ob, diesen Genossenschaften aber die Bewahrung der Tradition fuer diejenigen allgemeineren gottesdienstlichen Verrichtungen, deren richtige Vollziehung eine gewisse Kunde voraussetzte und fuer deren treue Ueberlieferung zu sorgen im Interesse des Staates lag. Diese geschlossenen und sich selbst, natuerlich aus den Buergern, ergaenzenden Genossenschaften sind dadurch die Depositare der Kunstfertigkeiten und Wissenschaften geworden. In der roemischen und ueberhaupt der latinischen Gemeindeverfassung gibt es solcher Kollegien urspruenglich nur zwei: das der Augurn und das der Pontifices ^4. Die sechs “Voegelfuehrer” (augures) verstanden die Sprache der Goetter aus dem Flug der Voegel zu deuten, welche Auslegungskunst sehr ernstlich betrieben und in ein gleichsam wissenschaftliches System gebracht ward. Die sechs “Brueckenbauer” (pontifices) fuehrten ihren Namen von dem ebenso heiligen wie politisch wichtigen Geschaeft, den Bau und das Abbrechen der Tiberbruecke zu leiten. Es waren die roemischen Ingenieure, die das Geheimnis der Masse und Zahlen verstanden; woher ihnen auch die Pflicht zukam, den Kalender des Staats zu fuehren, dem Volke Neu- und Vollmond und die Festtage abzurufen und dafuer zu sorgen, dass jede gottesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage vor sich gehe. Da sie also vor allen andern den Ueberblick ueber den ganzen Gottesdienst hatten, ging auch, wo es noetig war, bei Ehe, Testament und Arrogation an sie die Vorfrage, ob das beabsichtigte Geschaeft nicht gegen das goettliche Recht irgendwie verstosse, und ging von ihnen die Feststellung und Bekanntmachung der allgemeinen exoterischen Sakralvorschriften aus, die unter dem Namen der Koenigsgesetze bekannt sind. So gewannen sie, wenn auch in voller Ausdehnung vermutlich erst nach Abschaffung des Koenigtums, die allgemeine Oberaufsicht ueber den roemischen Gottesdienst und was damit zusammenhing - und was hing nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichneten als den Inbegriff ihres Wissens “die Kunde goettlicher und menschlicher Dinge”. In der Tat sind die Anfaenge der geistlichen und weltlichen Rechtswissenschaft wie die der Geschichtsaufzeichnung aus dem Schoss dieser Genossenschaft hervorgegangen. Denn wie alle Geschichtsschreibung an den Kalender und das Jahrzeitbuch anknuepft, musste auch die Kunde des Prozesses und der Rechtssaetze, da nach der Errichtung der roemischen Gerichte in diesen selbst die Ueberlieferung nicht entstehen konnte, in dem Kollegium der Pontifices traditionell werden, das ueber Gerichtstage und religioese Rechtsfragen ein Gutachten zu geben allein kompetent war.

———————————————————————————-

^4 Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass in den nach dem latinischen Schema geordneten Gemeinden Augurn und Pontifices ueberall vorkommen (z. B. Cic. leg. agr. 2, 35, 96 und zahlreiche Inschriften), ebenso der pater patratus der Fetialen in Laurentum (Orelli 2276), die uebrigen Kollegien aber nicht. Jene also stehen auf einer Linie mit der Zehnkurienverfassung, den Flamines, Saliern, Luperkern als aeltestes latinisches Stammgut; wogegen die Duovirn sacris faciundis und die anderen Kollegien, wie die dreissig Kurien und die Servianischen Tribus und Zenturien, in Rom entstanden und darum auch auf Rom beschraenkt geblieben sind. Nur der Name des zweiten Kollegiums, der Pontifices, ist wohl entweder durch roemischen Einfluss in das allgemein latinische Schema anstatt aelterer, vielleicht mannigfaltiger Namen eingedrungen, oder es bedeutete urspruenglich, was sprachlich manches fuer sich hat, pons nicht Bruecke, sondern Weg ueberhaupt, pontifex also den Wegebauer.

Die Angaben ueber die urspruengliche Zahl namentlich der Augurn schwanken. Dass die Zahl derselben ungerade sein musste, widerlegt Cicero (leg. agr. 2, 35, 96); und auch Livius (10, 6) sagt wohl nicht dies, sondern nur, dass die Zahl der roemischen Augurn durch drei teilbar sein und insofern auf eine ungerade Grundzahl zurueckgehen muesse. Nach Livius (a.a.O.) war die Zahl bis zum Ogulnischen Gesetz sechs, und eben das sagt wohl auch Cicero (rep. 2, 9 14), indem er Romulus vier, Numa zwei Augurstellen einrichten laesst. Ueber die Zahl der Pontifices vgl. Roemisches Staatsrecht, Bd. 2, S. 20.

———————————————————————————-

Gewissermassen laesst diesen beiden aeltesten und ansehnlichsten Genossenschaften geistlicher Sachverstaendigen das Kollegium der zwanzig Staatsboten (fētiales, ungewisser Ableitung) sich anreihen, bestimmt als lebendiges Archiv das Andenken an die Vertraege mit den benachbarten Gemeinden durch Ueberlieferung zu bewahren, ueber angebliche Verletzungen des vertragenen Rechts gutachtlich zu entscheiden und noetigenfalls den Suehneversuch und die Kriegserklaerung zu bewirken. Sie waren durchaus fuer das Voelkerrecht, was die Pontifices fuer das Goetterrecht, und hatten daher auch wie diese die Befugnis, Recht zwar nicht zu sprechen, aber doch zu weisen.

Aber wie hochansehnlich immer diese Genossenschaften waren und wie wichtige und umfassende Befugnisse sie zugeteilt erhielten, nie vergass man, und am wenigsten bei den am hoechsten gestellten, dass sie nicht zu befehlen, sondern sachverstaendigen Rat zu erteilen, die Antwort der Goetter nicht unmittelbar zu erbitten, sondern die erteilte dem Frager auszulegen hatten. So steht auch der vornehmste Priester nicht bloss im Rang dem Koenig nach, sondern er darf ungefragt nicht einmal ihn beraten. Dem Koenig steht es zu, zu bestimmen, ob und wann er die Voegel beobachten will; der Vogelschauer steht nur dabei und verdolmetscht ihm, wenn es noetig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso kann der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das Landrecht nicht anders eingreifen als wenn die Beikommenden es von ihm begehren, und mit unerbittlicher Strenge hat man trotz aller Froemmigkeit festgehalten an dem Grundsatz, dass in dem Staat der Priester in vollkommener Machtlosigkeit zu verbleiben und, von allen Befehlen ausgeschlossen, gleich jedem anderen Buerger dem geringsten Beamten Gehorsam zu leisten hat. Die latinische Gottesverehrung beruht wesentlich auf dem Behagen des Menschen am Irdischen und nur in untergeordneter Weise auf der Furcht vor den wilden Naturkraeften; sie bewegt sich darum auch vorwiegend in Aeusserungen der Freude, in Liedern und Gesaengen, in Spielen und Taenzen, vor allem aber in Schmaeusen. Wie ueberall bei den ackerbauenden, regelmaessig von Vegetabilien sich naehrenden Voelkerschaften war auch in Italien das Viehschlachten zugleich Hausfest und Gottesdienst; das Schwein ist den Goettern das wohlgefaelligste Opfer nur darum, weil es der gewoehnliche Festbraten ist. Aber alle Verschwendung wie alle Ueberschwenglichkeit des Jubels ist dem gehaltenen roemischen Wesen zuwider. Die Sparsamkeit gegen die Goetter ist einer der hervortretendsten Zuege des aeltesten latinischen Kultes; und auch das freie Walten der Phantasie wird durch die sittliche Zucht, in der die Nation sich selber haelt, mit eiserner Strenge niedergedrueckt. Infolgedessen sind die Auswuechse, die von solcher Masslosigkeit unzertrennlich sind, den Latinern ferngeblieben. Wohl liegt der tief sittliche Zug des Menschen, irdische Schuld und irdische Strafe auf die Goetterwelt zu beziehen und jene als ein Verbrechen gegen die Gottheit, diese als deren Suehnung aufzufassen, im innersten Wesen auch der latinischen Religion. Die Hinrichtung des zum Tode verurteilten Verbrechers ist ebenso ein der Gottheit dargebrachtes Suehnopfer wie die im gerechten Krieg vollzogene Toetung des Feindes; der naechtliche Dieb der Feldfruechte buesst der Ceres am Galgen wie der boese Feind auf dem Schlachtfeld der Mutter Erde und den guten Geistern. Auch der tiefe und furchtbare Gedanke der Stellvertretung begegnet hierbei: wenn die Goetter der Gemeinde zuernen, ohne dass auf einen bestimmten Schuldigen gegriffen werden kann, so mag sie versoehnen, wer sich freiwillig hingibt (devovere se), wie denn giftige Erdspalten sich schliessen, halbverlorene Schlachten sich in Siege wandeln, wenn ein braver Buerger sich als Suehnopfer in den Schlund oder in die Feinde stuerzt. Auf aehnlicher Anschauung beruht der heilige Lenz, indem den Goettern dargebracht wird, was der bestimmte Zeitraum an Vieh und Menschen geboren werden laesst. Will man dies Menschenopfer nennen, so gehoert solches freilich zum Kern des latinischen Glaubens; aber man muss hinzufuegen, dass, soweit unser Blick in die Ferne irgend zuruecktraegt, diese Opferung, insofern sie das Leben fordert, sich beschraenkt auf den Schuldigen, der vor dem buergerlichen Gericht ueberwiesen ist, und den Unschuldigen, der freiwillig den Tod waehlt. Menschenopfer anderer Art laufen dem Grundgedanken der Opferhandlung zuwider und beruhen wenigstens bei den indogermanischen Staemmen ueberall, wo sie vorkommen, auf spaeterer Ausartung und Verwilderung. Bei den Roemern haben sie nie Eingang gefunden; kaum dass einmal in Zeiten hoechster Not auch hier Aberglaube und Verzweiflung ausserordentlicherweise im Greuel Rettung suchten. Von Gespensterglauben, Zauberfurcht und Mysterienwesen finden sich bei den Roemern verhaeltnismaessig sehr geringe Spuren. Das Orakel- und Prophetentum hat in Italien niemals die Bedeutung erlangt wie in Griechenland und nie vermocht, das private und oeffentliche Leben ernstlich zu beherrschen. Aber auf der andern Seite ist dafuer auch die latinische Religion in eine unglaubliche Nuechternheit und Trockenheit verfallen und frueh eingegangen auf einen peinlichen und geistlosen Zeremonialdienst. Der Gott des Italikers ist, wie schon gesagt ward, vor allen Dingen ein Hilfsinstrument zur Erreichung sehr konkreter irdischer Zwecke; wie denn den religioesen Anschauungen des Italikers durch seine Richtung auf das Fassliche und Reelle diese Wendung ueberhaupt gegeben wird und nicht minder scharf noch in dem heutigen Heiligenkult der Italiener hervortritt. Die Goetter stehen dem Menschen voellig gegenueber wie der Glaeubiger dem Schuldner; jeder von ihnen hat ein wohlerworbenes Recht auf gewisse Verrichtungen und Leistungen, und da die Zahl der Goetter so gross war wie die Zahl der Momente des irdischen Lebens und die Vernachlaessigung oder verkehrte Verehrung eines jeden Gottes in dem entsprechenden Moment sich raechte, so war es eine muehsame und bedenkliche Aufgabe, seiner religioesen Verpflichtungen auch nur sich bewusst zu werden, und so mussten wohl die des goettlichen Rechtes kundigen und dasselbe weisenden Priester, die Pontifices, zu ungemeinem Einfluss gelangen. Denn der rechtliche Mann erfuellt die Vorschriften des heiligen Rituals mit derselben kaufmaennischen Puenktlichkeit, womit er seinen irdischen Verpflichtungen nachkommt und tut auch wohl ein Uebriges, wenn der Gott es seinerseits getan hat. Auch auf Spekulation laesst man mit dem Gotte sich ein: das Geluebde ist der Sache wie dem Namen nach ein foermlicher Kontrakt zwischen dem Gotte und dem Menschen, wodurch dieser jenem fuer eine gewisse Leitung eine gewisse Gegenleistung zusichert, und der roemische Rechtssatz, dass kein Kontrakt durch Stellvertretung abgeschlossen werden kann, ist nicht der letzte Grund, weshalb in Latium bei den religioesen Anliegen der Menschen alle Priestervermittlung ausgeschlossen blieb. Ja wie der roemische Kaufmann, seiner konventionellen Rechtlichkeit unbeschadet, den Vertrag bloss dem Buchstaben nach zu erfuellen befugt ist, so ward auch, wie die roemischen Theologen lehren, im Verkehr mit den Goettern das Abbild statt der Sache gegeben und genommen. Dem Herrn des Himmelsgewoelbes brachte man Zwiebel- und Mohnkoepfe dar, um auf deren statt auf der Menschen Haeupter seine Blitze zu lenken; dem Vater Tiberis wurden zur Loesung der jaehrlich von ihm erheischten Opfer jaehrlich dreissig von Binsen geflochtene Puppen in die Wellen geworfen ^5. Die Ideen goettlicher Gnade und Versoehnbarkeit sind hier ununterscheidbar gemischt mit der frommen Schlauigkeit, welche es versucht, den gefaehrlichen Herrn durch scheinhafte Befriedigung zu beruecken und abzufinden. So ist die roemische Gottesfurcht wohl von gewaltiger Macht ueber die Gemueter der Menge, aber keineswegs jenes Bangen vor der allwaltenden Natur oder der allmaechtigen Gottheit, das den pantheistischen und monotheistischen Anschauungen zu Grunde liegt, sondern sehr irdischer Art und kaum wesentlich verschieden von demjenigen Zagen, mit dem der roemische Schuldner seinem gerechten, aber sehr genauen und sehr maechtigen Glaeubiger sich naht. Es ist einleuchtend, dass eine solche Religion die kuenstlerische und die spekulative Auffassung viel mehr zu erdruecken als zu zeitigen geeignet war. Indem der Grieche die naiven Gedanken der Urzeit mit menschlichem Fleisch und Blut umhuellte, wurden diese Goetterideen nicht bloss die Elemente der bildenden und der dichtenden Kunst, sondern sie erlangten auch die Universalitaet und die Elastizitaet, welche die tiefste Eigentuemlichkeit der Menschennatur und eben darum der Kern aller Weltreligion ist. Durch sie konnte die einfache Naturanschauung zu kosmogonischen, der schlichte Moralbegriff zu allgemein humanistischen Anschauungen sich vertiefen; und lange Zeit hindurch vermochte die griechische Religion die physischen und metaphysischen Vorstellungen, die ganze ideale Entwicklung der Nation in sich zu fassen und mit dem wachsenden Inhalt in Tiefe und Weite sich auszudehnen, bevor die Phantasie und die Spekulation das Gefaess, das sie gehegt hatte, zersprengten. Aber in Latium blieb die Verkoerperung der Gottheitsbegriffe so vollkommen durchsichtig, dass weder der Kuenstler noch der Dichter daran sich heranzubilden vermochte und die latinische Religion der Kunst stets fremd, ja feindlich gegenueberstand. Da der Gott nichts war und nichts sein durfte als die Vergeistigung einer irdischen Erscheinung, so fand er eben in diesem irdischen Gegenbild seine Staette (templum) und sein Abbild; Waende und Idole, von Menschenhand gemacht, schienen die geistigen Vorstellungen nur zu trueben und zu befangen. Darum war der urspruengliche roemische Gottesdienst ohne Gottesbilder und Gotteshaeuser; und wenngleich auch in Latium, vermutlich nach griechischem Vorbild, schon in frueher Zeit der Gott im Bilde verehrt und ihm ein Haeuschen (aedicula) gebaut ward, so galt doch diese bildliche Darstellung als den Gesetzen Numas zuwiderlaufend und ueberhaupt als unrein und fremdlaendisch. Mit Ausnahme etwa des doppelkoepfigen Janus hat die roemische Religion kein ihr eigentuemliches Goetterbild aufzuweisen und noch Varro spottete ueber die nach Puppen und Bilderchen verlangende Menge. Der Mangel aller zeugenden Kraft in der roemischen Religion ist gleichfalls die letzte Ursache, warum die roemische Poesie und noch mehr die roemische Spekulation so vollstaendig nicht waren und blieben.

———————————————————————-

^5 Hierin konnte nur unueberlegte Auffassung Ueberreste alter Menschenopfer finden.

———————————————————————-

Aber auch auf dem praktischen Gebiet offenbart sich derselbe Unterschied. Der praktische Gewinn, welcher der roemischen Gemeinde aus ihrer Religion erwuchs, war ein von den Priestern, namentlich den Pontifices entwickeltes, formuliertes Moralgesetz, welches teils in dieser - der polizeilichen Bevormundung des Buergers durch den Staat noch fernstehenden - Zeit die Stelle der Polizeiordnung vertrat, teils die sittlichen Verpflichtungen vor das Gericht der Goetter zog und sie mit goettlicher Strafe belegte. Zu den Bestimmungen der ersteren Art gehoerte ausser der religioesen Einschaerfung der Heiligung des Feiertags und eines kunstmaessigen Acker- und Rebenbaus, die wir unten kennenlernen werden, zum Beispiel der auch mit gesundheitspolizeilichen Ruecksichten zusammenhaengende Herd- oder Larenkult und vor allem die bei den Roemern ungemein frueh, weit frueher als bei den Griechen, durchgefuehrte Leichenverbrennung, welche eine rationelle Auffassung des Lebens und Sterbens voraussetzt, wie sie der Urzeit und selbst unserer Gegenwart noch fremd ist. Man wird es nicht gering anschlagen duerfen, dass die latinische Landesreligion diese und aehnliche Neuerungen durchzusetzen vermocht hat. Wichtiger aber noch war ihre sittlichende Wirkung. Wenn der Mann die Ehefrau, der Vater den verheirateten Sohn verkaufte; wenn das Kind oder die Schnur den Vater oder den Schwiegervater schlug; wenn der Schutzvater gegen den Gast oder den zugewandten Mann die Treupflicht verletzte; wenn der ungerechte Nachbar den Grenzstein verrueckte oder der Dieb sich bei naechtlicher Weile an der dem Gemeinfrieden anvertrauten Halmfrucht vergriff, so lastete fortan der goettliche Fluch auf dem Haupt des Frevlers. Nicht als waere der also Verwuenschte (sacer) vogelfrei gewesen; eine solche, aller buergerlichen Ordnung zuwiderlaufende Acht ist nur ausnahmsweise als Schaerfung des religioesen Bannfluchs in Rom waehrend des staendischen Haders vorgekommen. Nicht dem einzelnen Buerger oder gar dem voellig machtlosen Priester kommt die Vollstreckung solchen goettlichen Fluches zu. Zunaechst ist der also Gebannte dem goettlichen Strafgericht anheim gefallen, nicht der menschlichen Willkuer, und schon der fromme Volksglaube, auf dem dieser Bannfluch fusst, wird selbst ueber leichtsinnige und boesartige Naturen Macht gehabt haben. Aber die Bannung beschraenkt darauf sich nicht; vielmehr ist der Koenig befugt und verpflichtet, den Bann zu vollstrecken und, nachdem die Tatsache, auf welche das Recht die Bannung setzt, nach seiner gewissenhaften Ueberzeugung festgestellt worden ist, den Gebannten der verletzten Gottheit gleichwie ein Opfertier zu schlachten (supplicium) und also die Gemeinde von dem Verbrechen des einzelnen zu reinigen. Ist das Vergehen geringerer Art, so tritt an die Stelle der Toetung des Schuldigen die Loesung durch Darbringung eines Opfertiers oder aehnlicher Gaben. So ruht das ganze Kriminalrecht in seinem letzten Grunde auf der religioesen Idee der Suehnung.

Weitere Leistungen aber als dergleichen Foerderungen buergerlicher Ordnung und Sittlichkeit hat die Religion in Latium auch nicht verrichtet. Unsaeglich viel hat hier Hellas vor Latium voraus gehabt - dankt es doch seiner Religion nicht bloss seine ganze geistige Entwicklung, sondern auch seine nationale Einigung, soweit sie ueberhaupt erreicht ward; um Goetterorakel und Goetterfeste, um Delphi und Olympia, um die Toechter des Glaubens, die Musen, bewegt sich alles, was im hellenischen Leben gross, und alles, was darin nationales Gemeingut ist. Und dennoch knuepfen eben hier auch Latiums Vorzuege vor Hellas an. Die latinische Religion, herabgedrueckt wie sie ist auf das Mass der gewoehnlichen Anschauung, ist jedem vollkommen verstaendlich und allen insgemein zugaenglich; und darum bewahrte die roemische Gemeinde ihre buergerliche Gleichheit, waehrend Hellas, wo die Religion auf der Hoehe des Denkens der Besten stand, von fruehester Zeit an unter allem Segen und Unsegen der Geistesaristokratie gestanden hat. Auch die latinische Religion ist wie jede andere urspruenglich hervorgegangen aus der unendlichen Glaubensvertiefung; nur der oberflaechlichen Betrachtung, die ueber die Tiefe des Stromes sich taeuscht, weil er klar ist, kann ihre durchsichtige Geisterwelt flach erscheinen. Dieser innige Glaube verschwindet freilich im Laufe der Zeiten so notwendig wie der Morgentau vor der hoeher steigenden Sonne und auch die latinische Religion ist also spaeterhin verdorrt; aber laenger als die meisten Voelker haben die Latiner die naive Glaeubigkeit sich bewahrt, und vor allem laenger als die Griechen. Wie die Farben die Wirkungen, aber auch die Truebungen des Lichtes sind, so sind Kunst und Wissenschaft nicht bloss die Geschoepfe, sondern auch die Zerstoerer des Glaubens; und so sehr in dieser zugleich Entwicklung und Vernichtung die Notwendigkeit waltet, so sind doch durch das gleiche Naturgesetz auch der naiven Epoche gewisse Erfolge vorbehalten, die man spaeter vergeblich sich bemueht zu erringen. Eben die gewaltige geistige Entwicklung der Hellenen, welche jene immer unvollkommene religioese und literarische Einheit erschuf, machte es ihnen unmoeglich, zu der echten politischen Einigung zu gelangen; sie buessten damit die Einfalt, die Lenksamkeit, die Hingebung, die Verschmelzbarkeit ein, welche die Bedingung aller staatlichen Einigung ist. Es waere darum wohl an der Zeit, einmal abzulassen von jener kinderhaften Geschichtsbetrachtung, welche die Griechen nur auf Kosten der Roemer oder die Roemer nur auf Kosten der Griechen preisen zu koennen meint und, wie man die Eiche neben der Rose gelten laesst, so auch die beiden grossartigen Organismen, die das Altertum hervorgebracht hat, nicht zu loben oder zu tadeln, sondern es zu begreifen, dass ihre Vorzuege gegenseitig durch ihre Mangelhaftigkeit bedingt sind. Der tiefste und letzte Grund der Verschiedenheit beider Nationen liegt ohne Zweifel darin, dass Latium nicht, wohl aber Hellas in seiner Werdezeit mit dem Orient sich beruehrt hat. Kein Volksstamm der Erde fuer sich allein war gross genug, weder das Wunder der hellenischen noch spaeterhin das Wunder der christlichen Kultur zu erschaffen; diese Silberblicke hat die Geschichte da erzeugt, wo aramaeische Religionsideen in den indogermanischen Boden sich eingesenkt haben. Aber wenn eben darum Hellas der Prototyp der rein humanen, so ist Latium nicht minder fuer alle Zeiten der Prototyp der nationalen Entwicklung; und wir Nachfahren haben beides zu verehren und von beiden zu lernen.

Also war und wirkte die roemische Religion in ihrer reinen und ungehemmten durchaus volkstuemlichen Entwicklung. Es tut ihrem nationalen Charakter keinen Eintrag, dass seit aeltester Zeit Weise und Wesen der Gottesverehrung aus dem Auslande heruebergenommen wurden; so wenig als die Schenkung des Buergerrechts an einzelne Fremde den roemischen Staat denationalisiert hat. Dass man von alters her mit den Latinern die Goetter tauschte wie die Waren, versteht sich; bemerkenswerter ist die Uebersiedlung von nicht stammverwandten Goettern und Gottesverehrungen. Von dem sabinischen Sonderkult der Titier ist bereits gesprochen worden. Ob auch aus Etrurien Goetterbegriffe entlehnt worden sind, ist zweifelhafter; denn die Lasen, die aeltere Bezeichnung der Genien (von lascivus), und die Minerva, die Goettin des Gedaechtnisses (mens, menervare), welche man wohl als urspruenglich etruskisch zu bezeichnen pflegt, sind nach sprachlichen Gruenden vielmehr in Latium heimisch. Sicher ist es auf jeden Fall, und passt auch wohl zu allem, was wir sonst vom roemischen Verkehr wissen, dass frueher und ausgedehnter als irgendein anderer auslaendischer der griechische Kult im Rom Beruecksichtigung fand. Den aeltesten Anlass gaben die griechischen Orakel. Die Sprache der roemischen Goetter beschraenkte sich im ganzen auf Ja und Nein und hoechstens auf die Verkuendigung ihres Willens durch das - wie es scheint, urspruenglich italische - Werfen der Lose ^6; waehrend seit sehr alter Zeit, wenngleich dennoch wohl erst infolge der aus dem Osten empfangenen Anregung, die redseligeren Griechengoetter wirkliche Wahrsprueche erteilten. Solche Ratschlaege in Vorrat zu haben waren die Roemer gar frueh bemueht, und Abschriften der Blaetter der weissagenden Priesterin Apollons, der kymaeischen Sibylle, deshalb eine hochgehaltene Gabe der griechischen Gastfreunde aus Kampanien. Zur Lesung und Ausdeutung des Zauberbuches wurde in fruehester Zeit ein eigenes, nur den Augurn und Pontifices im Range nachstehendes Kollegium von zwei Sachverstaendigen (duoviri sacris faciundis) bestellt, auch fuer dasselbe zwei der griechischen Sprache kundige Sklaven von Gemeinde wegen angeschafft; diese Orakelbewahrer ging man in zweifelhaften Faellen an, wenn es, um ein drohendes Unheil abzuwenden, eines gottesdienstlichen Aktes bedurfte und man doch nicht wusste, welchem Gott und wie er zu beschaffen sei. Aber auch an den delphischen Apollon selbst wandten schon frueh sich ratsuchende Roemer; ausser den schon erwaehnten Sagen ueber diesen Verkehr zeugt davon noch teils die Aufnahme des mit dem delphischen Orakel eng zusammenhaengenden Wortes thesaurus in alle uns bekannte italische Sprachen, teils die aelteste roemische Form des Namens Apollon Aperta, der Eroeffner, eine etymologisierende Entstellung des dorischen Apellon, deren Alter eben ihre Barbarei verraet. Auch der griechische Herakles ist frueh als Herclus, Hercoles, Hercules in Italien einheimisch und dort in eigentuemlicher Weise aufgefasst worden, wie es scheint zunaechst als Gott des gewagten Gewinns und der ausserordentlichen Vermoegensmehrung; weshalb sowohl von dem Feldherrn der Zehnte der gemachten Beute wie auch von dem Kaufmann der Zehnte des errungenen Guts ihm an dem Hauptaltar (ara maxima) auf dem Rindermarkt dargebracht zu werden pflegte. Er wurde darum ueberhaupt der Gott der kaufmaennischen Vertraege, die in aelterer Zeit haeufig an diesem Altar geschlossen und mit Eidschwur bekraeftigt wurden, und fiel insofern mit dem alten latinischen Gott des Worthaltens (deus fidius) zusammen. Die Verehrung des Hercules ist frueh eine der weitverbreitetsten geworden; er wurde, mit einem alten Schriftsteller zu reden, an jedem Fleck Italiens verehrt und in den Gassen der Staedte wie an den Landstrassen standen ueberall seine Altaere. Die Schiffergoetter ferner, Kastor und Polydeukes oder roemisch Pollux, ferner der Gott des Handels, Hermes, der roemische Mercurius, und der Heilgott Asklapios oder Aesculapius, wurden den Roemern frueh bekannt, wenngleich deren oeffentliche Verehrung erst spaeter begann. Der Name des Festes der “guten Goettin” (bona dea) damium, entsprechend dem griechischen δάμιον oder δήμιον, mag gleichfalls schon bis in diese Epoche zurueckreichen. Auf alter Entlehnung muss es auch beruhen, dass der alte Liber pater der Roemer spaeter als “Vater Befreier” gefasst ward und mit dem Weingott der Griechen, dem “Loeser” (Lyaeos) zusammenfloss, und dass der roemische Gott der Tiefe der “Reichtumspender” (Pluton - Dis pater) hiess, dessen Gemahlin Persephone aber, zugleich durch Anlautung und durch Begriffsuebertragung, ueberging in die roemische Proserpina, dass heisst Aufkeimerin. Selbst die Goettin des roemisch-latinischen Bundes, die aventinische Diana scheint der Bundesgoettin der kleinasiatischen Ionier, der ephesischen Artemis nachgebildet zu sein; wenigstens war das Schnitzbild in dem roemischen Tempel nach dem ephesischen Typus gefertigt. Nur auf diesem Wege, durch die frueh mit orientalischen Vorstellungen durchdrungenen apollinischen, dionysischen, plutonischen, herakleischen und Artemismythen, hat in dieser Epoche die aramaeische Religion eine entfernte und mittelbare Einwirkung auf Italien geuebt. Deutlich erkennt man dabei, wie das Eindringen der griechischen Religion vor allen Dingen auf den Handelsbeziehungen beruht und wie zunaechst Kaufleute und Schiffer die griechischen Goetter nach Italien gebracht haben.

———————————————————-

^6 Sors, von serere, reihen. Es waren wahrscheinlich an einer Schnur gereihte Holztaefelchen, die geworfen verschiedenartige Figuren bildeten; was an die Runen erinnert.

————————————————————

Indessen sind die einzelnen Entlehnungen aus dem Ausland nur von sekundaerer Bedeutung, die Truemmer des Natursymbolismus der Urzeit aber, wie etwa die Sage von den Rindern des Cacus eines sein mag, so gut wie ganz verschollen; im grossen und ganzen ist die roemische Religion eine organische Schoepfung des Volkes, bei dem wir sie finden.

Die sabellische und umbrische Gottesverehrung beruht, nach dem wenigen zu schliessen, was wir davon wissen, auf ganz gleichen Grundanschauungen wie die latinische mit lokal verschiedener Faerbung und Gestaltung. Dass sie abwich von der latinischen, zeigt am bestimmtesten die Gruendung einer eigenen Genossenschaft in Rom zur Bewahrung der sabinischen Gebraeuche; aber eben sie gibt ein belehrendes Beispiel, worin der Unterschied bestand. Die Vogelschau war beiden Staemmen die regelmaessige Weise der Goetterbefragung; aber die Titier schauten nach anderen Voegeln als die ramnischen Augurn. Ueberall, wo wir vergleichen koennen, zeigen sich aehnliche Verhaeltnisse; die Fassung der Goetter als Abstraktion des Irdischen und ihre unpersoenliche Natur sind beiden Staemmen gemein, Ausdruck und Ritual verschieden. Dass dem damaligen Kultus diese Abweichungen gewichtig erschienen, ist begreiflich; wir vermoegen den charakteristischen Unterschied, wenn einer bestand, nicht mehr zu erfassen.

Aber aus den Truemmern, die vom etruskischen Sakralwesen auf uns gekommen sind, redet ein anderer Geist. Es herrscht in ihnen eine duestere und dennoch langweilige Mystik, Zahlenspiel und Zeichendeuterei und jene feierliche Inthronisierung des reinen Aberwitzes, die zu allen Zeiten ihr Publikum findet. Wir kennen zwar den etruskischen Kult bei weitem nicht in solcher Vollstaendigkeit und Reinheit wie den latinischen; aber mag die spaetere Gruebelei auch manches erst hineingetragen haben, und moegen auch gerade die duesteren und phantastischen, von dem latinischen Kult am meisten sich entfernenden Saetze uns vorzugsweise ueberliefert sein, was beides in der Tat nicht wohl zu bezweifeln ist, so bleibt immer noch genug uebrig, um die Mystik und Barbarei dieses Kultes zu bezeichnen als im innersten Wesen des etruskischen Volkes begruendet.

Ein innerlicher Gegensatz des sehr ungenuegend bekannten etruskischen Gottheitsbegriffs zu dem italischen laesst sich nicht erfassen; aber bestimmt treten unter den etruskischen Goettern die boesen und schadenfrohen in den Vordergrund, wie denn auch der Kult grausam ist und namentlich das Opfern der Gefangenen einschliesst - so schlachtete man in Caere die gefangenen Phokaeer, in Tarquinii die gefangenen Roemer. Statt der stillen, in den Raeumen der Tiefe friedlich schaltenden Welt der abgeschiedenen “guten Geister”, wie die Latiner sie sich dachten, erscheint hier eine wahre Hoelle, in die die armen Seelen zur Peinigung durch Schlaegel und Schlangen abgeholt werden von dem Totenfuehrer; einer wilden, halb tierischen Greisengestalt mit Fluegeln und einem grossen Hammer; einer Gestalt, die man spaeter in Rom bei den Kampfspielen verwandte, um den Mann zu kostuemieren, der die Leichen der Erschlagenen vom Kampfplatz wegschaffte. So fest ist mit diesem Zustand der Schatten die Pein verbunden, dass es sogar eine Erloesung daraus gibt, die nach gewissen geheimnisvollen Opfern die arme Seele versetzt unter die oberen Goetter. Es ist merkwuerdig, dass, um ihre Unterwelt zu bevoelkern, die Etrusker frueh von den Griechen deren finstere Vorstellungen entlehnten, wie denn die acherontische Lehre und der Charon eine grosse Rolle in der etruskischen Weisheit spielen.

Aber vor allen Dingen beschaeftigt den Etrusker die Deutung der Zeichen und Wunder. Die Roemer vernahmen wohl auch in der Natur die Stimme der Goetter; allein ihr Vogelschauer verstand nur die einfachen Zeichen und erkannte nur im allgemeinen, ob die Handlung Glueck oder Unglueck bringen werde. Stoerungen im Laufe der Natur galten ihm als unglueckbringend und hemmten die Handlung, wie zum Beispiel bei Blitz und Donner die Volksversammlung auseinanderging, und man suchte auch wohl, sie zu beseitigen, wie zum Beispiel die Missgeburt schleunigst getoetet ward. Aber jenseits des Tiber begnuegte man sich damit nicht. Der tiefsinnige Etrusker las aus den Blitzen und aus den Eingeweiden der Opfertiere dem glaeubigen Mann seine Zukunft bis ins einzelne heraus, und je seltsamer die Goettersprache, je auffallender das Zeichen und Wunder, desto sicherer gab er an, was er verkuende und wie man das Unheil etwa abwenden koenne. So entstanden die Blitzlehre, die Haruspizes, die Wunderdeutung, alle ausgesponnen mit der ganzen Haarspalterei des im Absurden lustwandelnden Verstandes, vor allem die Blitzwissenschaft. Ein Zwerg von Kindergestalt mit grauen Haaren, der von einem Ackersmann bei Tarquinii war ausgepfluegt worden, Tages genannt - man sollte meinen, dass das zugleich kindische und altersschwache Treiben in ihm sich selber habe verspotten wollen -, also Tages hatte sie zuerst den Etruskern verraten und war dann sogleich gestorben. Seine Schueler und Nachfolger lehrten, welche Goetter Blitze zu schleudern pflegten; wie man am Quartier des Himmels und an der Farbe den Blitz eines jeden Gottes erkenne; ob der Blitz einen dauernden Zustand andeute oder ein einzelnes Ereignis und wenn dieses, ob dasselbe ein unabaenderlich datiertes sei oder durch Kunst sich verschieben lasse bis zu einer gewissen Grenze; wie man den eingeschlagenen Blitz bestatte oder den drohenden einzuschlagen zwinge, und dergleichen wundersame Kuenste mehr, denen man gelegentlich die Sportulierungsgelueste anmerkt. Wie tief dies Gaukelspiel dem roemischen Wesen widerstand, zeigt, dass, selbst als man spaeter in Rom es benutzte, doch nie ein Versuch gemacht ward, es einzubuergern; in dieser Epoche genuegten den Roemern wohl noch die einheimischen und die griechischen Orakel.

Hoeher als die roemische Religion steht die etruskische insofern, als sie von dem, was den Roemern voellig mangelt, einer in religioese Formen gehuellten Spekulation, wenigstens einen Anfang entwickelt hat. Ueber der Welt mit ihren Goettern walten die verhuellten Goetter, die der etruskische Jupiter selber befragt; jene Welt aber ist endlich und wird, wie sie entstanden ist, so auch wieder vergehen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums, dessen Abschnitte die Saecula sind. Ueber den geistigen Gehalt, den diese etruskische Kosmogonie und Philosophie einmal gehabt haben mag, ist schwer zu urteilen; doch scheint auch ihnen ein geistloser Fatalismus und ein plattes Zahlenspiel von Haus aus eigen gewesen zu sein.

Share on Twitter Share on Facebook